Verfassungsrechtliche Fragen zum Widerstand

Ein sehr restriktiver Ansatz im Grundgesetz / andere Verfassungen sind offensiver

Im Rahmen der Veranstaltung Philosophische Tage 2021, 07.10.2021

Messen mit zweierlei Maß

Bildet Bürgerwehren in jedem Hof, in jedem Bezirk, in jedem Haus! Alle demokratischen Kräfte müssen den Protest vor die Gebietsverwaltungen tragen.“ Selbst wenn dieser Aufruf nicht befolgt würde, könnte man sich in der Bundesrepublik ein Verfahren nach § 111 StGB wegen des öffentlichen Aufrufes zu einer Straftat einhandeln. In Bayern wäre die Polizei ermächtigt, den potenziellen Verkünder dieser Botschaft in Gewahrsam zu nehmen und ihn dort möglicherweise bis zu sechs Monaten schmoren zu lassen (Art 17 i.V.m. 20 BayPolAG).

Die Demonstration vor einem Parlamentsgebäude wird durch § 16 Bundesversammlungsgesetz i.V.m. Bannmeilengesetzen verboten und kann mit einer Geldstrafe bis zu 30 000 Euro geahndet werden. Strafbar macht sich nach dem Versammlungsgesetz nicht nur, wer sich vermummt oder passiv bewaffnet, sondern schon derjenige, der bei Demonstrationen oder „auf dem Weg dorthin Schutzwaffen oder Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet“ sind, mit sich führt. „Schutzwaffen“ sind Helme, Schutzwesten und anderes − das wird eine Bürgerwehr wohl mindestens brauchen. Der Aufruf, Bürgerwehren zu bilden, Barrikaden zu bauen, Rathäuser oder Parlamente zu besetzen, ist schließlich ein Aufruf zum Landfriedensbruch nach § 125 StGB, wenn man Molotowcocktails mitführt, wie es in Kiew offensichtlich üblich war, sogar besonders schwerer Landfriedensbruch, der mit zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann.

Und damit habe ich verraten, wo die Geschichte spielt: nämlich in Kiew im Jahre 2014. Aufgerufen hat der ehemalige Boxer Vitali Klitschko, der zwischendurch zum Oppositionspolitiker aufgestiegen war. Der Aufstand führte zum Sturz des gewählten Präsidenten Janukowytsch, der eher Russland- als EU-freundlich war. Anlass waren Verschärfungen des Versammlungsrechts, nämlich – so die Berichterstattung − die Einführung eines Vermummungsverbotes und der passiven Bewaffnung − beides Verbote, die auch das bundesdeutsche Versammlungsgesetz kennt. Die herrschende Meinung in Deutschland begrüßte den Aufstand, und Klitschko wurde zur Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen. Der Rest ist bekannt − in der Ukraine herrscht bis heute Bürgerkrieg. [seit März 2022 sogar Krieg; der Text wurde schon Ende 2021 geschrieben. Anm. der Redaktion]

Klitschko war Freiheitsheld, nicht etwa Umstürzler, Gewalttäter, Krimineller oder gar Terrorist. Das Phänomen ist nicht neu: Politisch passender Widerstand ist legitim und Freiheitskampf; politisch unpassender Widerstand ist Terror oder mindestens strafbar. Manchmal wechselt die Beurteilung für die gleiche Gruppe innerhalb weniger Jahre. Die Taliban, Nordallianz, Al Quaida oder wie die Terrorgruppen in Afghanistan alle hießen, wurden von „dem Westen“ unterstützt, solange sie Bomben gegen die sowjetische Besatzung legten.

