Das letzte Lebenszeichen – ein Brief
„München-Stadelheim, den 5. August 1943
Lieber Jonny!
Vorhin habe ich von Deiner Begnadigung erfahren. Gratuliere! Mein Gesuch ist allerdings abgelehnt. Ergo geht‘s dahin. Nimm‘s net tragisch. Du bist ja durch. Das ist schon viel wert. Ich habe soeben die Sakramente empfangen und bin jetzt ganz gefasst.
Wenn Du etwas für mich tun willst, bete ein paar Vaterunser.
Leb wohl, Walter“
Dieser Brief an seinen Freund Hans Haberl ist das letzte bekannte Lebenszeugnis des Münchner Jugendlichen Walter Klingenbeck, der, vom Volksgerichtshof wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und Schwarzsendens“ zum Tode verurteilt, am späten Nachmittag desselben Tages, dem 5. August 1943, mit dem Fallbeil hingerichtet wurde. „Der Hinrichtungsvorgang dauerte vom Verlassen der Zelle an gerechnet 1 Minute 4 Sekunden, von der Übergabe an den Scharfrichter bis zum Falle des Beiles 12 Sekunden. Zwischenfälle oder sonstige Vorkommnisse von Bedeutung sind nicht zu berichten“, heißt es im Vollstreckungsakt. Walter Klingenbeck wurde wegen seines Widerstands gegen das NS-Regime getötet. Er wurde 19 Jahre alt.
Die Verankerung im katholischen Milieu war eine wichtige Voraussetzung für Klingenbecks Handeln, aber alleine nicht auslösend für den Widerstand. Dazu kam sein wacher, rebellischer Geist und die Gegeninformation aus der für ihn technisch wie informatorisch so faszinierenden Welt des Radios, und nicht zuletzt ein Gespür für den tiefen historischen Einschnitt, den der am 22. Juni 1941 erfolgte deutsche Angriff auf die Sowjetunion bedeutete.
Walter Klingenbeck wurde am 30. März 1924 als Sohn eines Straßenbahnschaffners geboren. Die Familie lebte in der Amalienstraße in einfachen Verhältnissen und war tief katholisch. Der Vater ministrierte jeden Morgen vor Dienstantritt in der Gemeinde Sankt Ludwig und war Mitglied der von Pater Rupert Mayer geleiteten Männerkongregation. Zweifellos immunisierte das katholische Milieu Klingenbeck gegen den Nationalsozialismus. Die Familie war, nach Aussagen seiner Schwester Anneliese Miller, im Dritten Reich „immer gegen alles“.
Mit dem Vater hörte er schon früh Sendungen von Radio Vatikan. Er war Mitglied der katholischen Jungschar, die in der Pfarrgemeinde Sankt Ludwig unter der Leitung des Kaplans Georg Handwerker stand, der immer wieder Schwierigkeiten mit der Gestapo hatte. 1936 wurde Klingenbecks Jungschargruppe aufgelöst und dem Jungvolk der Hitlerjugend eingegliedert. Vor der Gestapo sagte er später aus, er sei immer noch erbittert darüber. Er habe sich schon als Elfjähriger mit den Bestimmungen des Reichskonkordats von 1933 und den zahlreichen Verstößen dagegen beschäftigt. Ehrlicher wäre es gewesen, wenn der Staat den Vertrag gekündigt hätte, statt ihn ständig zu verletzen, sagte er im Verhör. Da spricht das von Kompromisszwängen ungetrübte, klare jugendliche Gerechtigkeitsbedürfnis, das ihm zueigen war.
Von offizieller kirchlicher Seite wurden die Missachtungen des Konkordats und christlicher Werte 1937 in der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ angeprangert, an deren Entstehung Kardinal Faulhaber maßgeblichen Anteil hatte. Doch dieser Vorstoß blieb im Rahmen der Verteidigung des kirchlichen Lebensraums, wie sie für den Katholizismus unter der NS-Diktatur charakteristisch war. Klingenbeck ging einen Schritt weiter, den zum politischen Widerstand.
