In nicht mal mehr vier Monaten wählt Thüringen einen neuen Landtag. Dass der Wahlkampf beginnt, hat sich schon früh abgezeichnet: Während die Brandenburger Parteien noch ihre Spitzenkandidat:innen bestimmten, hingen in Thüringen schon längst Wahlplakate. Und in Waltershausen setzten unbekannte Personen das Haus des SPD-Politikers Michael Müller in Brand, in Bleicherode wurde das Büro der Landtagspräsidentin Birgit Pommer mit Hakenkreuzen beschmiert, in Suhl Parteibüros der SPD angegriffen. Vor dem Landtag in Erfurt wurde im April ein Journalist geschlagen und beleidigt. Spätestens die brutalen Überfälle auf den sächsischen Politiker Matthias Ecke und die Berliner Senatorin Franziska Giffey haben einer breiten Öffentlichkeit gezeigt, was Politikmachen in vielen Teilen des Landes bedeutet. Die Organisation Ezra dokumentiert seit Jahren rechtsextreme Gewalt in Thüringen. In ihrer Chronik kann man nachvollziehen, wie sich diese Vorfälle seit dem Beginn des Superwahljahrs zuspitzen.
Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer spricht von „Bedrohungsallianzen“, wenn rechtsextreme Akteure Gewalttaten und Äußerungen in Landesparlamenten paaren, um kritische Organisationen einzuschüchtern, zu diskreditieren und schlussendlich institutionell abzuschaffen. Ein Beispiel: Ein AfD-Politiker wettert im Landtag gegen ein weltoffenes Musikfestival und ermutigt damit Gewalt-
täter, Morddrohungen an die Intendanten des Festivals zu versenden. So legitimieren sich die Akteure der Bedrohungsallianz gegenseitig und
die Lage eskaliert.
Szenario 1: Die Macht der Landtagspräsidentin
Ich bin eingeladen worden, um aus dem Blickwinkel des Thüringen-Projekts zu Herausforderungen für Verfassung und Demokratie zu sprechen. Das Thüringen-Projekt fragt: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn eine autoritär-populistische Partei staatliche Machtmittel in die Hand bekommt? Was passiert, wenn in Landratsämtern und Bürgermeisterbüros, in Landtagen und Ministerien flächendeckend Leute sitzen, die mit Ängsten Politik machen, die Grenzen des Sag- und Machbaren verschieben und die Demokratie untergraben? Wie könnten und wie würden diese Leute die Spielregeln ändern, um ihr eigenes Abgewähltwerden unmöglich zu machen?
Bevor ich das Thüringen-Projekt und unser Konzept von zivilem Verfassungsschutz vorstelle, möchte ich Sie in ein Szenario mitnehmen, in den September dieses Jahres. Nehmen wir an, die Landtagswahlen in Thüringen (und Sachsen) sind gerade vorbei – und der größte Schreck ist ausgeblieben. Die AfD hat 35 % der Sitze im Landtag gewonnen und ist klarer Wahlsieger, von einer Chance auf Regierungsbeteiligung jedoch weit entfernt. Die CDU steht noch und irgendwie raufen sich die verbleibenden demokratischen Parteien zusammen, ob in einer Koalition oder einer weiteren Minderheitsregierung. Björn Höcke hat trotzdem allen Grund zum Lachen, denn das ausgegebene Wahlziel hat die AfD erreicht: Sie ist nun eine Sperrminorität im Landtag, kann der neuen Landesregierung das Leben zur Hölle machen und ganz legale Anschläge auf den Rechtsstaat planen.
Nehmen wir an, der neue Landtag ist gewählt. Die Stimmen sind ausgezählt, das Ergebnis amtlich festgestellt. Binnen 30 Tagen muss der neue Landtag zusammentreten. Das erste, was er dann in seiner ersten Sitzung macht, ist eine neue Präsident:in zu wählen. Erst damit ist der Landtag tatsächlich handlungsfähig. Traditionell besetzt die größte Fraktion das Amt der Parlamentspräsident:in – in unserem Gedankenspiel also die AfD. Die kodifizierte Form dieser Tradition – § 2 Abs. 2 GO ThürLTages – beinhaltet zunächst nur ein Vorschlagsrecht der größten Fraktion für dieses Amt. Gewählt werden muss die Präsidentin dann von allen Mitgliedern des Landtages und dabei die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten. Diese Stimmen können ihr verweigert werden.
