Wie kann der Satan dem Menschen Gott austreiben?

Ijob und Faust - ein Vergleich

Der Prolog im Himmel

 

Zu den auffälligsten Parallelen zwischen dem Buch Ijob und Goethes Faust gehört zweifelsohne der Prolog im Himmel. Das Buch Ijob erzählt die Geschichte eines Mannes namens Ijob, der von schwerem Leid getroffen wird: Er verliert seinen Besitz, seine Dienerschaft und seine Kinder (1,13-19) und wird schließlich am ganzen Leib mit Aussatz geschlagen (2,7). Den Hintergrund dieser Schicksalsschläge bildet eine Disputation im Himmel zwischen Gott und dem Satan (1,6-12; 2,1-6). Mit dem Gespräch zwischen Gott und dem Satan setzt die Handlung des Ijobbuches ein:

„Nun geschah es eines Tages, da kamen die Gottessöhne, um vor den Herrn hinzutreten; unter ihnen kam auch der Satan. Der Herr sprach zum Satan: Woher kommst du? Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Die Erde habe ich durchstreift, hin und her. Der Herr sprach zum Satan: „Hast du auf meinen Knecht Ijob geachtet? Seinesgleichen gibt es nicht auf der Erde: ein Mann untadelig und rechtschaffen, er fürchtet Gott und meidet das Böse. Der Satan antwortete dem Herrn und sagte: Geschieht es ohne Grund, dass Ijob Gott fürchtet? Bist du es nicht, der ihn, sein Haus und all das Seine ringsum beschützt? Das Tun seiner Hände hast du gesegnet; sein Besitz hat sich weit ausgebreitet im Land. Aber streck nur deine Hand gegen ihn aus und rühr an all das, was sein ist; wahrhaftig, er wird dir ins Angesicht fluchen. Der Herr sprach zum Satan: Gut, all sein Besitz ist in deiner Hand, nur gegen ihn selbst streck deine Hand nicht aus! Darauf ging der Satan weg vom Angesicht des Herrn“ (Ijob 1,6-12).

Nach der Zueignung und dem Vorspiel folgt in Goethes Faust der Prolog im Himmel. Die Anspielung an den Prolog im Ijobbuch ist offenkundig. In beiden Prologen steht das Gespräch zwischen Gott und dem Satan respektive zwischen Gott und Mephisto im Zentrum. Die Person, um die es dabei geht, weiß von diesem Gespräch nichts: Weder Ijob noch Faust wissen, dass über sie im Himmel verhandelt wird. Zwischen Gott und dem Satan kommt es – zumindest wird es gewöhnlich so gedeutet – zu einer Wette, der berühmten „Wette im Himmel“. Die Vereinbarung zwischen Gott und dem Satan besteht in beiden Fällen darin, dass der Protagonist auf der Erde, also Ijob bzw. Faust, einem Test unterworfen werden soll. Mit ihm soll ein Experiment veranstaltet werden. Derjenige, der sich anschickt, das Experiment durchzuführen, ist der Satan bzw. Mephisto; derjenige, der die Erlaubnis dazu erteilt, ist Gott; und derjenige, mit dem das Experiment durchgeführt werden soll, ist Ijob bzw. Faust. Von der Personenkonstellation her gesehen liegt also eine klare Parallele zwischen den beiden Prologen vor.

Dass Goethe hier gezielt an das Ijobbuch anspielt, zeigt sich an einigen weiteren Besonderheiten. In beiden Erzählungen wird Gott mit der Bezeichnung „der Herr“ wiedergegeben (im hebräischen Text liegt der Gottesname vor, der in den deutschen Übersetzungen im Anschluss an Septuaginta und Vulgata gewöhnlich mit „der Herr“ übersetzt wird). Ferner bezeichnet der Herr Ijob bzw. Faust als „meinen Knecht“.

Auch inhaltlich besteht zwischen den beiden Wetten eine grundlegende Gemeinsamkeit. Es geht in beiden Fällen um eine Klärung, um eine Vereindeutigung. Geklärt werden soll das Verhältnis des Protagonisten zu Gott. Allerdings sind die Voraussetzungen dieser Klärung auf Seiten der beiden Hauptfiguren unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich.

 

Ijob und Faust – zwei unterschiedliche Charaktere

 

Ijob wird in der Erzählung als gerecht und gottesfürchtig vorgestellt (1,1-5). Doch der Satan vermutet, Ijobs Frömmigkeit sei eigennützig; er diene Gott allein deshalb, weil er persönlich einen Vorteil davon habe: „Geschieht es ohne Grund, dass Ijob Gott fürchtet? Bist du es nicht, der ihn, sein Haus und all das Seine ringsum beschützt?“ Der Satan äußert also den Verdacht, Religion funktioniere nach dem Prinzip des Do ut des, dem gegenseitigen geschäftlichen Austausch. Konsequent durchdacht heißt das, Ijob liebe nicht Gott, sondern nur sich selbst. Um den Vorwurf zu überprüfen, gestattet Gott dem Satan, Ijob schweres Leid zuzufügen. Damit steht die Frage im Raum, ob Ijob Gott auch dann noch dient, wenn er persönlich keinen Vorteil davon hat. Es geht um die Frage, ob er bereit und in der Lage ist, Gott um seiner selbst willen zu lieben.

