Vor 100 Jahren kam Romano Guardini nach Berlin

Theologe, Philosoph und Seelsorger für die "draußen vor der Kirchentür"

Im Rahmen der Veranstaltung Zeitenwende?, 15.06.2023

Ja, renn nur nach dem Glück / doch renne nicht zu sehr! / Denn alle rennen nach dem Glück / Das Glück rennt hinterher“, konzentriert Bertolt Brecht seine Berliner Erfahrungen in der Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens, die 1928 mit den Songs der Dreigroschenoper uraufgeführt wird. Der religiöse Skeptiker klingt dabei fast wie ein spiritueller Klassiker, wenn er wie der Kirchenlehrer Augustinus zu bedenken gibt: Glücks-Jagd und Suche nach Seelenruhe bilden ein Leitthema großstädtischer Existenz.

Dieses Motiv findet sich auch in dem sehr „berlinisch“ eingefärbten Gedicht Sonntagmorgen von Mascha Kaléko:

Die Straßen gähnen müde und verschlafen.

Wie ein Museum stumm ruht die Fabrik.

Ein Schupo träumt von einem Paragraphen.

Und irgendwo macht irgendwer Musik.

Die Straßenbahn fährt, als tät sie’s zum Vergnügen,

Und man fliegt aus, durch Wanderkluft verschönt.

Man tut, als müsste man den Zug noch kriegen.

Heut muß man nicht. – Doch man ist’s so gewöhnt.

Die Fenster der Geschäfte sind verriegelt

Und schlafen sich wie Menschenaugen aus. –

Die Sonntagskleider riechen frisch gebügelt.

Ein Duft von Rosenkohl durchzieht das Haus.

Man liest die wohlbeleibte Morgenzeitung

Und was der Ausverkauf ab morgen bringt.

Die Uhr tickt leis. – Es rauscht die Wasserleitung,

Wozu ein Mädchen schrill von Liebe singt.

Auf dem Balkon sitzt man, von Licht umflossen.

Ein Grammophon kräht einen Tango fern …

Man holt sich seine ersten Sommersprossen

Und fühlt sich wohl. – Das ist der Tag des Herrn!

Sonntagmorgen wurde im Mai 1930 in der Vossischen Zeitung veröffentlicht. Damit meldete sich eine Berliner Büroangestellte mit jüdisch-polnischen Wurzeln erstmals öffentlich zu Wort. Mascha Kaléko, geborene Engel, arbeitete seit 1924 im Arbeiter-Fürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands in Berlin Mitte: dort, wo sich heute im Umkreis der Ora-
nienburger Straße wieder jüdisches Leben angesiedelt hat.

„Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt / Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht“, das schreibt die Stenotypistin und „Tippse“, wie sich die witzig-melancholische Lyrikerin selbst bezeichnet. Das Besondere, das in Mascha Kalékos ­Gedichten Ausdruck gewinnt, sind die großen Themen wie Hoffnung und Liebe, Alltagsleben und Sonntagsexistenz, aber auch das Heilige und das Profane.

Präsent in der Weltstadt Berlin: Guardinis vorbildlose Mission

„Dem Beschluß des [preußischen] Landtags, an der hiesigen Universität eine Professur für katholische Weltanschauung einzurichten, ist durch die Berufung des Privatdozenten Dr. Romano Guardini Folge gegeben worden. Die neue Professur gehört etatsrechtlich der katholischen Fakultät der Universität Breslau an. Ihr Inhaber wird als ständiger Gast an der Berliner Universität tätig sein. Der ordentliche Professor Dr. Romano Guardini wird sein Amt im bevorstehenden Sommersemester antreten und ein Verzeichnis der von ihm zu haltenden Vorlesungen vorlegen.“, heißt es unter dem Datum vom 11. April 1923 in Guardinis blauer Personalakte. Tatsächlich ist zu bewundern, dass der Theologe, Philosoph und Seelsorger vor hundert Jahren ein vorbildloses Wagnis einging, als er sich auf den Weg zum geistig-politischen Brennpunkt des Landes aufmachte. Der Verfasser von Werken wie Vom Geist der Liturgie (1918) oder Liturgische Bildung (1923) stellte damit Weichen für die eigene theologische Existenz. Kurz gesagt: Guardini nahm die Auseinandersetzung mit den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ (Friedrich Schleiermacher) an einem Ort auf, der für ihn selbst bedrohlich wirkte: in Berlin. Der Priester und Professor wandte sich dabei nicht nur den „religiös Musikalischen“ zu, sondern fühlte sich auch für die „draußen vor der Kirchentür“ verantwortlich: „für Agnostiker, Zweifelnde und Verzweifelte, für Skeptiker und Ungläubige, ja auch für die vielen, bei denen das Wort Kirche kaum noch Gefühle, nicht einmal der Ablehnung erregt“ (Hans Maier).