Radio und Politik
Er war ein politischer Kopf, machte sich eigene Gedanken und hörte intensiv sogenannte Feindsender. Der Rundfunk war seinerzeit, als das Fernsehen noch im Versuchsstadium steckte, das modernste Medium, und er übte auf Klingenbeck eine starke Faszination aus. Er war nach einer kaufmännischen Ausbildung als Anlernschaltmechaniker in die Firma Rohde und Schwarz und damit in die Welt der Technik eingetreten. Und er war, wie auch seine Freunde, ein begeisterter Radiobastler. Der Rundfunk war aber auch das wichtigste alternative Medium in einer gleichgeschalteten Informationslandschaft. Besonders seit Kriegsbeginn hatte der Propagandakampf im Äther eingesetzt. Eine ganze Reihe deutschsprachiger Sender, von „Gustav Siegfried 1“ und dem „Sender der SA-Fronde“ bis zum „Christlichen Sender“ und dem „Sender der Europäischen Revolution“ und vor allem dem deutschsprachigen Programm der BBC, versuchte die Loyalität der Deutschen zur NS-Herrschaft aufzuweichen.
Die nationalsozialistischen Machthaber waren sich der Gefahr bewusst und reagierten darauf am 1. September 1939 mit der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“. Sie trat 7. September in Kraft und drohte für das absichtliche Abhören ausländischer Sender Zuchthausstrafen an, im Falle der Weiterverbreitung der empfangenen Nachrichten konnte sogar die Todesstrafe verhängt werden. In der Präambel der Verordnung hieß es: „Jedes Wort, das der Gegner herübersendet, ist selbstverständlich verlogen und dazu bestimmt, dem deutschen Volke Schaden zuzufügen.“
Walter Klingenbeck sah das anders und ließ sich durch das Verbot nicht davon abhalten, weiter Radio Vatikan zu hören. Dabei stieß er auf zahlreiche weitere Sender, von denen einige bereits angeführt wurden.
Gruppenbildung und Widerstandsaktivitäten
Ungefähr seit dem Frühjahr 1941 begann Klingenbeck, seinem Freund Hans Haberl von den abgehörten Sendungen zu erzählen. Auch Haberl stammte aus einer streng katholischen Familie. Er war Hochfrequenztechniker und bewohnte zusammen mit dem Flugzeugmotorenschlosserlehrling Erwin Eidel ein Zimmer im Lehrlingswohnheim der Salesianer. Beide waren 1941 dem Katholischen Gesellenverein beigetreten, auf dessen Versammlungen die damals verfügte Entfernung der Kruzifixe aus den Klassenzimmern heftige Kritik hervorgerufen hatte.
Es ging allerdings in den Gesprächen nicht nur um kirchliche Anliegen. Gerade der von Klingenbeck häufig gehörte Sender „Gustav Siegfried 1“, der vorgab, den Standpunkt des „aufrechten deutschen Offiziers“ zu vertreten, brachte zahlreiche, meist erfundene Gerüchte über sexuelle Ausschweifungen und Verfehlungen von NS-Prominenten und SS-Leuten, die bei Klingenbeck auf kein geringes Interesse stießen und die er auch recht unvorsichtig weitererzählte. Ob Klingenbeck alles glaubte, was er da hörte, kann man bezweifeln, weil er selbst begann, das Regime diskreditierende Gerüchte zu erfinden, die er in Umlauf bringen wollte. Vor allem ging es dabei um Anknüpfungen an ohnehin kursierendes Gerede über eine Beziehung zwischen Propagandaminister Goebbels und der 1940 verstorbenen Schauspielerin La Jana. Auch die – unter anderem von Auslandsendern – verbreitete Behauptung, die Abstürze der berühmten Militärflieger Generaloberst Ernst Udet und Oberst Werner Mölders im November 1941 seien von NSDAP-Stellen absichtlich herbeigeführt worden, waren Gesprächsgegenstand.
Aber auch solcherart abträgliche Äußerungen gegen das NS-Regime und seine Repräsentanten begründeten noch keinen politischen Widerstand. In der Regel wurde so etwas als „Heimtücke“ und nicht als „Hochverrat“ bestraft.