Die Älteren haben es vielleicht noch im Ohr, den Slogan: „Wehrt Euch, leistet Widerstand gegen Atomraketen hier im Land!“ Heute wird zu einem anderen Widerstand aufgerufen: zum Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik, gegen „Überfremdung“ oder gegen den Euro. So stellt sich die Frage, ist Widerstand legitim oder besser: Welcher Widerstand ist legitim? Und Juristen können berechtigterweise die Frage stellen: Wann ist Widerstand legal – so dass auch die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Legitimität und Legalität aufgeworfen ist. Die Frage nach dem legalen Widerstand stellt sich, weil das Grundgesetz den Widerstand ausdrücklich erlaubt. In Art. 20 IV GG heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Das Widerstandsrecht im Grundgesetz

Juristen lieben Definitionen. Wie also lässt sich Widerstand definieren, wie unterscheidet er sich vom Aufruhr oder von der Revolution? Die Abgrenzung ist wichtig, denn in Art. 87a IV GG heißt es: „Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für … die freiheitliche demokratische Grundordnung … kann die Bundesregierung, … Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei … bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen.“ Widerstand ist also erlaubt, aber der bewaffnete Aufstand kann militärisch bekämpft werden. Übrigens: Beide Vorschriften wurden erst mit der in der politischen Diskussion sogenannten Notstandsverfassung 1968 in das Grundgesetz aufgenommen.

Zurück zur Definition: Merkwürdigerweise finden sich – soweit ersichtlich − in den gängigen Grundgesetzkommentaren keine Ausführungen dazu, was Widerstand denn wohl sein könnte. Wortreich wird nur versucht, das Recht klein zu halten. Widerstand wird in der Alltagssprache verstanden als „sich gegen etwas stellen“ oder „gegen etwas einstehen“.

Eine Definition aus der Politikwissenschaft lautet: „Widerstand will direkt etwas verhindern. Das kann gewaltsam oder gewaltfrei, das kann aktiv oder passiv sein, aber es ist immer das absichtsvolle Reagieren auf etwas, das man als ungerechtfertigte politische Zumutung empfindet.“ Es geht um das absichtsvolle Ändern eines Zustandes, wobei der Widerständige sich im Zweifel in der schwächeren Position befindet, etwas Vorherrschendes ändern oder etwas wahrscheinlich Heraufziehendes verhindern will, das stärkere Kräfte wollen. Weil der Widerstand sich auch gegen Bestehendes richten kann, ist er keineswegs nur konservativ.

Das Widerstandsrecht in Art. 20 IV GG ist dagegen konservativ angelegt: Es geht um die Verteidigung der Ordnung des Art. 20 GG, also der Staatsstrukturprinzipien, als da wären: Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat, Bundesstaat und Republik. Prinzipien, die durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 III GG ebenso wie die Menschenwürde gegen Änderungen geschützt sind. So muss man den Schutz der Menschenwürde ebenfalls zu der in Art. 20 IV genannten Ordnung hinzunehmen.

Der Aufstand, der mit Militärgewalt verhindert werden kann, richtet sich dagegen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die gelegentlich deutlich weiter definiert wird als die Staatsstrukturprinzipien in Art. 20 GG − sie umfasst dann auch die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Neuerdings definieren die Verfassungsschutzgesetze die freiheitlich-demokratische Grundordnung über die Menschenwürde und die Staatsstrukturprinzipien − ich bin gespannt, wann der Verfassungsschutz das merkt.

Kurz: Der Aufstand, wie ihn das Grundgesetz versteht, will die wesentlichen Grundsätze des Grundgesetzes beseitigen, der legale Widerstand will sie schützen.

Verfassungen mit weiter gehendem Widerstandsrecht

Das Widerstandsrecht war ein Kompromiss innerhalb der Notstandsverfassung von 1968: Der Aufstand sollte bekämpft werden, dafür wurde der Widerstand legalisiert. Dafür gab es in anderen Verfassungen Vorbilder. In der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 wird erklärt, dass die Verletzung der unveräußerlichen Menschenrechte auf Freiheit, Eigentum und Glück ein Recht begründe, „to reform, alter or abolish … any government (that) shall be found inadequate or contrary to these purposes.“ Der Gedanke wurde in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom Juli 1776 wiederholt und findet sich erweitert um eine Widerstandspflicht in der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789. Dort hieß es in Art. 35: „Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerlässlichste seiner Pflichten.“ Die Menschenrechtserklärung kennt neben der Widerstandspflicht ein Recht zum Aufstand.