Der Weg in die Hauptstadt erwies sich als schwierig: Der frisch habilitierte Bonner Privatdozent benötigte nämlich einen Waschkorb voller Papiergeld, um die Fahrkarte zu lösen. Die neue Stelle trat der Achtunddreißigjährige im schwersten Augenblick der Weimarer Republik an: als das Ruhgebiet besetzt, die Demokratie permanenten links- und rechtsextremistischen Angriffen ausgesetzt und die Hyperinflation scheinbar nicht mehr zu stoppen war. Die katastrophale Geldentwertung spiegelt sich in Details von Guardinis Personalakte, etwa in der Notiz, dem jungen Lehrstuhlinhaber solle „ein Vorschuss in Höhe von 3 Millionen Mark“ auf sein Gehalt gezahlt werden.

„Sie kommen auf einen sehr glatten Boden. Man ist überzeugt, dass sie in kurzer Zeit am Ende sein werden.“, notierte der junge Wissenschaftler eine Einschätzung aus dem Preußischen Kultusministerium. Denn die umstrittene Berufung eines Katholiken konnte Kultusminister Carl Heinrich Becker nur mit der eingangs zitierten List – nämlich getarnt als Breslauer Gastprofessur – gegenüber der Evangelisch-Theologischen und der Philosophischen Fakultät durchsetzen. Dass ein vitaler Katholizismus im Selbstverständnis der hauptstädtischen Intelligenzia nicht vorgesehen war, kommt in der Irritation zum Ausdruck, die mit Guardinis Berufung auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung verbunden war. Die Mission des Religionsphilosophen in der deutschen Metropole war vorbildlos. Sie wurde von lautstarken Protesten instrumentiert, aber auch von einfühlsamen Beobachtungen kommentiert. „Der Vortragende selbst ist eine schmale, bleiche Gestalt, die der schwarze Priesterrock umkleidet […] und man hat alles in allem bei längerer Berührung den Eindruck einer faszinierenden Persönlichkeit […] Er ist zweifelsohne wissenschaftlich ein ganzer Könner, einer der besten Vertreter, den die römische Kirche zu entsenden vermochte“, fasst ein evangelischer Theologe seine Beobachtungen in einem Dossier zusammen (Gaede, Archiv der Humboldt-Universität).

Auf Augenhöhe

Bald gelang es dem Gelehrten, seine Professur zu einer Institution zu machen. Mit seiner Antrittsvorlesung Vom Wesen katholischer Weltanschauung glückte ihm dabei ein Auftakt, den er sechzehn Jahre, die meiste Zeit unter Beobachtung, bis zu seiner erzwungenen Pensionierung durch die Nazis im Jahr 1939 durchhielt: Gemeinsam mit einem bunt zusammengesetzten Auditorium – neben Studierenden saßen Künstler, urbane Intellektuelle, Ordensschwestern, junge Leute aus der Jugendbewegung und agnostische Zeitkritiker in seinen Vorlesungen – übte er das ein, was ihm Max Scheler vor Beginn seiner Lehrtätigkeit als Schlüssel für seine Wirksamkeit mit auf den Weg gegeben hatte: die Welt mit christlichen Augen anzuschauen und anderen davon mitzuteilen. Guardini reagierte darauf, indem er seine Vorlesungen und Seminare zu Orten und Gelegenheiten des Weltanschauens, des Sehens und Verstehens entwickelte, um damit – wie Charles Taylor sagen würde – auf Lebensmöglichkeiten jenseits der „säkularen Option“ hinzuweisen.

