Untergang und neuer Anfang

Romano Guardinis Das Ende der Neuzeit

Im Rahmen der Veranstaltung Zeitenwende?, 15.06.2023

Romano Guardinis Schrift Das Ende der Neuzeit (1950) nimmt eine eigene Position in seinem Schaffen ein. Der insgesamt kurze Text ist ein Gelegenheitswerk und steht in engem Zusammenhang zu den Pascal-Vorlesungen, die 1935 unter dem Titel Christliches Bewusstsein erstmals erschienen sind. Im Folgenden soll der rote Faden des Textes nachgezeichnet werden, unter Bezugnahme auf die Situation von Kirche und Glaube heute. Ferner soll die Gelegenheitsschrift in Guardinis Werk und den zeitgeschichtlichen Horizont eingeordnet werden.

Einleitung: Zu Guardinis Schrift Das Ende der Neuzeit

Doch wie ist Guardinis Buch weiter zu charakterisieren? Schon der Untertitel ist bedeutungsvoll: „Ein Versuch zur Orientierung“. Guardini verfolgt unmissverständlich das Ziel, den Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg Orientierung zu geben, ohne dabei ‚von oben herab‘ zu reden oder zu predigen. Dabei sind für Guardini gleichermaßen die Lehrkanzel in der Universität und die Predigtkanzel in der Kirche wichtig, um seine Zeitgenossen inhaltlich zu erreichen. Guardini hat der Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso getroffen, wie die meisten anderen Deutschen auch. Wie viele andere erlebt Guardini nach 1918 das zweite verheerende Kriegsende in Deutschland. Während Guardini die ersten Kriegsjahre noch in Berlin erlebt hat, wohnte er ab 1943 bei seinem Freund Josef Weiger im Pfarrhaus von Mooshausen im schwäbischen Allgäu. Das Ende der Neuzeit besteht, wie bereits kurz erwähnt, aus einführenden Vorträgen zur Pascal-Vorlesung Christliches Bewußtsein (1935). Diese Vorträge wurden 1947/48 in Tübingen und 1949 in München gehalten.

Es liegt eine Gelegenheitsschrift vor, da „Freunde und Hörer“ Guardini empfohlen haben, diese einführenden Vorträge einzeln zu veröffentlichen, wie es in der „Vorbemerkung“ heißt, als Orientierungspunkt in den späten 1940er Jahren. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Schrift Die Macht (1951), die den Untertitel Versuch einer Wegweisung trägt. Mit beiden Schriften unternimmt Guardini „Versuche“, Licht in die unübersichtliche Situation der Nachkriegsjahre zu bringen. Für viele Menschen war dies ein erster Hoffnungsschimmer nach der ‚Stunde Null‘, dem Zusammenbruch 1945. Guardinis Das Ende der Neuzeit ist sehr dicht geschrieben und verweist in engem Geflecht auf weitere Schriften von ihm zur Anthropologie, Kultur und Technik.

Wie lässt sich Das Ende der Neuzeit in den größeren Kontext von Guardinis Schriften einordnen? Guardini legt eine Art ‚kritischer Bilanz‘ der Neuzeit vor. Er bestimmt darin die Stellung des Menschen in der Neuzeit und danach. Gewidmet ist die Schrift Romano Guardinis Bruder Mario.

Eine ähnliche geistige Positionierung liegt bei Eric Voegelin vor, den Guardini später, nach 1958 in München kennenlernen sollte. Mit seiner Kritik des selbsterlösenden Charakters der Moderne als ‚Gnosis‘ steht Voegelin Guardini inhaltlich nahe. Beide waren 1957 an der Gründung der Katholischen Akademie in Bayern sowie an der Gründung der Akademie für Politische Bildung in Tutzing beteiligt. Anders stellt sich Hans Blumenberg dar. Ihm geht es gut 15 Jahre nach der Veröffentlichung von Das Ende der Neuzeit und Die Legitimität der Neuzeit (1966), also die beständige Legitimierung und Selbstlegitimierung der Neuzeit in einer ‚Herauslösung‘ vom Mittelalter.