Der politische Kern von Klingenbecks antinazistischer Einstellung war die Überzeugung, Hitler könne den von ihm selbst absichtsvoll herbeigeführten Krieg nicht gewinnen, sondern nur verlängern. Es gehe deshalb darum, den unvermeidlichen Sturz des Regimes zu beschleunigen und so die Leben vieler Soldaten, eigener wie feindlicher, zu retten. In der Sprache des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof hört sich das so an: Klingenbeck vertrat „in Übereinstimmung mit der feindlichen Kriegspropaganda den Standpunkt, dass Deutschland den Krieg verlieren und der Sieg der Feindmächte zu einer Besserung der Verhältnisse im Reich führen werde, da sich der Krieg nicht gegen das deutsche Volk, sondern nur gegen seine Führung richte.“ Klingenbeck setzte dabei vor allem auf einen Sieg der Westmächte.
Im Sommer 1941 freundete er sich mit Daniel von Recklinghausen an, der als Praktikant bei Rohde und Schwarz eingetreten war. Auch er war ein leidenschaftlicher Radio- und Hochfrequenztechniker. Auch den katholischen Hintergrund teilte er mit Klingenbeck, allerdings bei weniger ausgeprägter Bindung an das Milieu. Vor allem die Radioleidenschaft und die Gleichaltrigkeit brachten die beiden bei Rohde und Schwarz zueinander. Und ein besonderer Freund des Dritten Reichs war von Recklinghausen, der eine jüdische Großmutter hatte und in den USA geboren und die ersten Jahre seines Lebens aufgewachsen war, auch nicht.
Das Hören von Feindsendern genügte Klingenbeck bald nicht mehr, ihn drängte es zum Handeln. Den Anstoß zu einer ersten Aktion gab die von der BBC initiierte „V-Kampagne“. Sie richtete sich an die Bevölkerung der von der deutschen Wehrmacht besetzten westeuropäischen Länder. Ab Januar 1941 wurde sie über die britischen Sender aufgefordert, wo immer es ging, den Buchstaben „V“ anzubringen. Er stand für „Victoire“ oder „Victory“ und sollte die Siegesgewissheit der Westalliierten zum Ausdruck bringen. Der deutsche Dienst der BBC erhielt die auf einer Pauke gespielten ersten vier Noten von Beethovens fünfter Symphonie als Kennmarke, die dem „V“ im Morsealphabet entsprachen. Die Kampagne führte zu einer Art Kampf um das „V“, da die Goebbels‘sche Propaganda versuchte, das Symbol für sich zu reklamieren. Der bekannte Rundfunkkommentator Hans Fritzsche deutete es in einer Sendung am 17. Juli 1941 als Zeichen für den angeblichen alten deutschen Siegesruf „Viktoria“ um.
Klingenbeck jedenfalls machte sich gemeinsam mit Daniel von Recklinghausen an einem Samstagabend Ende August/Anfang September auf den Weg in den Stadtteil Bogenhausen, wo er an etwa 40 Stellen mit Pinsel und Lackfarbe V-Zeichen malte, während von Recklinghausen Wache stand. Das „V“ scheint indes nicht als allzu provokant wahrgenommen worden zu sein, denn noch Ende Januar, als ein Gestapo-Beamter die Strecke mit von Recklinghausen abging, konnte das Zeichen an vielen Stellen fotografiert werden.
Klingenbeck hatte aber noch weitere Pläne. Er wollte eigene Flugblätter produzieren, die unter dem – ebenfalls von der BBC verbreiteten – Motto „Hitler kann den Krieg nie gewinnen, er kann ihn nur verlängern“ stehen sollten. Er beschaffte sich dazu vom Bruder seines künftigen Schwagers, einem Frontsoldaten, Fotos gefallener deutscher Soldaten, die zur Illustration verwendet werden sollten. In einer weiteren Flugschrift wollte Klingenbeck das selbst erfundene Gerücht verbreiten, Joseph Goebbels habe die Tänzerin La Jana durch seine Nachstellungen in den Selbstmord getrieben. Im Gespräch mit Haberl entstand die Idee, die Flugblätter mittels eines ferngesteuerten Flugzeugs zu verbreiten.