Mit großem Lehrerfolg suchte der aus einer italienischen Kaufmannsfamilie stammende Guardini dabei das Gespräch mit Glaubensdenkern und -verächtern wie Sokrates, Dante, Pascal, Kierkegaard, Dostojewski, Hölderlin, Rilke und vor allem Nietzsche. „Das Kolleg läßt sich gut an.“, schreibt er Anfang Dezember 1923. „Ich habe etwa 200–250 in einem, 100 im andern, und sie hören zu. Ich spreche ganz positiv, vermeide alle Apologetik […] ich möchte eine geistige Atmosphäre schaffen, in der die Dinge richtiger stehen, Perspektiven und Maße und Eigengesicht von allem deutlicher sind; eben katholisch.“ („Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908–1962, herausgegeben von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Ostfildern 2008).

Es erscheint erstaunlich, dass das von den Nazis seit 1933 kontrollierte Reichswissenschaftsministerium lange Zeit stillhielt und Guardini gewähren ließ. Treffend spricht der evangelische Theologe und Dichter Albrecht Goes von einem „Fest im Abschied“. „Wie es Stern- und Entscheidungsstunden gibt, so gibt es die Stunde der Erinnerung an jenen Tag, als Guardini das berühmte ‚Mémorial‘ ‚FEUER‘, auslegte und in ihm diesen Kardinalsatz: ‚Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs – nicht der Philosophen und Gelehrten.‘ Das ist sehr wesentlich ins Leben eingegangen und hat es begleitet.“

Im Konflikt mit dem NS-Regime

Die Aufhebung des Lehrstuhls wurde vermutlich durch die deutsch-italienische Freundschaft hinausgezögert. Sie lag jedoch in der Luft, als der Religionsphilosoph nach einem Hinweis von Helmut Zenz in Alfred Bäumlers Festrede Fichte und wir am 27. Mai 1937 frontal von dem NS-Ideologen angegriffen wurde. Der seit 1933 an der Berliner Universität auf dem Lehrstuhl für politische Pädagogik tätige Bäumler, erklärte öffentlich: „Es ist ein letztes Wort, wenn Romano Guardini fortfährt: ‚Nicht was getan wird, ist das letzte, sondern was ist.‘ […] Wenn man ein Weltbild entwirft, in welchem Gesetz und Freiheit derart in Spannung zueinander steht, daß nur noch die Formel: Primat des Logos vor dem Ethos übrig bleibt, dann ist eines nicht mehr möglich: in dieses Weltbild zum Schlusse auch noch den heroischen Charakter einzuordnen.“

Bäumler spielt damit auf das Kapitel Primat des Logos vor dem Ethos aus Guardinis Erstlingsschrift Vom Geist der Liturgie an. Was hochschulpolitisch folgte, waren, wie die Personalakte des Lehrstuhlinhabers belegt, bürokratische Nadelstiche wie die Kürzung finanzieller Leistungen und die Aufforderung zur Rückzahlung „unzulässig“ gezahlter Beihilfen. Spannend anzuschauen ist schließlich die „Im Namen des Deutschen Volkes“ am 11. März 1939 ausgestellte Entlassungsurkunde für „den ordentlichen Professor Dr. Romano Guardini“. Ihr besonderer Charakter ist daran abzulesen, dass sie die – per Schreibautomat aufgebrachte – Unterschrift des „Führer(s) und Reichskanzler(s)“ Adolf Hitler trägt. Weiteres Gewicht erhält das Schriftstück, das verkündet, Guardini „auf seinen Antrag in den Ruhestand“ zu versetzen, durch die Signatur des preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring. Der überwachte und bedrängte Gelehrte verbrachte danach noch vier Jahre in Berlin und fühlte sich durch den Ausschluss aus der Reichsschrifttums-Kammer publizistisch mundtot gemacht; er übersiedelte schließlich zu seinem Freund und Weggefährten Josef Weiger ins Pfarrhaus nach Mooshausen.