Doch auch in die Gegenwart wirkt Guardinis Schrift hinein. Papst Franziskus zitiert ihn in seiner Enzyklika Laudato si’ acht Mal aus Das Ende der Neuzeit, um in seiner Enzyklika eine falsche Anthropozentrik zu kritisieren und diese als schädlich für Mensch, Gesellschaft und Umwelt zu erweisen.

Das mittelalterliche Welt- und Menschenbild nach Guardini

Guardini sieht das Mittelalter als Symbolwelt und Ordnung: „Der mittelalterliche Mensch sieht überall Symbole. Das Dasein besteht für ihn nicht aus Elementen, Energien und Gesetzen, sondern aus Gestalten. Die Gestalten bedeuten sich selbst, aber, über sich selbst hinaus, Anderes, Höheres; zuletzt das Eigentlich-Hohe, Gott und die ewigen Dinge. So wird jede Gestalt zum Symbol. Sie weist über sich hinaus. Man kann auch, und richtiger, sagen: sie kommt von über sich herab, von jenseits ihrer hervor.“

Dieser Gedanke kommt auch im Motto zu Welt und Person (1939) zum Ausdruck, das Guardini von Pascal aus dessen Werk Pensées entnommen hat: „Der Mensch übersteigt um ein Unendliches den Menschen.“ Guardini zeigt hier einerseits das Fortschrittsstreben des Menschen, anderseits aber auch, dass sich der Mensch nicht ganz selbst in der Hand hat und oft von Hybris getrieben ist. Dabei verliert er Maß und Mitte und schließlich sich selbst.

Maß und Mitte gewinnt der Mensch als Person dadurch, dass er sich in eine Ordnung, einen Ordo, stellt, der kennzeichnend für das Mittelalter war und der einen klaren Transzendenzbezug aufweist: „Im Mittelalter war das Leben in all seinen Schichtungen und Verzweigungen religiös durchwirkt. Der christliche Glaube bildete die allgemein angenommene Wahrheit. Gesetzgebung, soziale Ordnung, öffentliches wie privates Ethos, philosophisches Denken, künstlerische Arbeit, geschichtlich bewegende Ideen – alles war in irgendeinem Sinne christlich-kirchlich charakterisiert.“

Romano Guardini zeigt ein offenes Verständnis vom Mittelalter, verklärt oder romantisiert diese Epoche jedoch keineswegs. Ein Zurückdrehen des Rades der Geschichte ist für Guardini nicht möglich. Die Existenz des Menschen kann nur in die Zukunft gerichtet sein.

Das neuzeitliche Welt- und Menschenbild

Eine unbegründbare „Dreifalt“ prägt für Guardini die Neuzeit: Natur, Subjekt und Kultur: „Auf die Frage, in welcher Weise das Seiende da sei, antwortet das neuzeitliche Bewußtsein: als Natur, als Persönlichkeitssubjekt und als Kultur.

Diese drei Phänomene gehören zusammen. Sie bedingen und vollenden einander wechselseitig. Ihr Gefüge bedeutet ein Letztes, hinter das nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Es bedarf keiner Begründung von anderswoher, noch duldet es eine Norm über sich.“

Die drei Schlüsselbegriffe Natur, Subjekt und Kultur charakterisieren den neuzeitlichen Menschen. Sie bauen gewissermaßen um ihn sein Haus auf, in dem er sich zeitlich einrichtet. Oft übersieht der neuzeitliche Mensch dabei aber, dass Endliches absolut wird, wenn keine weitere Norm außerhalb oder über der Natur zugelassen wird.