Bei Faust ist die Lage eine andere. Faust wird bereits im Prolog als eine schwankende, als eine zerrissene Persönlichkeit gezeichnet. Er ist zerrissen zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zur Welt. Im Munde Mephistos klingt das so:

Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust.

Der Herr widerspricht der Analyse Mephistos nicht. Er rechnet allerdings damit, dass es ihm gelingen wird, Faust in die Klarheit zu führen, das heißt: ihn ganz auf seine, die göttliche Seite zu ziehen, ihn zu einem Gläubigen zu machen, der dem Herrn vorbehaltlos dient:

 

Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient:
So werd’ ich ihn bald in die Klarheit führen.
Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt,
Daß Blüt’ und Frucht die künft’gen Jahre zieren

An dieser Stelle nun hakt Mephisto ein und gibt eine gegenteilige Prognose. Dabei schlägt er die berühmte Wette vor und sagt zum Herrn:

Was wettet ihr? den sollt ihr noch verlieren,
Wenn ihr mir die Erlaubnis gebt
Ihn meine Straße sacht zu führen.

Der Herr lässt sich auf die Wette ein. Er gestattet Mephisto, Faust auf seine, also Mephistos Wege zu führen. Zugleich ist er sich sicher, dass Faust der Versuchung standhalten wird:

Nun gut, es sei dir überlassen!
Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab,
Und führ’ ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Wege mit herab,
und steh’ beschämt, wenn du bekennen musst:
Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewusst.

Mephisto hingegen ist sich seiner Sache sicher und entgegnet:

Mir ist für meine Wette gar nicht bange.

Vom Ausgangspunkt der Erzählung her gesehen sind Ijob und Faust zwei unterschiedliche Charaktere. Ijob ist mit sich, seiner Welt und mit Gott im Reinen. Der Satan versucht, zwischen Ijob und Gott einen Keil zu schieben. Der Kreislauf eines gegenseitigen Gebens und Nehmens soll unterbrochen werden. Der Satan äußert den Verdacht, dass es mit der Frömmigkeit Ijobs, wenn es ernst wird, nicht weit her ist.

Anders Faust: Er wird von Beginn an als eine innerlich zerrissene Persönlichkeit gezeichnet. In ihm wird ein grundlegender Fehler in der Schöpfung sichtbar. Der Mensch, so hält Mephisto dem Herrn vor, ist eine Fehlkonstruktion:

 

Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen,
Ich sehe nur wie sich die Menschen plagen.
Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.
Ein wenig besser würd’ er leben,
Hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.

Von einem Fehler in der Schöpfung ist im Prolog des Ijobbuches keine Rede. Allerdings wird für Ijob die Schöpfung in dem Moment fraglich, da er von schwerem Leid getroffen wird, obwohl er kein Unrecht getan hat. Das Leiden des Gerechten stellt die gerechte Weltordnung infrage.

 

Zwei unterschiedliche Wege zur Gott-Losigkeit

 

So stehen bei aller Gemeinsamkeit zwischen Ijob und Faust doch zwei unterschiedliche Fragen im Hintergrund. Der bedeutendste Unterschied scheint mir nun darin zu liegen, dass der Satan und Mephisto auf zwei einander entgegenstehenden Wegen versuchen, den Protagonisten von Gott wegzuführen: Im Ijobbuch geht der Weg über das Unglück, im Faust über das Glück. Goethe greift das Ijob-Motiv auf, kehrt es jedoch in charakteristischer Weise um: Durch irdische Erfüllung soll Faust von seinem göttlichen Urquell abgebracht werden. Faust soll ganz und gar zum Bürger dieser Welt werden. Er soll die Fülle des Daseins genießen. Sein Streben zum Himmel soll umgebogen werden auf ein nie endendes Streben nach vorn. Darin soll sein Transzendenzbezug zur Erfüllung kommen: „Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen“ (399). Bei Faust geht es darum, dem Protagonisten durch einen erfüllten Weltbezug seine Gottesgedanken auszutreiben.

Durch das Leid ist auch Ijobs Weltbezug zutiefst gestört. Er kann in der Welt nicht mehr die gerechte Ordnung Gottes erkennen: „Die Erde ist in Frevlerhand gegeben, das Gesicht ihrer Richter deckt er zu. Ist er es nicht, wer ist es dann?“ (9,24). In dieser Klage Ijobs kommt ein ungeheurer Vorwurf zum Ausdruck. Die Erde ist nicht in die Hand eines gerechten Richters, sondern in die Hand eines Frevlers gegeben. Das heißt: Gott ist ein Frevler, ein Verbrecher. „Ist er es nicht, wer ist es dann?“ – damit wird die biblische Schöpfungstheologie geradezu auf den Kopf gestellt.