Es ist in der Vergangenheit durchaus vorgekommen, dass sich die demokratischen Mitglieder eines Parlamentes weigern, ein Mitglied der AfD in das Präsidium eines deutschen Parlamentes zu wählen. Sie können – so hat das BVerfG in einer diesbezüglichen Entscheidung deutlich gemacht – auch nicht zu einer solchen Wahl gezwungen werden. Der Grundsatz des freien Mandats steht dem entgegen.
Allerdings – die Landtagspräsident:in muss gewählt sein, damit sich das Parlament konstituieren kann. Ohne Präsident:in kann weder die Legislative noch die Exekutive ihre Arbeit aufnehmen. Würden sich die anderen Fraktionen des Parlamentes aufgrund vermeintlicher unüberbrückbarer politischer Differenzen nicht auf einen gemeinsamen anderen Kandidat:in einigen können, den sie – so wird es zumindest dieser Tage in Erfurt diskutiert – nach dem ersten gescheiterten Wahldurchgang eines AfD-Kandidat:in aufstellen könnten, erscheint die Wahl einer AfD-Landtagspräsident:in nicht mehr ganz unrealistisch. Dies gilt auch deshalb, weil dem Amt der Landtagspräsident:in gerne lediglich Symbolwert zugesprochen wird.
Was aber hätte die Wahl einer AfD-Landtagspräsidentin zur Folge? Nun, zunächst würde die Landtagspräsidentin die Wahl des Ministerpräsidenten leiten und auch feststellen, wer gewählt ist. Kommt es zum dritten Wahlgang und gibt es nur ein:e Kandidat:in, ist die Thüringer Verfassung nicht ganz eindeutig, unter welchen Bedingungen ein Ministerpräsident eigentlich gewählt ist. Laut Art. 70 Abs. 3 ThürVerf ist dann gewählt, wer „die meisten Stimmen hat“. Kann das auch bei mehr Nein- als Ja-Stimmen der Fall sein? Würde sogar eine einzige Ja-Stimme reichen? Fest steht: Die Landtagspräsidentin ist diejenige, die das Wahlergebnis feststellt und also für den genannten Fall zunächst die Auslegungshoheit innehat. Der Verfassungsgerichtshof könnte erst im Nachhinein korrigieren.
Auch wenn die Wahl des Ministerpräsidenten problemlos vonstatten gehen sollte, wird die Landtagspräsidentin künftig den Parlamentsalltag prägen. Sie leitet nicht nur die Verhandlungen und erteilt Ordnungsrufe. Sie steht als Parlamentspräsident:in auch an der Spitze der Parlamentsverwaltung. Dieser Verwaltungsapparat muss neutral und unpolitisch und allen Abgeordneten zu Diensten sein, damit diese ihre Aufgaben erfüllen können. Sie ist verantwortlich dafür, dass das Parlament als Ort der kollektiv verbindlichen Entscheidungsfindung funktioniert. Dass also die Demokratie funktioniert. Was passiert aber nun, wenn Konventionen und Gepflogenheiten, die vorher nie jemand als politisch wahrgenommen hat, zur Spielwiese politischer Agenden werden?
Die Parlamentspräsident:in kann den Direktor des Landtags, quasi den Verwaltungschef, ohne Angabe von Gründen austauschen und mit einer parteinahen Person besetzen. Die Bedeutung eines neutralen Landtagsdirektors für den parlamentarischen Betrieb ist groß: Die Verwaltung verteilt die Vorlagen, über die die Abgeordneten beraten und beschließen, etwa Gesetzesentwürfe. Sie stellt die ganze IT bereit. Bisher muss sich kein Abgeordneter fragen, wer da in der Verwaltung seine dienstlichen Emails mitlesen kann. Bisher konnten die Parlamentarier darauf vertrauen, dass der Wissenschaftliche Dienst ihnen unabhängig und unverfälscht zuarbeitet. Wie verändert sich das politische Klima und die Handlungsfähigkeit einer parlamentarischen Demokratie, wenn dieses Vertrauen nicht mehr begründet ist?