Die geltende hessische Verfassung normiert in Art. 147: „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht.“ Auch hier gibt es eine Widerstandspflicht, die deutlich unter der Stufe der Beseitigung der demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung beginnt. Die Kombination von Widerstandsrecht und Pflicht kennt auch die Landesverfassung in Bremen. Dort heißt es in Art. 19: „Wenn die in der Verfassung festgelegten Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden, ist Widerstand jedermanns Recht und Pflicht.“ Auch hier beginnen das Recht und die Pflicht, nicht erst dann, wenn die gesamte Ordnung infrage gestellt wird, sondern schon bei einzelnen Verletzungen.

Sowohl die Revolutionsverfassung von 1789 wie die hessischen und bremischen Landesverfassungen knüpfen das Widerstandsrecht an die Verletzung der Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt. Es setzt nicht erst ein, wenn durch Staatsstreich oder sonstige Verfassungsänderungen ein diktatorisches oder autoritäres Regime eingeführt wird. Das heißt, sie anerkennen ein Widerstandsrecht gegen Unrecht auch in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassung.

Das Grundgesetz beantwortet die Frage zum legalen und legitimen Widerstand im Unterschied zu anderen Verfassungen sehr restriktiv. Widerstand ist nur gegen die Beseitigung der demokratischen Ordnung legal, und auch nur dann, wenn anderweitig keine Abhilfe möglich ist. Das wird als Subsidiaritätsklausel verstanden. Zunächst muss der Weg über die Gerichte gegangen werden. Und natürlich sei bei abweisenden Urteilen der Widerstand nicht mehr legal. Dann müsse man sich der letztlich vom BVerfG festgestellten Ansicht beugen.

Im Verfassungsblog fasst Maximilian Steinbeis zusammen, was er im Studium zum Widerstandsrecht des Grundgesetzes lernen sollte: „Wenn der Rechtsstaat noch funktioniert, habe man vor Gericht zu ziehen, um sich gegen Verfassungsverstöße zu wehren … . Wenn er nicht mehr funktioniert und das Grundgesetz über den Haufen geworfen ist, dann herrsche Anarchie, und dann helfe ein solches im Grundgesetz verbürgtes Recht auch niemandem mehr. Kurzum, so die Botschaft: Vergesst Art. 20 Abs. 4!“ Das legale Widerstandsrecht wird als Paradoxon verstanden: Wenn der Widerstand erlaubt ist, wird er zwecklos oder unmöglich.

Das Bild, das dieser Lehrmeinung und wohl auch der Vorstellung vom Aufstand zugrunde liegt, stammt aus der Weimarer Republik und gibt Antwort auf etwa den Ruhr-Aufstand der KPD oder den Kapp-Putsch. Der bewaffnete Aufstand darf mit Militär niedergeschlagen werden, gegen den Putsch ist der Widerstand erlaubt – im Falle des Kapp-Putsches war er ja auch erfolgreich. In Myanmar, wo heuer (also 2021) das Militär putschte, wäre nach dem Grundgesetz der Widerstand legal und legitim. Die neoliberale Revolution lehrt aber, dass sich grundlegende Änderungen in der Gegenwart über Jahrzehnte hinziehen können. Der neoliberale Umbau in den kapitalistischen Zentren begann mit Thatcher und Reagan Anfang der 1980er Jahre und dauerte mindestens bis 2008, bis zum großen Finanzcrash. Und die Präsidentschaften Donald Trumps oder die Wahl Viktor Orbans lehren, dass der Umbau des Systems demokratisch stattfinden kann und von den Gerichten keineswegs aufgehalten, wenn nicht sogar unterstützt wird. Juristen folgen halt gern der herrschenden Meinung und sind auch noch stolz darauf. Ergebnis: Widerstand lässt sich beim schleichenden Übergang ins Autoritäre auf den ersten Blick nicht auf Art. 20 GG stützen, er ist nicht legal.

Naturrecht und Widerstand

Kommen wir also zurück zur eingangs gestellten Frage: Wann ist Widerstand legitim? Das BVerfG hat schon 1956 im KPD-Urteil, also lange bevor das Widerstandsrecht ins GG aufgenommen wurde, angedeutet, dass ein Widerstandsrecht existieren könnte, auf das sich die KPD allerdings bei ihrer Widerstandsrhetorik nicht berufen könne.