All diese Pläne blieben unverwirklicht. Weiter gedieh hingegen die Idee einen eigenen Schwarzsender zu errichten, in dem die abgehörten Meldungen der ausländischen Sender weiterverbreitet werden sollten.
Klingenbeck wollte ihn nach der im Mai 1940 gnadenlos niederländischen Stadt Rotterdam nennen oder vielleicht auch „Sender der Freiheit“ oder „GS 8“. Um eine Anpeilung durch die Polizei zu vermeiden, sollte von drei Stationen aus gesendet werden. Klingenbeck und Haberl bauten hierzu einen Kurz- und zwei Mittelwellensender. Gemeinsam mit von Recklinghausen machten sie in der zweiten Jahreshälfte 1941 diverse Sendeversuche. Dass ihr Unterfangen gefährlich war, war den Jugendlichen bewusst. Klingenbeck erzählte seinen Freunden, er sei bereit, bei einer eventuellen Festnahme Gestapobeamte „umzulegen“.
Das Ende
Überhaupt hatte er eine allzu lockere Zunge. Am 10. Januar 1942 ging bei der Gestapo München eine Denunziation von Frau Klara Dietmayer ein, in deren Radiogeschäft sich Klingenbeck an einigen Tagen in den Abendstunden etwas dazuverdiente. Die Geschäftseigentümerin beschuldigte ihn zahlreicher staatsfeindlicher Äußerungen, außerdem habe er sich einem Bekannten gegenüber mit der V-Aktion großgetan.
Am 26. Januar 1942 wurde Walter Klingenbeck festgenommen. Bei der Durchsuchung der elterlichen Wohnung wurden Radiobauteile gefunden, die ihn in den Verdacht des Schwarzsendens brachten. Klingenbeck versuchte sich zunächst darauf hinauszureden, er habe die V-Zeichen im Sinne Fritzsches als Symbole für den deutschen Sieg verstanden. Damit fand er allerdings bei dem vernehmenden Kriminalkommissar Krüger keinen Glauben, zumal er auch aus seiner katholischen Einstellung keinen Hehl machte. Die Gestapo nahm schließlich auch Daniel von Recklinghausen sowie Haberl und dessen Wohngenossen Eidel fest. Den erfahrenen Ermittlern waren die Jugendlichen nicht gewachsen, zumal ihnen die trügerische Hoffnung vermittelt wurde, dass sie mit vollständigen Geständnissen eine mildere Behandlung erreichen könnten.
Das war falsch, und wahrscheinlich ganz einfach gelogen. Am 24. September 1942 verhandelte der zweite Senat des Volksgerichtshofes in München über den Fall Klingenbeck und andere. Die Verhandlung dauerte einen Tag. Geführt wurde sie als Senatsvorsitzendem vom Vizepräsident des Volksgerichtshofs Karl Engert, einem fanatischen Nationalsozialisten der ersten Stunde. Die Angeklagten – so hat es Erwin Eidel erzählt, der eher eine Randfigur des Geschehens war – wurden von ihm angebrüllt und als Rotzjungen beschimpft. Mit Ausnahme von Klingenbeck hatten sie Lorenz Roder als Verteidiger, der 1924 Adolf Hitler in seinem Hochverratsprozess wegen des Putschversuches vom 9. November 1923 verteidigt hatte. Die Wirkungsmöglichkeiten der Verteidigung beim Volksgerichtshof waren allerdings sehr gering. So blieb auch Roder nicht viel mehr übrig als die Vorwürfe gegen seine Mandanten zu relativieren und an die Großzügigkeit des Gerichts zu appellieren. „Das Reich ist groß und mächtig, es kann auch Gerechtigkeit üben und sollte die kleinen Leute nur gering bestrafen“, lautete sein Schlusswort.