Die Landtagspräsident:in ist es auch, die in Thüringen die Gesetze ausfertigt und verkündet – bisher eine reine Formalität. Das hatte man in Polen auch gedacht, bis die autoritär-populistische PiS-Regierung plötzlich beschloss, Urteile des Verfassungsgerichts, die ihr nicht passten, eben nicht im Amtsblatt zu verkünden. Eine Formalität, aber eine, ohne die das, was da verkündet werden muss, nicht zu geltendem Recht wird.
Die Gestalt des autoritären Populismus
Der autoritäre Populismus ist ein globales Phänomen. Auf sämtlichen Kontinenten ist er zu finden. Viele Demokratien sind in der einen oder anderen Form von ihm befallen. In manchen Ländern – z. B. Ungarn, Indien, Italien, Venezuela, Türkei – ist er an der Regierung. In anderen – z. B. Polen, USA, Brasilien – war er an der Regierung, ist aber, jedenfalls vorläufig, wieder abgewählt worden. In wieder anderen – Deutschland, Frankreich, Spanien – entfaltet er seine Wirkung (noch) aus der Opposition heraus. Seine Gestalt ist im Detail so unterschiedlich wie die jeweiligen Verfassungsordnungen, von denen er sich nährt, aber doch gekennzeichnet von einer gemeinsamen Strategie: Die Institutionen der liberalen Verfassung zur Affirmation ihrer populistischen Erzählung und zu ihrer Immunisierung gegenüber öffentlicher Kritik, rechtsstaatlicher Kontrolle und demokratischem Wettbewerb, kurz: zur Errichtung eines autoritären Regimes zu missbrauchen.
Wir bezeichnen also Parteien als autoritär-populistisch, die die Erzählung vom naturwüchsigen, wahren „Volk“ im Gegensatz zu „korrupten Eliten“ einsetzen, um die pluralistische Demokratie zu delegitimieren und ein autoritäres Regime zu errichten. Ein klares Beispiel für eine solche Partei ist die AfD.
Die Verfassung ist insoweit für den autoritären Populismus nützlich, als sie ihm Deckung bietet, hinter der er den Mangel an Begründung für seine Setzungen verstecken kann. Ihm ist dann sein Autoritarismus viel schwerer nachweisbar. Er braucht sich nicht mehr zu exponieren, braucht keinen Militärputsch und keine Gewalt mehr, weil die Verfassung ihm die Rechtfertigung für seinen Herrschaftsanspruch liefert. Sie liefert ihm dazu Grund- und Minderheitsrechte, die er strategisch einsetzen kann, solange er selbst noch nicht herrscht – zum Protest, zur Obstruktion, zur Delegitimierung derer, die an seiner Stelle herrschen. Sie liefert ihm Möglichkeiten, Debatten zum Entgleisen zu bringen und Entscheidungen zu blockieren.
So viele Rechte ihm die Verfassung gibt, so viele verweigert sie ihm auch. Hier kommt die Volksidentität ins Spiel. Sie kann gegen die Verfassung und ihre Institutionen in Stellung gebracht werden, ohne dass man dabei je die Deckung, die diese bieten, verlassen muss. Am Ziel ist der autoritäre Populismus erst, wenn er die Verfassung umfassend zu eigenen Gunsten umgebaut hat.
Szenario 2: Kann der Verfassungsgerichtshof gekapert werden?