Das Gericht urteilte: „Das Grundgesetz erwähnt ein Widerstandsrecht nicht. Damit ist aber die Frage, ob ein solches Widerstandsrecht in der grundgesetzlichen Ordnung anzuerkennen ist, nicht von vornherein verneinend entschieden. Vor allem ist ein Widerstandsrecht gegen ein evidentes Unrechtsregime der neueren Rechtsauffassung nicht mehr fremd. Dass gegen ein Regime solcher Art normale Rechtsbehelfe nicht wirksam sind, hat die Erfahrung gezeigt.“ Der Gedanke ist interessant: Das Widerstandsrecht existiert als überpositives Recht.

Das BVerfG knüpft hier offenbar an die berühmte Radbruch-Formel an, nach der Recht seinen Geltungsanspruch verliert, wenn es in einem unerträglichen Maße in Widerspruch zur Gerechtigkeit gerät. Gestützt auf die Radbruch-Formel konnten NS-Verbrecher verurteilt werden, ohne gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot zu verstoßen. Das Nazi-Recht war demnach Unrecht und kein Recht und konnte nicht zur Rechtfertigung der Taten herangezogen werden. Dann folgt aber konsequent: Wenn es kein Recht war, musste man es auch nicht befolgen. Oder anders: Es war legitim, Widerstand zu leisten – was sich in der Bundesrepublik erst spät herumsprach.

Der Maßstab ist die Gerechtigkeit. Recht ist nur gültig, wenn es auch gerecht ist – das ist die alte naturrechtliche Lehre. Sofort kommt man zu dem Problem: Was ist Gerechtigkeit? In der Gegenwart spricht man deshalb nicht mehr von einem naturrechtlichen, sondern von einem „ethisch modifizierten Rechtsbegriff“. Radbruch war weise: Recht muss nicht insgesamt gerecht sein. Es dürfe auch dann Geltung beanspruchen, „wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig“ ist; erst wenn der Widerspruch unerträglich wird, verliere das positive Recht den Geltungsanspruch. Dann und nur dann ist Widerstand erlaubt. Radbruch musste nicht beweisen, dass das Maß der Unerträglichkeit mit dem Nazi-Recht überschritten war.

Aber wie sieht es heute aus? Hilft das bei der Beurteilung des Widerstandsrechts gegen Trump oder Orban, bei der Beurteilung des „nationalen Widerstandes“ oder beim Widerstand gegen Atomraketen. Radbruch hat einen Hinweis gegeben, wie das unerträgliche Maß der Abweichung von der Gerechtigkeit zu bestimmen ist: „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“

Man kann auch sagen: Dort, wo die Menschgleichheit als Voraussetzung und Kern der Menschenwürde negiert wird, handelt es sich nicht um Gerechtigkeit, und man kann diese nicht in Anschlag gegen das positive Recht bringen. Dann ist der nationale Widerstand raus. Mit dem Schüren der Furcht vor allem „Fremden“ wird − im Widerspruch zur Gerechtigkeit − die Menschengleichheit negiert. Ein solcher Widerstand ist illegitim und nicht nur illegal.

Nun bestreiten Rechtspositivisten wie Hans Kelsen, dass man dem positiven Recht seine Geltung absprechen kann, weil es gegen ethische Grundsätze verstößt. Das hieß für ihn nicht, dass er die Nazis ungeschoren davonkommen lassen wollte, frei nach Filbinger: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Rechtspositivisten meinen, dass die Bewertung von Unrecht moralisch möglich sei und unbedingt geboten sei. Man bleibe damit aber außerhalb des Rechtssystems, könne über Gerechtigkeitspostulate dem Recht nicht die Geltung absprechen. Um Nazis zu verurteilen, müsse man klar bekennen, gegen das Rückwirkungsverbot zu verstoßen.