Ankläger und Richter am Volksgerichtshof müssten „in erster Linie Politiker und dann erst Richter“ sein, hatte indes der Senatsvorsitzende Engert schon 1939 in einem Aufsatz über „Stellung und Aufgaben des Volksgerichtshofes“ geschrieben. Nach dieser Devise verhielt sich der Vater zweier Töchter auch, als er über die jugendlichen Widerständler zu urteilen hatte. Klingenbeck, von Recklinghausen und Haberl wurden wegen landesverräterischer Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und Schwarzsendens zum Tode verurteilt. Eidel erhielt wegen Nichtanzeige eines hochverräterischen Unternehmens, Abhörens ausländischer Rundfunksender und Beihilfe zur Schwarzsendung acht Jahre Zuchthaus. In der Begründung für die Todesurteile hieß es, die Aktivitäten der Angeklagten hätten dazu beigetragen, „die innere Front zu lähmen“. „Wer in der Notzeit des Krieges in dieser verbrecherischen Weise seinem Volk in den Rücken fällt, ist ein Verräter und hat keinen Platz mehr in der deutschen Volksgemeinschaft.“
Nun begann der Begnadigungswettlauf, der allerdings in der politischen Justiz des Dritten Reichs kaum etwas bewirkte.
Verzweifelte Gesuche wurden eingereicht, mit denen die Bürokratie in der ihr eigenen Routine verfuhr. Nicht zuletzt mussten Stellungnahmen eingeholt werden. Die Hitlerjugend beziehungsweise die Reichsjugendführung sprachen sich für die Hinrichtung der Delinquenten aus. „In einer Zeit, wo schon siebzehnjährige junge Deutsche Tag und Nacht ihr Leben für den Bestand unseres Volkes einsetzen, haben Staatsfeinde, deren verbrecherische Handlungen darauf hinzielen, Sinn und Zweck dieses Einsatzes zu zerstören, keine Gnade verdient“, schrieb Stabsführer Möckel. Die Münchner Gestapo war da gnädiger, vor allem im Hinblick auf Haberl, der nicht dem Typ des Staatsfeindes entspreche. Bei von Recklinghausen, der seine Tat bereut habe, stellte man auch eine Begnadigung anheim. Dass Lorenz Roder sich einen Monat nach dem offiziellen Begnadigungsgesuch an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof vom September 1942 direkt an die Kanzlei des Führers und dort persönlich an Hitlers Adjutanten Julius Schaub wandte, um für Haberl und von Recklinghausen einzutreten, hat möglicherweise das Blatt gewendet.
Elf Monate verbrachten die drei Todeskandidaten im Gefängnis Stadelheim, bis am 2. August 1943 Daniel von Recklinghausen und Hans Haberl erfuhren, dass sie zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt worden waren. Klingenbeck hingegen wurde drei Tage später, am 5. August, vormittags um 11 Uhr mitgeteilt, dass seine Hinrichtung auf denselben Tag um 17 Uhr anberaumt worden war.
Klingenbecks Totengottesdienst in Sankt Ludwig verlief in äußerster Zurückhaltung, aber auf sein Sterbebildchen hatte die Familie eine Botschaft drucken lassen, die nur als klare Absage an das Urteil des Volksgerichtshofs gelesen werden kann: „Walter Klingenbeck, der als 19-Jähriger am 5. August 1943 seine reine, tapfere Seele in die Hände seines Schöpfers zurückgeben durfte, bittet um unser Gebet.“
Kontexte des Widerstandes
Dafür, dass er und seine Freunde gerade 1941 aktiv wurden, spielte die Konstellation von Lebensalter und historischer Entwicklung eine entscheidende Rolle. Am 22. Juni 1941 hatte der Vernichtungskrieg Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion begonnen. Trotz der Anfangserfolge der Wehrmacht war dieser Krieg anders als die vorhergegangenen Blitzfeldzüge. Allein in den letzten Junitagen fielen 25.000 deutsche Soldaten, mehr als halb so viele wie während des gesamten Frankreichfeldzuges, im Juli stieg die Zahl auf über 60.000 an. Die Zeitungen füllten sich mit Todesanzeigen. Der Russlandfeldzug wurde von den meisten Deutschen keineswegs mit Begeisterung aufgenommen, der Zweifrontenkrieg und die Rückschläge im Herbst wurden mit Sorge betrachtet. Nicht nur im katholischen Milieu kam dazu die Wirkung der Predigten über die „Euthanasie“-Morde des Münsteraner Kardinals von Galen vom Juli/August 1941, die auch Klingenbeck kannte.