Im Gegensatz dazu steht die Selbsterniedrigung des neuzeitlichen Menschen: „Die Neuzeit ist auch bestrebt, den Menschen sinnmäßig aus dem Zentrum des Seins herauszurücken. Für sie steht er nicht mehr von überall her unter den Augen des Gottes, der die Welt umschließt, sondern ist autonom, hat freie Hand und eigenen Schritt – er bildet aber auch nicht mehr die Mitte der Schöpfung, sondern ist irgendein Teil der Welt. Einerseits steigert die neuzeitliche Auffassung den Menschen hinauf, auf Kosten Gottes, wider Gott; andererseits hat sie eine herostratische Lust, ihn zu einem Stück Natur zu machen, das sich von Tier und Pflanze nicht grundsätzlich unterscheidet. Beides gehört zusammen und steht in dem Wandel des Weltbildes in engem Zusammenhang.“ Unsicherheit und Unbestimmbarkeit in der Realität lassen den Menschen in die Situation geraten, sich selbst, der Welt und damit auch Gott nicht mehr zu trauen. Die daraus resultierende Überforderung des Menschen endet nach dem Rausch falsch verstandener Autonomie in Selbsterniedrigung.

Nach Tagebuchaufzeichnungen vom 10. April 1945, also noch vor dem Kriegsende, schrieb Guardini in seinem Text Berichte über mein Leben zum absoluten, nicht historischen Platonismus und den „spezifische[n] Gefahren“ des platonischen Denkens bereits ganz ähnlich: „In der Neuzeit finden sich, gleichzeitig erwachend und heranwachsend, zwei einander seltsam widersprechende und doch offenbar einander bedingende Tendenzen.

Einmal: Der Mensch löst sich von Gott los, nimmt Eigenständigkeit und Selbstgenügsamkeit für sich in Anspruch. Das Ganze verschärft sich zum Bestreben, Gott abzusetzen, wegzuschaffen, ja schließlich ihn, nach dem Nietzsche’schen Wort, zu ‚töten‘ … Zugleich aber entwürdigt der nämliche Mensch sich selbst, sucht mit allen Mitteln zu beweisen, daß er nur ein Stück der Natur ist, daß er vom Tier abstammt, daß er aus Materie besteht. Die Würde des Menschen ist über ihm aufbewahrt. Er lebt im Letzten nicht aus sich heraus, sondern von über sich herab. Er ist von Wesen ‚Ebenbild‘. Sobald er das verleugnet und von Demjenigen, dessen Ebenbild er ist, abfällt, verliert er den Bezugspunkt seines Wesens, seine Ehre und den Maßstab seines Daseins. Dann ‚überläßt Gott ihn seinen Gelüsten …‘ (Röm 1,24).“ Der Mensch schwebt also in der Neuzeit und an deren Ende seltsam zwischen Überschätzung (los-von-Gott) und Unterschätzung (Selbsterniedrigung im Materiellen). So charakterisiert Guardini den Menschen und seine Lebenssituation in ganz aktueller Weise, eine Existenz zwischen Extremen, die zu keinem Ausgleich mehr kommen können.

Ein weiteres Resultat aus der prinzipiellen Verunsicherung des neuzeitlichen Menschen ist der Rechtfertigungszwang des Glaubens in der Neuzeit, der uns nicht nur Mitte des 20. Jahrhunderts, sondern auch heute noch betrifft: „So wird der christliche Glaube immer mehr in eine Verteidigungsstellung gedrängt. Eine Reihe von Glaubenssätzen scheint mit wirklichen oder vermeintlichen Ergebnissen der Philosophie oder Wissenschaft in Konflikt zu kommen – denken wir etwa an das Wunder, an die Erschaffung der Welt, an Gottes Weltregierung – und es entsteht, als Literaturgattung wie als geistige Haltung, die neuzeitliche Apologetik. Vorher waren Offenbarung und Glaube einfachhin Grundlage und Atmosphäre des Daseins; jetzt müssen sie ihren Wahrheitsanspruch beweisen. Aber auch da, wo er feststeht, verliert der Glaube seine ruhige Selbstverständlichkeit. Er wird angestrengt; er betont und überbetont sich. Er fühlt sich nicht mehr in einer ihm gehörigen, sondern in einer fremden, ja feindlichen Welt.“ Guardini spricht zu Recht von einem „Konflikt“, den der Mensch heute zwischen Sätzen des Glaubens und Wissen über die Welt austragen muss, um im Glauben bestehen zu können. Fasst der Mensch den Glauben als vernünftigen Realitätszugang auf, der indes nicht rein wissenschaftlichen Prinzipien folgt, kann über die Vorstellung der einen und einigenden Vernunft eine Brücke zwischen religiösem Glauben und den Wissenschaften geschlagen werden. Doch dieser Brückenschlag wird allzu oft nur durch eine angestrengte Selbstrechtfertigung des Glaubens erreicht.