Für unsere Frage kommt man zu dem Ergebnis: Moralisch, nach Maßstäben der Gerechtigkeit kann Widerstand geboten sein, aber damit wird er nicht legal. Legalität und Legitimität können auseinanderfallen. Auch nach dem ethisch modifizierten Rechtsbegriff können sie auseinanderfallen, nämlich wenn man den Widerstand gegen einfaches Unrecht für moralisch legitim hält, ohne dass Recht seinen Geltungsanspruch verliert. Legitimität und Legalität werden wieder kongruent, wo das gesetzliche Unrecht ein so unerträgliches Maß erreicht, dass der Rechtscharakter fehlt. Abschließend: Die rechtspositivistische Position widerspricht Radbruchs Definition der Gerechtigkeit keineswegs, sondern erklärt sie über die Menschenwürde zum Rechtsprinzip, was den „nationalen Widerstand“ moralisch illegitim und rechtlich illegal macht. Die Ergebnisse unterscheiden sich in dieser Frage nicht.

Umkehr der Frage und Demokratie

Das beantwortet aber nicht unsere Frage, ob Widerstand gegen unrichtiges Recht, gegen Atomraketen, Immobilienspekulation oder Klimasünden einerseits oder gegen Staatslenker wie Trump oder Orban legitim und möglicherweise sogar legal wäre. Man nähert sich der Antwort möglicherweise, wenn man die Frage umdreht. Wenn man fragt, aus welchem Grund man überhaupt Recht und staatlichen Befehlen folgen sollte. Normativ fand die Aufklärung eine Antwort auf diese Frage. Die Gewalt des Staates oder die Unterwerfung unter die Staatsgewalt ist rechtfertigungsbedürftig. Am Anfang steht Freiheit und Selbstbestimmung – sie ist der Normal- oder Urzustand. Die Beendigung der Freiheit durch die Unterwerfung unter den Staat muss begründet werden und nicht umgekehrt der Widerstand gegen die Gewalt des Staates. Die Antworten sind bekannt. Mit Hobbes‘ Gesellschaftsvertrag war der Grundstein gelegt, um die Staatsgewalt aus der Zustimmung der Unterworfenen abzuleiten. Mit Rousseau, Kant und Marx wurde die Demokratie zum „aufgelösten Rätsel aller Verfassungen.“

Uns interessiert die Antwort der Rechtswissenschaften. Sie vollzieht diesen Doppelschritt bis heute nach. Zunächst wird der Staat an sich gerechtfertigt, also ohne Rücksicht auf die Staatsform. Erst im zweiten Schritt wird die Legitimation über Rechtsstaat und Demokratie hinzugedacht. Auf der ersten Stufe wird abstrakte Staatlichkeit allerdings inklusive Gewaltmonopol durch die Friedens- und Ordnungsfunktion gerechtfertigt.

Auf diese Basislegitimation wird dann die Legitimation des konkreten Staates und seines Rechts gleichsam aufgesattelt. Der Staat wird so gleichsam als „Rohling“ der konkreten Staatsform vorgelagert und seine Gewalt ist schon gerechtfertigt durch seine Ordnungs- und Friedensfunktion. Dem Staat wird eine friedensstiftende Funktion zugeschrieben, die er nur erfüllen könne, wenn er mit einem Gewaltapparat oder mit Gewaltmitteln ausgestattet sei.

Das ist nicht überzeugend. Der Worst-Case war sicher die Nazi-Diktatur, aber die Lehren sind verallgemeinerbar. Von einer friedenstiftenden Funktion des Staates blieb nichts. Nach innen herrschte Terror gegenüber der Opposition, gegen Juden und andere „ethnische“ Gruppen. Es herrschte Terror und kein Frieden, und der Terror seitens des Staates war besonders effektiv, weil der Staat über ein ungeheures Gewaltpotenzial verfügte.

Das schließt es aus, den Staat allein über die Existenz eines Gewaltmonopols zu legitimieren – im Gegenteil, dieses Gewaltmonopol erhöht die Notwendigkeit der normativen Rechtfertigung oder Legitimation. Die juristische Rechtfertigung des Staates in nuce, also unabhängig von der Staatsform allein über seine „Ordnungs- und Friedensfunktion“ geht in die Irre – man schleppt alte, absolutistische Zöpfe mit sich herum.