In Polen, Ungarn oder den USA haben wir gesehen, dass die „schwache“ dritte Gewalt, besonders die Verfassungsgerichte, für autoritäre Populisten ein zentrales Ziel ist.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof besteht aus acht ordentlichen Mitgliedern und einem Präsidenten, das ordnet die Verfassung an. Das Thüringer Verfassungsgerichtshofgesetz regelt zudem, dass für jedes Mitglied Stellvertreter:innen zu wählen sind. 2026 muss das erste ordentliche Mitglied nachbesetzt werden, davor schon einige Vertreter:innen. Mit ihrer Sperrminorität könnte die AfD verhindern, dass ein neues Mitglied gewählt wird, oder – vorausgesetzt die anderen Fraktionen lassen sich darauf ein – einen eigenen Kandidaten in das Amt erpressen. Dieser Hebel ist erst einmal nicht so groß, denn ein Mitglied bleibt geschäftsführend im Amt, bis ein neues gewählt ist (§ 3 Abs. 3 ThürVGHG). Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass das Thüringer Verfassungsgerichtshofgesetz eine harte Altersgrenze bei 68 Jahren formuliert. Auch bei Tod oder einer Funktionsübernahme, z. B. in Landtag oder Landesregierung, verliert ein Richter, eine Richterin ihre Wählbarkeitsvoraussetzung.
Ist das Amt weder ordentlich noch geschäftsführend be-
setzt, ist davon auszugehen, dass das Gericht versuchen wird, sich beschlussfähig zu halten. Eine vorübergehende Vakanz hält das Gericht, wohl in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht, für einen Verhinderungsgrund, für den dann der dienstälteste Stellvertreter einspringen darf (ThürVerfGH, Beschl. v. 21. April 2010 – VerfGH 40/08). Was aber genau ist eine vorübergehende Vakanz? Wie lange ist „vorübergehend“? Das ist ungeklärt.
Vorausgesetzt es gibt keine vorzeitigen Neuwahlen, müssen dann 2029 – noch vor Ende der Legislaturperiode, aber mitten in einem neuen Landtagswahlkampf – die anderen acht Mitglieder neu gewählt werden. Bis zum Frühjahr 2030 müssen 11 Mitglieder bzw. Stellvertreter gewählt werden. Wie lange wird es das Gericht schaffen, sich beschlussfähig zu halten? Ab wann kommt die Vakanz bzw. Stellvertreterlösung in Konflikt mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters und dem Demokratieprinzip? Kann die AfD dagegen klagen oder wäre das ein rechtsmissbräuchliches Verhalten?
Die gute Nachricht für dieses Gedankenspiel: Um die Thüringer Verfassungsgerichtsbarkeit über den Weg der Sperrminorität effektiv zu untergraben, braucht die AfD einen langen Atem. Möglich aber ist es. Zum Glück gibt es dafür Lösungsmöglichkeiten. So lange demokratische, ggf. verfassungsändernde Mehrheiten möglich sind, könnte der Thüringer Landtag ein Ventil schaffen für den Fall einer langfristig blockierten Richterwahl. Letzten Monat haben wir im Thüringer Landtag ein Policy Paper vorgestellt, in dem wir für dieses – und sechs weitere Probleme – konkrete Lösungsvorschläge machen. Diese Lösungsvorschläge minimieren die Einfallstore, durch die autoritäre Populisten schlüpfen können, um die Verfassung legal auszuhöhlen. Gleichzeitig – und das war das Schwierige – verursachen sie keine hohen Kosten für Demokratie und Rechtsstaat. Im Gegenteil: Auch ganz unabhängig von der autoritär-populistischen Bedrohung machen Sie die Thüringer Verfassungsordnung ein bisschen besser.
Parallel dazu wurde in den letzten Monaten intensiv diskutiert, wie auf der Bundesebene ein großes Einfallstor geschlossen werden könnte. Die Debatte um einen besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts geht in ihrem Ursprung auch auf ein Szenario zurück – den Essay Ein Volkskanzler von Max Steinbeis. Mittlerweile existiert ein Arbeitsentwurf des Bundesjustizministeriums, der vorschlägt, einige Regeln, die nur in einem einfachen Gesetz geregelt sind, ins Grundgesetz zu überführen. Die Debatte zeigt meines Erachtens zwei Dinge, die auch für die Situation in Thüringen gelten: Reformen für einen besseren Schutz der Gerichte hängen derzeit vom politischen Willen der Union ab. Und: Der absolute Schutz eines Verfassungsgerichts lässt sich auch mit diesen Vorschlägen nicht erreichen. Angriffe auf die finanzielle und administrative Unabhängigkeit bleiben auch danach möglich. Und ein Verfassungsgericht ist maßgeblich darauf angewiesen, dass seine Entscheidungen von Gerichten, Regierungen und Parlamenten geachtet werden. Truppen hat Karlsruhe nicht. Trotzdem halte ich den besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts durch Konstitutionalisierung für eine sehr wichtige Initiative und plädiere dafür, dass auch das so wichtige Zweidrittelquorum für die Verfassungsrichterwahl sowie eine intensivierte Einbindung des Bundesrats in den Gesetzesentwurf aufgenommen wird – denn so macht man es autoritären Populisten
etwas schwerer.
