Wenn es um die Würde geht

Herausforderungen der seelsorglichen Begleitung

Wenn es um die Würde geht – Herausforderungen der seelsorglichen Begleitung

 

Marianne Habersetzer

 

  1. Was seelsorgliche und spirituelle Begleitung bedeutet

 

Als erstes sollen durch mich Ältere im hohen verletzlichen Alter zu Wort kommen! „Schauen Sie mich doch an! Was bin ich denn noch wert?“; „Gibt es tatsächlich etwas anderes als dieses Leben hier? Glauben Sie das wirklich?“; „Habe ich überhaupt etwas zu hoffen?“; „Sind Sie bei mir, bleiben Sie bei mir, wenn es zu Ende geht?“

Dies sind Fragen, denen ich als Seelsorgerin begegne, die an meine Kolleginnen und Kollegen in ihrem seelsorglichen Dienst nahezu täglich gestellt werden. Die Seelsorge ist im Rahmen einer ganzheitlichen Pflege ein wichtiger Faktor und eine wichtige Partnerin. Spirituelle Bedürfnisse und Fragen sind im Alter da und treten häufig vermehrt auf.

Das Ziel einer seelsorglichen Begleitung ist, das Heilsein zu fördern, auch wenn eine körperliche, geistige oder seelische Heilung nicht mehr möglich ist. Das sogenannte Vierte Alter, das Alter in Hilfsbedürftigkeit, und das Fünfte Alter in zunehmender Abhängigkeit sind gekennzeichnet von hoher Verletzlichkeit. Jeder und jede spürt mit zunehmendem Alter deutlich diese Einschränkungen. Die Vorzeichen sind da, und sie werden immer mehr. Die körperlichen Kräfte schwinden, die Fähigkeiten der Sinne nehmen ab, das Gehen fällt schwer und die geistigen Leistungen werden einschneidend geringer.

Aber nicht nur das. Das soziale Umfeld wird zunehmend eingeschränkt. Von Menschen, mit denen man gelebt hat, muss man Abschied nehmen. Einsamkeit stellt sich ein, neue Kontakte zu knüpfen, fällt schwer. Immer seltener wird man gefragt, und schließlich schleicht sich das Gefühl ein: „Es ist genug! Das Leben hat ja doch den Sinn verloren. Keiner braucht einen, man fällt nur noch zur Last“. Der Tod wohnt zunehmend in den Gedanken.

Im Mittelpunkt einer seelsorglichen Begleitung steht der Mensch, dem mit Wertschätzung, Empathie, Ehrlichkeit begegnet wird: Die Sorge um spirituelle Bedürfnisse alter Menschen ist so Teil einer ganzheitlichen Zuwendung und Pflege.

Dabei leiten zwei Prinzipien, die wir in der Seelsorge aus der neuen Alternspsychologie übernommen haben, unsere Arbeit. Das ist zum einen die Lebensspannenorientierung. Zum Verstehen von Verhalten und Entwicklung im höheren Lebensalter müssen frühere Lebensphasen berücksichtigt werden, auch sehr frühe Einflüsse des Lebens. Dazu gehört die Annahme, dass keiner Phase des menschlichen Lebens irgendeine vorrangige Bedeutung zukommt.

Das zweite Prinzip ist ein differenzierter Entwicklungsbegriff. Früher bedeutete Entwicklung nur etwas Aufstrebendes, Anwachsendes, Zugewinnendes, qualitativ Neues. Dieses nur ist ein Problem, wenn man einen solchen Entwicklungsbegriff auch auf das späte Leben anwenden möchte. Die neue Alternspsychologie sagt: Alle Lebensphasen beinhalten Gewinne und Verluste, dies gehört immanent zur menschlichen Entwicklung.

Als Seelsorgerin nehme ich die Situation wahr, in der sich der ältere Mensch befindet: Was ist mit Ihnen? Ich frage nach dem dahinterliegenden Gefühl: Wie geht es Ihnen damit? Ich schaue auf die Beziehungen: Wer geht mit Ihnen? Und schließlich versuche ich mit meinem Gegenüber zu deuten: Was trägt Sie? Was hält?