Es kommt also auf die Staatsform an, will man die Staatsgewalt und sein Gewaltmonopol rechtfertigen. Dabei stellt man richtigerweise auf Rechtsstaat und Demokratie ab. Rechtsstaat oder die „Rule of Law“ meint die Selbstbindung der staatlichen Gewalt an allgemeine, bestimmte Gesetze, deren Folge auch die Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz sein muss. Durch diese formelle Seite garantiert der Rechtsstaat über die Rechtssicherheit ein Minimum an Schutz der Bürger vor Gewaltanwendung durch Willkür, also Rechtssicherheit. Weiter geht der Schutz durch die Gewährleistung von Grundrechten. Vorausgesetzt wird: Grundrechte sind nicht natürlich, gottgegeben oder vom Staat gewährt, sondern in geschichtlichen Kämpfen erworbene Rechte.

Die Aufklärer konzipierten Demokratie als Legitimationsgrund der Staatsgewalt. Über die Selbstgesetzgebung wird die Unterwerfung unter die fremde Gewalt, d.h. unter das Gewaltmonopol des Staates in der Form legitimiert, dass die Staatsgewalt über die Gesetze programmiert werden soll. Die Adressaten des Rechts programmieren dieses selbst, sind also gleichzeitig Autoren der Rechtsvorschriften, die dann möglicherweise gegen sie angewendet werden. Die Legitimität ergibt sich daraus, dass sie über sich selbst beschließen oder über die Identität von Autor und Adressat rechtlicher Vorschriften.

Die Legitimität, die mit der Selbstgesetzgebung erreicht wird, ist höher zu werten als diejenige, die durch den Rechtsstaat, also die Bindung an Grundrechte und die Form des allgemeinen Gesetzes erreicht wird. Denn solange die Beschränkung der Staatsgewalt durch Grundrechte eine Selbstbeschränkung ist und solange die Beschränkung der Grundrechte durch die verselbstständigte, d.h. von der Gesellschaft getrennte Staatsgewalt erfolgt und zulässig ist, solange kann die Ausübung der Gewalt mit Fremdbestimmung, Herrschaft oder Unrecht verbunden sein. Demokratie ist also der Versuch, Herrschaft tendenziell aufzuheben.

Im Ergebnis ergibt sich durch die Umkehrung der Frage: Wenn die Gewalt des Staates nur durch seine rechtsstaatliche und demokratische Form legitimiert werden können, ist eine Staatsgewalt, die diese Form verletzt, nicht legitim. Das heißt die Ausübung der Staatsgewalt ist illegitim, was Widerstand erlaubt.

Widerstand und Verhältnismäßigkeit

Kommen wir noch einmal auf die vorhergehenden Überlegungen zurück. Das Gewaltmonopol ist legitim, wenn ein ausgewogenes Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie existiert. Legalität ist dann gleich Legitimität, Widerstand illegitim. Das andere Extrem: Rechtsstaat und Demokratie sind durch ein autoritäres Regime, eine Diktatur beseitigt. Dann ist das Gewaltmonopol nicht legitim. Die Legalität ist nicht deckungsgleich mit der Legitimität, der Widerstand, auch der gewaltsame ist legitim. Das Attentat gegen Hitler war legitim, und ebenso wäre es ein solches gegen Lukaschenko in Belarus.

Leider ist die Welt nicht so einfach, und sie ist nicht schwarz-weiß, sondern bunt. Spannend ist so das Feld zwischen Demokratie und Diktatur. In Europa und den USA haben sich in jüngster Zeit Regierungsformen dazwischen entwickelt. Der ungarische Präsident Orban spricht für sein Land selbst von einer „illiberalen Demokratie“, also einer Demokratie ohne Rechtsstaat, was allerdings eine Contradictio in Adjecto ist. Die PiS-Partei in Polen kujoniert die Gerichte, greift also den Rechtsstaat an. Trump machte keinen Hehl aus seinem rein taktischen Verhältnis zu Rechtsstaat und auch zur Demokratie. Macron und Kurz sind ein cäsaristischer Durchmarsch gelungen, der die alte Parteiendemokratie aushebelte. Wie sieht es hier aus mit dem Widerstandsrecht?