Zurück nach Thüringen: Stellen wir uns nämlich vor, die AfD erhält bei den Wahlen 2029 eine einfache Mehrheit im Landtag. Dann hätte sie Zugriff auf das Verfassungsgerichtshofgesetz – und könnte die Altersgrenze des Gerichts ändern, den Haushalt kürzen und die geschäftsführende Ämterfortführung abschaffen. Wenn sie das konsequent und geschickt macht, könnte sie das Gericht neutralisieren.
Szenario 3: Was ein AfD-Bildungsminister anstellen könnte
Bleiben wir kurz in diesem Szenario und blicken in das neue AfD-Bildungsministerium: Die Schulpolitik ist in Deutschland Ländersache, und sie ist stark exekutiv geprägt. Was den Unterrichtsinhalt angeht, sehen in Thüringen auch Landesverfassung und Schulgesetz weiterhin bloß vage Bildungsideale vor, dazu kommen in wenigen Hauptfächern bundesweite Absprachen über die zu erwerbenden Kompetenzen. Den konkret gelehrten Stoff aber legt das Landesbildungsministerium im Alleingang fest, etwa die Lehrpläne oder den Stundenplan.
Der neue Bildungsminister könnte also den Sexualkundeunterricht abschaffen, bestimmte Lektüren für den Deutschunterricht festlegen und das deutsche Kaiserreich zum Schwerpunkt des Geschichtsunterrichts machen. Auch der Schulbuchkatalog wird vom Bildungsministerium genehmigt. Bücher rechter Verlage könnten so ihren Weg in die Klassenzimmer finden. Derartige Umstellungen können problemlos vom AfD-Bildungsminister selbst auf den Weg gebracht werden. Einer Gesetzesänderung oder strategisch ausgetauschten Personals bedarf es dafür nicht.
Ebenfalls stark exekutiv angebunden ist die Landeszentrale für politische Bildung. Wenn Björn Höcke Ministerpräsident wäre, könnte er nicht nur von seinem Amnestie- und Begnadigungsrecht Gebrauch machen, und rechtsextreme Straftäter:innen begünstigen. Er könnte auch den Medienstaatsvertrag mit einer einfachen Unterschrift kündigen oder den Leiter der Landeszentrale austauschen und damit ad hoc Einfluss auf deren inhaltliche Arbeit nehmen. Zwar gibt es ein Kuratorium, das aus der Mitte des Landtags gewählt wird, den aber im Zweifel auch die Regierungsmehrheit dominiert. Das Kuratorium hat de facto kein Mitspracherecht bei der Bestimmung des Leiters der Landeszentrale.
Im Einklang mit seinem 5-Punkte-Plan könnte Höcke dem Laden und sogenannten „Ideologieprojekten“ mittelfristig den Saft abdrehen. Dann wäre auch Schluss mit dem Landesprogramm Denk Bunt, das mit rund 6,1 Millionen Euro pro Jahr zivilgesellschaftliche Projekte finanziert. Würde dieses Landesprogramm gestrichen werden, hätten Betroffene rechtsextremer Gewalt kaum noch Hilfs- und Beratungsangebote in Thüringen. Viele Projekte, Informationsveranstaltungen und zivilgesellschaftliche Initiativen für ein demokratisches und gewaltfreies Miteinander könnten vermutlich kaum mehrere Monate überleben. Wir fragen uns, inwiefern es möglich wäre, auf Bundes- oder Länderebene Vorkehrungen für diesen Fall zu treffen – und vor diesem Hintergrund erscheint mir auch die erbittert geführte Debatte um das Demokratiefördergesetz in einem anderen Licht.