Die daraus folgenden Fragenkaskaden sind von bleibender Aktualität: „Wie steht es mit Gott und seiner Souveränität, wenn das Freiheitserlebnis des neuzeitlichen Menschen recht hat? Wie mit der geforderten Autonomie des Menschen, wenn Gott wesenhafter Gott ist? Wirkt Gott wirklich, wenn der Mensch die Initiative und Schaffenskraft hat, welche die Neuzeit behauptet? Und kann der Mensch handeln und schaffen, wenn Gott am Werk ist?

Wenn die Welt das ist, was Wissenschaft und Philosophie in ihr sehen – kann dann Gott in der Geschichte wirken? Kann Er dann Vorsehung führen und Herr der Gnade sein? Kann Er in die Geschichte eintreten und Mensch werden? Kann Er in ihr eine Stiftung aufrichten, die mit göttlicher Autorität menschlichen Dingen gegenübertritt, die Kirche? Und wieder: Kann der Mensch ein echtes Verhältnis zu Gott haben, wenn die Kirche Autorität hat? Kann der individuelle Mensch in Wahrhaftigkeit zu Gott kommen, wenn die Kirche für alle gilt?

Diese und ähnliche Probleme kommen im religiösen Leben der Zeit zur Auswirkung.

Vor allem innerlich.“

Sicher sind Fragen keine Antworten. Aber Guardini stellt uns in Das Ende der Neuzeit auch Antworthorizonte vor Augen, die uns auch in den gegenwärtigen Krisensituationen von Kirche und Glaube eine Perspektive gegen können, die über den Alltag hinausweist. Auch hier spielen das Verhältnis von Gott und Mensch, Freiheit und Autorität sowie das Erfassen von Wahrheit eine zentrale Rolle.

Ende des neuzeitlichen Welt- und Menschenbildes und „das Kommende“

Guardini nimmt den Untergang nach dem Zweiten Weltkrieg als Krisis, also als Entscheidungssituation wahr. Er analysiert den Charakter der Neuzeit nicht als einen direkten Weg in den Untergang durch das Hitler-Regime. Die Ideologie des Nationalsozialismus ist für Guardini eher ein Epochenbruch, denn eine Konsequenz der Geistesgeschichte, wie es Theodor W. Adorno sieht. Vielmehr führt die Krisis des „Dritten Reiches“ dazu, die Problematik der Neuzeit klarer zu sehen und richtig zu beurteilen, ihrem falschen Fortschrittsoptimismus einen ehrlichen Pessimismus entgegenzustellen und damit zu einer wahren Beurteilung der Situation des Menschen zu gelangen. Dies ist der neue Anfang, auf den Guardini verweist.

Damit geht der Mensch des falschen neuzeitlichen Optimismus verlustig. Er verliert ja durch das wesentlich szientistische Defizit seines Bezugs zu Natur und Kultur letztlich den Bezug zu sich als Subjekt und Person, zu seiner eigenen Geschöpflichkeit und damit zu Gott selbst.

In der Folge hat das Individuum keinen Stand mehr in der Wirklichkeit. Es verliert den Sinn für die Zusammenhänge des Seins- und Weltganzen und schließlich für sich selbst; jegliche Positionierung fehlt ihm dann. Der Mensch wird ortlos und damit haltlos. Er verliert dadurch auch seinen trügerischen Fortschrittsoptimismus.

Der neue Anfang besteht für Guardini in einer glaubensoffenen Orientierung in der Welt als Person.