Aber man soll den Splitter nicht im Auge des anderen suchen: Gibt es ein Widerstandsrecht, wenn die Polizei kalkuliert, dass es billiger ist, ein negatives Urteil zu kassieren als auf die Einkesselung von Demonstranten zu verzichten? Gibt es ein Widerstandsrecht, wenn in bayerischen Klassenzimmern weiter Kruzifixe hängen, auch wenn das BVerfG eindeutig anders geurteilt hat? Gibt es ein Widerstandsrecht, weil Deutschland und die EU in Kauf nehmen, dass Flüchtlinge auf dem Mittelmeer verrecken, um Zuwanderung zu verhindern? Oder gibt es ein Widerstandsrecht, wenn die Bundeswehr verfassungswidrig zur Demonstrationsbekämpfung eingesetzt wird – wie in Heiligendamm 2007? Gibt es ein Widerstandsrecht, wenn das Urteil des BVerfG zum Klimaschutz nur formal umgesetzt wird?

Und: Es sind nicht mehr nur Einzelstimmen, die einen Substanzverlust der Demokratie konstatieren oder einen Verlust des Primats der Politik gegenüber „der Wirtschaft“ oder „den Märkten“. Folgen politische Entscheidungen oder „die Politik“ externen Imperativen, werden demokratische Prozesse ihres Inhalts beraubt. Die Heteronomie politischer Entscheidungen führt zu einer Krise der Repräsentation. Wenn ein gravierender Substanzverlust der Demokratie konstatiert werden kann, folgt nach den obigen Überlegungen zur Legitimität, dass diese zumindest schwächer wird.

Nun gibt es einen Unterschied zwischen autoritären Diktaturen, in denen Rechtsstaat und Demokratie nicht mehr existieren, zwischen illiberalen Demokratien und zwischen diesen und dem Substanzverlust an Demokratie, der sich für die Bundesrepublik beschreiben lässt. Anders gesagt: Legitimität lässt sich nicht in der binären Logik denken, sondern muss in Abstufungen konzeptioniert werden: Es gibt ein Mehr und ein Weniger an Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols. Folglich ist auch ein Mehr oder Weniger an Widerstand legitim – man kommt zur Abwägung oder zur Verhältnismäßigkeitsprüfung. In einer „illiberalen Demokratie“ ist ein Mehr an Widerstand legitim als in einer rechtsstaatlichen Demokratie. Widerstand und seine Form ist also eine Frage der Verhältnismäßigkeit.

Über die Normativität hinaus – Strategie des Widerstandes

Hier ist zu betonen, dass es bisher um die normative Wertung des Widerstandes ging, nicht um die Frage der politischen Strategie, also welche Form des Widerstandes gewählt werden sollte, um nicht das eigene Leben oder fremde Freiheit zu gefährden. Es darf nicht übersehen werden, dass die Form des Widerstandes auch eine Frage von Strategie und Taktik ist, Dissidenten sich also die Frage stellen müssen, was können sie ausrichten und was kostet es sie? Daraus ergeben sich ebenfalls normative Fragen, die ich hier nicht beantworten will, aber andeute.

War es eine richtige Strategie in Belarus gegen Lukaschenko zu demonstrieren, mit dem Ergebnis, dass das System repressiver wurde? War es korrekt, sich in Syrien auf den Widerstand gegen Assad einzulassen, oder war die Ausfüllung des Machtvakuums durch die Mörderbandes des IS absehbar? Oder allgemeiner: Gibt es ein Recht auf Widerstand, wenn die Gefahr besteht, das Gegenteil von dem zu erreichen, was beabsichtigt ist.

Gibt es angesichts hochgerüsteter Staaten überhaupt eine erfolgreiche Strategie eines gewalttätigen Widerstandes oder kann der grundsätzlich nur nach dem Vorbild von Gandhi und Martin Luther King erfolgen? Wie sieht denn ein verhältnismäßiger Widerstand unter der Bedingung aus, dass man einen Substanzverlust der Demokratie auch in Staaten der EU konstatiert, wie kann er sich von demjenigen in illiberalen Demokratien unterscheiden? Wer darf beurteilen, ob rechtliche Abhilfe nicht mehr möglich ist, weil die Justiz selbst Teil der illegitimen Staatsgewalt ist?

Ich will mit diesen Fragen schließen, auf die es – so vermute ich – keine allgemeingültige Antwort gibt.

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