Stichwort Demokratieförderung: Hier kommt den Kommunen eine wichtige Rolle zu. In zwei Wochen finden in Thüringen Kommunalwahlen statt – am 9. Juni dann in acht weiteren Bundesländern. Es kann sehr gut sein, dass sich die kommunale Landkarte dann in großen Teilen blau einfärben wird. Zu dem einen AfD-Landrat in Sonneberg könnten dann mehr dazukommen, dazu Bürgermeister und Gemeinderäte und Kreistagsmitglieder.
Kommunale Behörden setzen Landes- und Bundesgesetze um. Wenn an der Spitze dieser Verwaltung eine Bürgermeister:in bzw. Landrät:in steht, die einer autoritär-populistischen Parteistrategie folgt, dann kann man sich nicht mehr ohne Weiteres darauf verlassen, dass sie das auch tun. Die Fach- und Rechtsaufsicht, die das sicherzustellen hat, liegt im Falle der Bürgermeister bei den Landräten. Und die Landesbehörde, die wiederum die auch jetzt schon vielfach notorisch selbstherrlichen Landräte beaufsichtigt, das Landesverwaltungsamt, steht in Thüringen in dem Ruf, eher die Spielräume der Landräte gegen das Innenministerium als oberster Aufsichtsbehörde zu verteidigen als umgekehrt. Wenn es dann bei den Landtagswahlen zu einem Wahlsieg und zu einer Regierungsbeteiligung oder gar Regierungsübernahme der AfD kommt und sie den Innenminister stellt, dann kann der den Präsidenten des Landesverwaltungsamts austauschen. Damit gehorcht dann die ganze Kommunalaufsicht der AfD. Sie ist es, die dann die Antwort auf die Frage gibt, ob, sagen wir, das Aufenthaltsgesetz, das Asylbewerberleistungsgesetz oder das Waffengesetz von der Thüringer Kommunalverwaltung recht- und zweckmäßig umgesetzt wird.
Die Evolution des Thüringen-Projekts
Wir, die Mitarbeiter:innen des Thüringen-Projekts, recherchieren nun seit dem Sommer 2023, was auf Demokratie und Rechtsstaat zukommen könnte, wenn die AfD über staatliche Machtmittel verfügt – und sich die Bedrohungsallianzen weiter verschärfen. Über hundertdreißig Mal haben wir uns mit Wissenschaftler:innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Richter:innen, Anwält:innen, Journalist:innen, Kulturschaffenden, Lehrer:innen und (Kommunal-)Beamt:innen in analoge und digitale Räume gesetzt und Szenarien entwickelt. Was-wäre-wenn-Fragen diskutiert. Plausibilitäten abgewogen.
Ermöglicht hat das in erster Linie eine überaus erfolgreiche Crowd-Funding Kampagne auf betterplace.org im letzten Sommer. Robert Sesselmann wurde damals als erster AfD-Politiker zum Landrat gewählt und die Gefährdung für Demokratie und Rechtsstaat erschien plötzlich sehr konkret. Während der Umgang mit diesen Gefährdungen das Sommerloch in den Medien füllte, saßen wir in der Regionalbahn auf dem Weg nach Schwarzburg.
Mittlerweile sind wir sogar fast 15 Mitarbeiter:innen und betreiben gemeinsam das, was wir zivilen Verfassungsschutz nennen: Wir wollen die demokratische Öffentlichkeit für die Schachzüge autoritär-populistischer Parteien sensibilisieren und durch Antizipation dafür sorgen, dass sie wachsam bleibt. Nach und nach haben sich vier Schwerpunkte unserer Arbeit herauskristallisiert, vier Säulen gewissermaßen: Recherche und Forschung, politische Bildung, Policy Arbeit und Kommunikation. Zu allen vieren möchte ich kurz was sagen.