Guardini zur Weißen Rose und zum Widerstand im NS-Staat

Dort wurde der Nazi-Gegner 1945, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, von Otl Aicher, dem Freund von Hans und Sophie Scholl, der später mit Inge Scholl verheiratet war, aufgesucht, um ihn für Ansprachen über christliche Weltanschauung zu gewinnen. Aus dieser Einladung erwuchsen weitere Reden, Ansprachen und Publikationen, in denen ­Guardini zur Weißen Rose, zum Widerstand im Dritten Reich sowie zu Fragen von „Freiheit und Verantwortung“ Stellung nahm. Bereits 1946 holte ihn dann der von der französischen Verwaltung eingesetzte Carlo Schmidt an die Universität Tübingen, wo er seine Lehrtätigkeit unter dem bestens eingeführten Label „Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung“ fortsetze. Wie hier nur anzudeuten, machte der mit dem Totalitarismus des NS-Staats bestens Vertraute bei seinen Analysen frühere Überlegungen der Berliner Zeit fruchtbar: etwa in Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik (1945) – einem Text, vom dem Hans Maier im instruktiven Vorwort zur Neuausgabe schreibt: „Der Text ist ein Versuch, das Phänomen Nationalsozialismus religionsphilosophisch zu erschließen – wohl der einzige, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit unternommen wurde.“ (Vgl. 1945. Worte zur Neuorientierung, herausgegeben von Alfons Knoll unter Mitarbeit von Max A. Oberdorfer, mit einem Vorwort von Hans Maier, Ostfildern/Paderborn 2015).

Sprach- und handlungsfähig in spätmoderner Gesellschaft

Wie aber steht es mit der Frage: Ist Guardini eine Inspiration für Theologie und Kirche, die Christinnen und Christen dazu verhilft, in spätmoderner Gesellschaft sprachfähig zu sein? Nachdem zunächst sein abruptes Vergessen eingesetzt hatte, scheint sich heute zu bewahrheiten, was der zu Melancholie und Schwermut neigende Theologe bereits im Ende der Neuzeit (1956) formuliert hatte: dass nach einer „Zeit der Entfremdung“, in der ein denkerischer Ansatz „dogmatisch“ geworden sei, erst „eine spätere Epoche aus ihren neuen Voraussetzungen heraus ein neues Verhältnis zu Mensch und Werk“ gewinnen könne. Eine Wiederentdeckung des Religionsphilosophen, so scheint mir, ist engstens mit der weltgeschichtlichen Zäsur von 1989 verbunden. Sie riss das von Guardini geliebte und gefürchtete Berlin aus dem Windschatten der Weltgeschichte heraus und machte es wieder zu einer Metropole mit globaler Ausstrahlung. Somit kommt der – durch Initiative der Katholischen Studentengemeinde, der Katholischen Akademie und der Guardini Stiftung – 1989ff. wiederbelebten Tradition und dem „Guardini“-Lehrstuhl für den Katholizismus in Deutschland eine Leuchtturm-Funktion zu!

Bald wird weniger als die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung einer Kirche angehören. Guardinis schon etwas zerschlissene Personalakte erinnert daran, dass der junge Theologe Großes wagte, um auf Augenhöhe mit seiner Gegenwart zu gelangen. Und Eugen Biser, der in den 1990er Jahren mit den „Guardini Lectures“ als Erster an eine 50 Jahre unterdrückte Tradition anknüpften konnte, urteilte über seinen Vorläufer: Dieser sei nicht bloß durch die von ihm vermittelten Einsichten wirksam geworden, sondern mehr noch durch den von seiner Person ausgehenden „therapeutischen Effekt“. 

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