Seelsorge begleitet also Menschen auf den letzten Etappen des Lebensweges, geht diesen Weg mit. Seelsorge hört auf die Lebensgeschichten der Menschen, wenn sie versuchen, Lebensbilanz zu ziehen. Seelsorge ist mitsuchend, indem sie unterstützt, die je eigene Spiritualität zu leben. Seelsorge deutet mit, wenn Menschen nach dem Geheimnis ihres Lebens fragen und bietet den Glauben als Geheimnis an, mit dem man in Beziehung treten kann. Seelsorge hilft, das Leben mit dem Evangelium Jesu Christi in Verbindung zu bringen und den Sinn im Auf und Ab des Lebens zu finden. So möchte sie die alten Menschen, gleich ob in einer Einrichtung oder im Privathaushalt lebend, vom Rand in die Mitte der Aufmerksamkeit holen.

 

  1. Herausforderungen

 

Das Alter ist vielfältig und bunt. Zunehmend wird man davon auszugehen haben, dass auch die religiösen Biografien älterer Menschen vielfältiger, bunter, mit manchen Brüchen und Wendepunkten versehen sind. Das traditionelle kirchliche Milieu löst sich immer mehr auf, die Tendenz zu Auswahlchristentum und religiösen Formen am Rande oder außerhalb der Kirchen nimmt zu. Die nachwachsenden Alten verstehen sich immer stärker als religiös Suchende, und ebenfalls immer größer wird die Gruppe, die sich als nicht religiös bezeichnet. Dennoch haben viele, wenn nicht gar alle, spirituelle Bedürfnisse. Das bedeutet für die seelsorgliche Begleitung eine große Herausforderung und eine große Chance.

Gleichzeitig entsteht ein hoher Anspruch an die Seelsorger. Nicht jede Seelsorgerin, nicht jeder Seelsorger ist per se geeignet für diesen Bereich der Seelsorge. Daher braucht es eigene Weiterbildungen, um den Aufgaben gerecht zu werden. Nur einige dieser Aufgaben möchte ich nennen.

Seelsorger schenken würdigende Aufmerksamkeit den persönlichen Wegen und der je eigenen spirituellen beziehungsweise religiösen Suche. Sie nehmen den Menschen mit seinem oft diffusen spirituellen Hintergrund und mit seiner oft gebrochenen Lebensgeschichte radikal ernst und eröffnen spirituelle Räume, in denen der Mensch dem Heiligen begegnen kann und führen zum Geheimnis des Lebens hin. Sie helfen Ängste abzubauen, geben Zuspruch, helfen beim Loslassen und Verabschieden; halten Verzweiflung und Verunsicherung angesichts nachlassender Kräfte aus; segnen die Sterbenden, Angehörige und Mitarbeiter. Sie beraten bei ethischen Fragestellungen und schließlich geben sie Zeugnis von ihrer eigenen Spiritualität.

Die Zahl der Pflegebedürftigen wächst, die Zahl der zur Verfügung stehenden Seelsorger  wird geringer. Es fragt sich: Wie können die Prioritäten der seelsorglichen Arbeit neu gesetzt werden?

Eine andere Frage lautet: Wie kann das Leben von verwirrten älteren Menschen bereichert werden, damit es letztlich ein gutes Ende findet? Ansatz ist eine spirituelle Biografiearbeit mit den Hauptanliegen, Desorientierung, Krankheit und Leid erträglich zu machen, den Lebensweg durchstehen zu können, indem wir diesen Weg mitgehen und empathisch und würdigend begleiten. Biografiearbeit spricht zwei besondere Ressourcen der Menschen mit Demenz an: das Langzeitgedächtnis und die Gefühle. Biografiearbeit bewegt die Seele. Erinnerungspflege kann eine Rettungsinsel sein, eine Oase für Demenzkranke. Wenn um mich herum die Realität verschwimmt, finde ich Zuflucht in einer anderen Erlebniswelt. Dies geschieht im Gespräch, in dem immer mal kurze Lichtblicke aufleuchten oder auch im Gottesdienst, bei dem auf spirituelle Bedürfnisse eingegangen wird.

Es geht hier auch um die seelsorgliche Begleitung des jeweiligen Umfelds, zum einen um die pflegenden Angehörigen, zum anderen in den Einrichtungen um die beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Einrichtungen.