Die Recherche haben wir in Themengebiete aufgeteilt: Kommunales, Medien, Bildung, Wahlen, Justiz, Sicherheitsapparat, Kultur. Es geht um Polizeirecht, Vergaberecht, Kulturrecht, um zum Teil völlig vergessene und verstaubte Rechtsvorschriften und Anordnungen, über die sich jahrelang niemand Gedanken gemacht hat. Wir gleichen Recht mit der Wirklichkeit ab, bewegen uns dazwischen hin und her, um Szenarien zu entwickeln, die juristisch und politisch plausibel sind.
Viele der Szenarien, mit denen wir uns beschäftigen, sind noch nie eingetreten. Recht einem Stresstest auszusetzen und in die Zukunft zu denken, provoziert neue, ungeklärte oder unbehandelte rechtswissenschaftliche Fragen. Was wäre, wenn in einem deutschen Bundesland eklatant gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen würde? Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen ließe sich auf Bundesebene darauf reagieren?
Um darauf Antworten zu finden, versuchen wir, unsere Szenarien auch in den rechtswissenschaftlichen Diskurs hineinzutragen. Auf dem Verfassungsblog haben über vierzig Rechtswissenschaftler:innen zu verfassungsrechtlichen Fragestellungen publiziert, die das Thüringen-Projekt aufgeworfen hat. Der Verfassungsblog – das kurz als Hintergrund – ist ein gemeinnütziges, wissenschaftliches Open-Access Forum, also eine Debattenplattform im Internet, auf der Wissenschaftler:innen aktuelle verfassungsrechtliche Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland, Europa und der Welt diskutieren. In einem Blogsymposium haben wir ausführlich das Phänomen parlamentarischer Obstruktion zur Debatte gestellt.
Uns ist wichtig, dass unsere Rechercheergebnisse wirken. Wie ich schon kurz berichtet habe, haben wir sieben (verfassungs)rechtliche Einfallstore in Thüringen identifiziert, die ohne große Kosten für die Demokratie geschlossen werden können. Einige wenige dieser Szenarien könnten also noch entschärft werden, indem bestimmte Rechtsgrundlagen ergänzt oder klargestellt werden. Dafür haben wir in enger Absprache mit Expert:innen ein Policy Paper entwickelt, das Sie auf unserer Website finden. Wir schlagen zum Beispiel vor, dass der Ministerpräsident die Zustimmung des Landtags zur Kündigung von Medienstaatsverträgen braucht, damit er nicht im Alleingang mit einer einfachen Unterschrift die Rundfunkstaatsverträge zu MDR, ARD und ZDF vernichten kann. Wir sind außerdem dafür, dass das Vorschlagsrecht der Landtagspräsidentin in der Geschäftsordnung konkretisiert wird, um Auslegungsstreitigkeiten vorzubeugen. Der Polizeipräsident, Verfassungsschutzpräsident und der Landtagsdirektor sollten keine politischen Beamten sein. Und konsultative Volksbefragungen von der Verfassung ausgeschlossen werden, um zu vermeiden, dass sich ein Ministerpräsident Björn Höcke das Lieblingsinstrument von Viktor Orbán und der PiS in Polen selbst schafft. Und wir haben eine Lösung für den ominösen dritten Wahlgang, der seit 2009 bei jeder Ministerpräsidentenwahl für Unruhe sorgt. Unser Vorschlag vereint die beiden sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehenden Positionen von CDU und Die Linke.
Mit unseren Ergebnissen wollen wir vor allem die Menschen erreichen, die ab dem Herbst mit diesen Szenarien konfrontiert sein könnten. Es geht uns darum zu zeigen, in welchen Momenten es ganz konkret auf ihr Handeln ankommt. Autoritäre Populisten profitieren davon, Chaos und Unsicherheit zu stiften, indem sie mit bisherigen demokratischen Konventionen brechen. Um Funktionsträger:innen auf diese Situationen vorzubereiten und unter ihnen mehr (Rechts-)Sicherheit zu schaffen, organisieren wir mit Kooperationspartner:innen Workshops. Gemeinsam mit der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft bereiten wir in fünf Veranstaltungen Lehrer:innen auf autoritär-populistische Strategien im Bildungssystem vor; mit der deutschen Richtervereinigung planen wir Seminare für Rechtsreferendar:innen.