Doch zunächst wird der neuzeitliche Mensch eben ortlos, wie Guardini in seiner Pascal-Vorlesung äußert: „Der Mensch ist ortlos geworden. Er hängt im Irgendwo. Er steht mit seinen Qualitäten im Irgendwas. Mit seinen Massen im Irgendwieviel. Er ist aus dem Bewußtsein der Wesenhaftigkeit in das der reinen Faktizität geglitten.“

In Das Ende der Neuzeit bekräftigt Guardini sein Urteil: „Der Mensch geriet immer mehr ins Zufällige, ins ‚Irgendwo‘.“

Doch nicht allein die Ortlosigkeit belastet den Menschen. Es ist mindestens ebenso sehr der widerchristliche Charakter der Zeit nach 1945 bis heute: „So bildet sich eine nicht-christliche, vielfach wider-christliche Lebensform heraus. Sie setzt sich so konsequent durch, daß sie als das Normale einfachhin erscheint, und die Forderung, das Leben müsse von der Offenbarung her bestimmt werden, den Charakter kirchlichen Übergriffs bekommt. Selbst der Gläubige nimmt diesen Zustand weithin an, indem er denkt, die religiösen Dinge seien eine Sache für sich, und die weltlichen ebenfalls; jeder Bereich solle sich aus dem eigenen Wesen heraus gestalten, und es müsse dem Einzelnen überlassen bleiben, wie weit er in beiden zu leben wünsche.“ Wenig später heißt es: „Die kommende Zeit wird in diesen Dingen [radikale Unchristlichkeit] eine furchtbare, aber heilende Klarheit schaffen.“ Und: „Wo die kommende Zeit sich gegen das Christentum stellt, wird sie damit ernst machen. Sie wird die säkularisierten Christlichkeiten für Sentimentalitäten erklären, und die Luft wird klarer werden. Voll Feindschaft und Gefahr, aber sauber und offen.“

Was will Guardini damit ausdrücken? Sicher keinen reinen Pessimismus. Vielmehr sieht Guardini die Chance des neuzeitlichen Menschen, in der klaren Frontstellung gegen das Widerchristliche einen unverstellten Blick auf die Realität zurückzugewinnen und mit neuer argumentativer Kraft den Glauben ins Heute zu tragen.

Schließlich geht es Guardini um einen Neuanfang, der sich allerdings der Gefahr des Atheismus stellen muss. Hier warnt Guardini mit Nietzsche: „Mit genauestem Recht kann man sagen, daß von jetzt an ein neuer Abschnitt der Geschichte beginnt. Von jetzt an und für immer wird der Mensch am Rand einer sein ganzes Dasein betreffenden, immer stärker anwachsenden Gefahr leben.“

Das Nutznießertum eines flachen Glaubens oder eines bequemen Agnostizismus, der den ‚Lieben Gott einen (bestenfalls) braven Mann‘ sein lässt, reicht heute bei weitem nicht aus, um der Glaubenskrise Hoffnung und einen lebendigen Glauben entgegenzusetzen: „Der Nicht-Glaubende muß aus dem Nebel der Säkularisation heraus. Er muß das Nutznießertum aufgeben, welches die Offenbarung verneint, sich aber die von ihr entwickelten Werte und Kräfte angeeignet hat. Er muß das Dasein ohne Christus und ohne den durch Ihn offenbarten Gott ehrlich vollziehen und erfahren, was das heißt. Schon Nietzsche hat gewarnt, der neuzeitliche Nicht-Christ habe noch gar nicht erkannt, was es in Wahrheit bedeute, ein solcher zu sein. Die vergangenen Jahrzehnte haben eine Ahnung davon vermittelt und sie waren erst der Anfang.

Ein neues Heidentum wird sich entwickeln, aber von anderer Art als das erste. Auch hier besteht eine Unklarheit, die sich unter anderem im Verhältnis zur Antike zeigt. Der heutige Nicht-Christ ist vielfach der Meinung, er könne das Christentum ausstreichen und von der Antike ausgehend einen neuen religiösen Weg suchen. Darin irrt er aber. Man kann die Geschichte nicht zurückdrehen.“ Auch hier betont Guardini die Irreversibilität der Geschichte und die Ausrichtung auf das Neue, Kommende, das der Mensch nicht in Angst, sondern im Vertrauen auf Gott annehmen soll.