Es ist daher wohl nicht ganz zufällig, dass nahezu zeitgleich in Hamburg und Wien ganz ähnliche jugendliche Widerstandsgruppen wie entstanden wie die um Klingenbeck in München. In Hamburg hieß der führende Kopf Helmuth Hübener, der drei Freunde aus seiner Mormonengemeinde aktivierte. Hübener, ein Verwaltungslehrling und ähnlich aufgeweckt wie Klingenbeck, hörte wie dieser Auslandssender, und verteilte ab August 1941 Flugblätter. Er wurde am 11. August vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt – ebenfalls unter dem Senatsvorsitzenden Engert – und am 27. Oktober 1942 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Seine drei Freunde erhielten Haftstrafen.
In Wien hörte der Gymnasiast Josef Landgraf schon seit Kriegsbeginn Auslandssender und produzierte, ebenfalls zusammen mit drei Freunden, ab September 1941 Flugblätter. Auch diese Gruppe hatte einen katholischen Hintergrund und setzte auf den Sieg der Westmächte, und sie griff, wie Klingenbeck, die V-Propaganda auf: „Die V-Armee hat lediglich die Befreiung von Hitler und seinem Krieg zum Ziel“, hieß es in einer ihrer Flugschriften. Landgraf und sein Freund Anton Brunner wurden, nachdem sie denunziert worden waren, am 23. August 1942 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, dann aber zu Haftstrafen begnadigt. Auch die anderen beiden Beteiligten mussten ins Gefängnis.
Man darf nicht verschweigen, dass die Kirche seinerzeit ganz andere Positionen einnahm. Nicht nur viele Bischöfe, auch ein erheblicher, wahrscheinlich sogar der größte Teil der Gemeindepfarrer, Ordensleute und einfachen Gläubigen standen positiv zum Krieg gegen die Sowjetunion, der als eine Art Kreuzzug gegen den Bolschewismus verstanden wurde. Walter Klingenbeck indes befand sich mit seiner schlichten Überzeugung, der Krieg sei Hitlers Werk, er sei nicht zu gewinnen, und es gehe darum, durch Widerstandsarbeit etwas zum schnelleren Sturz des Regimes beizutragen, um die Zahl der Opfer zu begrenzen, sicherlich in größerer Nähe zu Wahrheit und Humanität.
Ist Klingenbeck ein „vergessener Widerstandskämpfer“? Ja und nein. Zwischen der Ludwigskirche und der Bayerischen Staatsbibliothek gibt es seit 1998 den Walter-Klingenbeck-Weg, der die Ludwigs- und die Kaulbachstraße verbindet. Er verdankt sich einer Initiative von Klaus Bäumler, dem seinerzeitigen Vorsitzenden des Bezirksausschusses Max-Vorstadt. In Taufkirchen gibt es die Walter-Klingenbeck-Realschule, in der Geschichtsrubrik der Website von Sankt Ludwig firmiert Klingenbeck direkt neben Romano Guardini, und überhaupt findet sich im Internet allerhand über ihn.
Wirklich unvergessen sind die Widerständler aber nur dann, wenn sie nicht von ihrer Zeit isoliert gesehen, sondern wenn ihre Anliegen ernst genommen werden. Wir sollten also, wenn wir an Walter Klingenbeck denken, auch an Rotterdam denken, und überhaupt an den verbrecherischen Krieg, dessen Sinn- und Aussichtslosigkeit der jugendliche Klingenbeck im Gegensatz zu vielen Erwachsenen frühzeitig erkannt hatte.