Die Verbindung von Pflege und Pfarrgemeinde ist dabei fast ein „unbeschriebenes Blatt“, da – wie man heute sagt – diese Aufgabe „outgesourct“ wurde und man auf Caritas oder ökumenische Nachbarschaftshilfe vertraut. Das ist gut, aber die Pfarrgemeinde bleibt in der Pflicht. Und die Herausforderung hat sich meines Erachtens durch die Vergrößerung der Seelsorgeeinheiten verschärft. Auch hier zuerst ein Beispiel: Eine pflegende Angehörige, die aufgrund ihres Eingespanntseins nur noch selten in der Pfarrei zu sehen war, wurde bei einem dieser Besuche mit dem Satz begrüßt: „Sieht man dich auch mal wieder?“ Da fing sie zu weinen an.

Durch die kaum mehr vorhandene Mobilität fallen nicht nur die alten Menschen selbst, sondern auch die Betroffenen im Umfeld aus dem Blick der Pfarrgemeinde vor Ort. Hier geschieht etwas, was nicht sein darf: Wir als Kirche berauben uns der schwächsten Glieder des Leibes Christi. Aber nur alle zusammen sind wir Leib Christi. Erst gemeinsam stellen wir Christus in seiner Vollgestalt dar. Seelsorge kann Brücken bauen und erfahrbar machen, dass Lebensräume auch Glaubensräume sind. Da, wo Menschen leben, lebt Gott mit ihnen, geschieht Gottesbegegnung. Diese brauchen wir nicht machen, diese müssen wir entdecken.

Was hat die Pfarrgemeinde zu geben? Sie muss Rückhalt bieten, die Situation durch mehr Sensibilität mittragen und durch Besuchsdienstangebote entlasten; durch Gespräch, Beratung, seelsorgliche Begleitung unterstützen und gezielt Kontakte zu fördern, damit Pflegende über ihre Situation, über Veränderungen und Probleme sprechen können.

Weiter gilt es, Kontakte zwischen Pfarrgemeinde und Altenheimen zu pflegen. Gerade auch in der Übergangsphase, wenn der ältere Mensch aufgrund welcher Umstände auch immer seine Privatwohnung verlässt und in ein Heim übersiedelt. Kontakte zu Pflegepersonal in den Heimen und Sozialstationen sind zu fördern, um dadurch auch Anerkennung von Seiten der Kirche zu signalisieren.

Im Buch Kohelet heißt es: „Alles hat seine Zeit.“ Es gibt eine Zeit des Gebens und eine Zeit des Nehmens. Wir alle bilden gemeinsam das Glaubensgut des Gottes Volkes, jede und jeder trägt mit ihrer und seiner Lebens- und Glaubensgeschichte dazu bei. Daher darf nichts davon verloren gehen. Jede und jeder hat Gaben, Charismen, hat Erfahrungen, die für den Leib Christi wichtig sind und ohne die der Leib nicht ganz er selbst ist. Unsere Aufgabe ist daher zu ermöglichen, dass die Menschen Kontakte knüpfen, dass sie sich einbringen und dadurch leben. Davon spricht in guter sensibler Sprache das Zweite Vatikanische Konzil (LG 13; 33). Es geht um eine umfassende Beteiligung mit den verfügbaren Ressourcen und um Wertschätzung bis zum Lebensende. Es darf keine Degradierung und keine Demütigung geben.

Was geben uns alte Menschen in ihrer Verletzlichkeit? Damit verbunden ist bei mir immer wieder neu die Frage: Was möchte uns Gott durch die alten und gerade auch durch die dementen Menschen sagen? Wer sind sie für uns? Je länger ich diese Menschen begleite, umso mehr liegen sie mir am Herzen. Für mich sind sie Prophetinnen und Propheten, die sich ihr Schicksal nicht ausgesucht haben – wie eben die Prophetinnen und Propheten in der Bibel. Sie sind uns geschickt und helfen uns, das ganze Leben in den Blick zu nehmen und anzunehmen, einen Sinn in allen Phasen und Befindlichkeiten zu finden und schließlich das Leben auf der Folie der Botschaft Jesu Christi und der Zusage unseres Gottes zu deuten. Wir als Kirche stehen für die Zusage, wie es beim Propheten Jesaja heißt, „ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch retten und schleppen“ (Jes 46,4).

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