Wesentlicher Bestandteil des Projekts ist die Kommunikation der Ergebnisse an Funktionsträger:innen und die Öffentlichkeit. Nur so kann es gelingen, ein Bewusstsein für autoritäre Schachzüge zu schaffen und die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Wir haben deshalb in den vergangenen Monaten an unzähligen Veranstaltungen teilgenommen und sehen, dass wir damit über Thüringen hinaus auf Szenarien aufmerksam machen, die auch in anderen Bundesländern relevant werden können. In Medien und Politik lässt sich beobachten, dass Was-wäre-wenn-Fragen gestellt werden. Mit etwas Stolz können wir also jetzt schon sagen: Das
Thüringen-Projekt wirkt.
Wie ziviler Verfassungsschutz eine Demokratie wehrhaft macht
Diese vier Säulen – Recherche und Forschung, politische Bildung, Policy Arbeit und Kommunikation – tragen das, was wir zivilen Verfassungsschutz nennen. Dabei geht es in erster Linie nicht um die Verhinderung der Krise, sondern um die rechtzeitige Vorbereitung auf eine bestimmte Situation. Das ist auch im Umgang mit antiliberalen Akteuren wie Viktor Orbán oder der PiS-Partei effektiv. Denn solche Akteure ändern die Spielregeln der liberalen Demokratie auf formell rechtmäßige Weise, um sich Wahlrecht, Justiz oder Medien zu eigen zu machen und so als Institutionen zu neutralisieren. Sie versuchen nicht alles auf einmal, sondern gehen Schritt für Schritt vor. Antizipation hilft, den Blick für Strategien zu schärfen, die den Rechtsstaat aushöhlen – anstatt sich zu sehr auf einzelne Parteien oder Politiker:innen zu fokussieren.
Das anschaulichste Beispiel für dieses antizipierende Zusammenwirken von Rechtswissenschaft und Zivilgesellschaft findet sich in Israel. Dort gingen Tausende Menschen gegen die sogenannte Justizreform auf die Straße. Sie hatten erkannt, dass die scheinbar technische Frage, wie weit genau der Prüfumfang eines Gerichts reicht, um die es in der Reform unter anderem ging, alle etwas angeht. Solche Änderungen an Recht und Verfassung haben, so scheint es, nichts mit unserem individuellen Leben zu tun – bis sie es tun. Und dann ist es meist schon zu spät.
In Israel haben zahlreiche Rechtswissenschaftler:innen, wie etwa Tamar Hostovsky-Brandes, Menschen in ihre Häuser eingeladen, um ihnen zu erklären, was hinter den Plänen der israelischen Regierung steckt. Dabei konnten sie auf Erfahrungen aus Polen und Ungarn zurückgreifen. Anders als dort hat das zivilgesellschaftliche Bewusstsein für illiberale Schachzüge in Israel dazu geführt, dass das Regierungsvorhaben gesellschaftlich unter Druck geriet. Zu Beginn des Jahres hat der Supreme Court das Gesetz gekippt. Mit ihrem lautstarken Protest hat die israelische Zivilgesellschaft dem Supreme Court bei der Legitimation seiner Entscheidung den Rücken gestärkt.
Eine informierte Zivilgesellschaft, staatliche Funktionsträger:innen und demokratische Parteien, die einen autoritär-populistischen Schachzug erkennen, wenn er gemacht wird, sind essenziell. Dann berichten Medien darüber, die kritische Öffentlichkeit geht auf die Straße und protestiert. Aufklärung und Bewusstsein können verhindern, dass der liberale Verfassungsstaat leise und schleichend unterminiert wird. Lassen Sie uns das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes dazu nutzen, unsere Verfassungsordnung in seinen Stärken und seinen Schwächen zu reflektieren. Denn eine wehrhafte Demokratie ist in erster Linie eine vorbereitete Demokratie.