Die Lösungsansätze und der neue Anfang liegen für Guardini vornehmlich in einer Rückgewinnung der Personalität des Menschen: „Die Personalität ist dem Menschen wesentlich; sie wird aber dem Blick erst deutlich und dem sittlichen Willen bejahbar, wenn sich durch die Offenbarung in Gotteskindschaft und Vorsehung das Verhältnis zum lebendig-personalen Gott erschließt. Geschieht das nicht, dann gibt es wohl ein Bewußtsein vom wohlgeratenen, vornehmen, schöpferischen Individuum, nicht aber von der eigentlichen Person, die eine absolute Bestimmung jedes Menschen jenseits aller psychologischen oder kulturellen Qualitäten ist. So bleibt das Wissen um die Person mit dem christlichen Glauben verbunden. Ihre Bejahung und ihre Pflege überdauern wohl eine Weile das Erlöschen dieses Glaubens, gehen aber dann allmählich verloren.“

Das Bewusstsein des Menschen in seinem Personsein muss neu geweckt werden und durch den Glauben an Jesus Christus in Entschiedenheit gesucht werden. Der Glaube selbst verlangt eine neue Entschiedenheit: „Der christliche Glaube selbst aber wird eine neue Entschiedenheit gewinnen müssen. Auch er muß aus den Säkularisationen, den Ähnlichkeiten, Halbheiten und Vermengungen heraus. Und hier ist, scheint mir, ein starkes Vertrauen erlaubt.“ Daraus resultiert ein erneuertes Vertrauen darauf, dass es Gott ist, der den Weg mit uns als Personen geht. Im entschiedenen Glauben ist man nie allein. Diese Entschiedenheit im Glauben setzt, so Guardini, Tapferkeit voraus: „Wenn wir die eschatologischen Texte der Heiligen Schrift richtig verstehen, werden Vertrauen und Tapferkeit überhaupt den Charakter der Endzeit bilden.“ Guardini bezieht sich hier in eschatologischer Hinsicht auf Mt 24,36: „jene Stunde kennt […] nur der Vater.“ Dadurch warnt Guardini vor einer künstlich hergestellten Eschatologie, einem Vorziehen des Weltendes, das dem Menschen nicht Erlösung, sondern ideologische Enge und schließlich Vernichtung bringt.

Resümee: Ende und Anfang – Zeitenwende

Romano Guardini kritisiert den szientistischen Geist der Neuzeit, den er durch René Descartes repräsentiert sieht. Der Mensch kann diesen falsch gewichteten Szientismus nicht mehr bewältigen und beherrschen, nicht mehr austarieren. Askese tut hier not. In dieser Askese, die eine nüchternere Sicht auf Welt und Realität befördert, wird eine neue Positionierung des Menschen als Person in der Welt erreicht.

Ferner darf politische Macht nie dämonisch werden. Sie muss ein persönliches Antlitz tragen, das wir ihr verleihen müssen. Guardini ist Optimist. Er will auf einen neuen Anfang nach dem „Dritten Reich“ hinaus, der den Menschen sein Wesen als Person für sich zurückgewinnen lässt. Einen gedanklichen Rückschritt im Sinne einer philosophischen Romantik lehnt Guardini indes entschieden ab. Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht! In einem klaren Verständnis von Fortschritt und einem Denken ‚nach vorne‘ sieht Guardini einen Ausweg aus der Orientierungslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu ist ein entschiedener Glaube notwendig. Hier folgt Guardini Blaise Pascal und Sören Kierkegaard, die beide zu ihrer Zeit eine existentielle Neuausrichtung auf den Glauben gefordert haben. Der Offenbarungsbezug wird dadurch neu fruchtbar und kann – damals wie heute – ein wahres alternatives Sinnangebot sein.

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