Ijob gerät in eine vollständige Entfremdung, in eine Entfremdung von sich selbst, von seiner sozialen Umwelt (seinen Freunden und Verwandten), von der Schöpfung und von Gott. Und doch zeichnet das Buch einen Weg, der aus dieser Entfremdung herausführt. Dieser Weg – und darin unterscheidet sich Ijob von Faust – führt über Gott, allerdings über einen Gott, der zunächst als ein „Gott gegen Gott“ in das Bewusstsein des Protagonisten tritt. Schauen wir uns eine Schlüsselpassage aus dem Ijobbuch näher an.

 

Der Zeuge im Himmel (Ijob 16,18-22)

 

18      O Erde, deck mein Blut nicht zu / und ohne Ruhestätte sei mein Klageschrei!

19      Nun aber, seht: Im Himmel ist mein Zeuge, / mein Bürge in den Höhen!

20      Da meine Freunde mich verspotten, / blickt zu Gott hin schlaflos mein Auge.

21      Recht schaffe er dem Mann bei Gott / und einem Menschen bei seinem Freund.

22      Denn nur noch wenige Jahre werden kommen, / dann muss ich den Weg gehen ohne Wiederkehr.

Wenn Blut vergossen wird, schreit es – so die biblische Vorstellung – vom Erdboden empor, auf dass ein Rächer dem Opfer zu seinem Recht verhelfen und die zerstörte Rechtsordnung wiederherstellen möge. Es ist die ureigenste Aufgabe Gottes, für die Opfer einzutreten, die keinen Rechtshelfer haben. „Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden“, sagt der Herr zum Brudermörder Kain (Gen 4,10). Mit dem Schrei von Vers 18 möchte Ijob seinen „Fall“ offenhalten und seinen Rechtsanspruch einklagen. Die Zeit drängt, denn er wird nicht mehr lange leben (Vers 22). Seine Hoffnung setzt er auf einen Zeugen im Himmel (Vers 19). Wer ist dieser Zeuge? Ein Zeuge wird angerufen, wenn zwei Parteien miteinander streiten und keine Einigung in Sicht ist. Der Zeuge steht außerhalb des Streites. Er kann den Sachverhalt bezeugen, der für die Klärung der Auseinandersetzung von ausschlaggebender Bedeutung ist.

Vergegenwärtigen wir uns die Lage, in der sich Ijob befindet. Er liegt mit Gott im Streit. Er fühlt sich von Gott angegriffen: „Wie ein Krieger stürmt er gegen mich an“ (16,14). Der Angriff Gottes ist in den Augen Ijobs zutiefst ungerecht, da er sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. In der unmittelbar vorangehenden Klage stellt Ijob – entgegen den Unterstellungen seiner Freunde – dies noch einmal unmissverständlich klar: „Kein Unrecht klebt an meinen Händen und mein Gebet ist lauter“ (16,17). In dieser Situation bekennt Ijob: „Nun aber, seht: Im Himmel ist mein Zeuge, mein Bürge in den Höhen“ (Vers 19). Wer ist dieser Zeuge?

Wir befinden uns an einer Schlüsselstelle des Ijobbuches. Es findet ein innerer Klärungsprozess statt. In Ijob bricht die Gewissheit durch, dass es noch einen „anderen Gott“ gibt als den, „der ihn in die Hand der Frevler stößt“ (16,11). Diesen „anderen Gott“ bekennt Ijob als „seinen Zeugen im Himmel“ und „seinen Bürgen in den Höhen“ (Vers 19). Zu diesem Gott hin blickt schlaflos sein Auge (Vers 20). Dieser Gott möge Recht verschaffen „dem Mann“, das heißt: Ijob, und zwar „bei Gott“, das heißt: bei dem Gott, der Ijob zerschmettert (16,12) und bei den Freunden, die Ijob verspotten (Vers 21). Erstmals bekennt sich Ijob – über die Brücke des Zeugen – ausdrücklich zu einem „Gott gegen Gott“.

Was hier abläuft, lässt sich als innere Klärung des Gottesbildes verstehen. Wenn wir in aller Nüchternheit auf die Ijoberzählung schauen, müssen wir feststellen: Die Gottesfeindschaft, die Ijob erfährt, stimmt nicht mit dem überein, was der allwissende Erzähler sagt. Nirgendwo wird auf der Ebene der Erzählung gesagt, dass Gott Ijob geschlagen oder angegriffen habe. Ijob sagt das, aber nicht der Erzähler. Auf der Ebene der Erzählung wird Ijob vom Satan geschlagen, nicht von Gott. Genau genommen handelt es sich also um eine Deutung, die Ijob dem, was ihm widerfährt, gibt. Sie stimmt nicht mit dem überein, was uns der allwissende Erzähler als objektive Wirklichkeit vermittelt. Das mag zynisch klingen, weil wir uns verständlicherweise nur allzu gern mit Ijob identifizieren, uns auf seine Seite stellen, da wir schweres Leid, das uns trifft, ähnlich deuten wie er. Aber hier liegt ein Problem, das im Ijobbuch mutig angegangen wird und dem wir uns zu stellen haben, wenn wir das Buch ernst nehmen und an seiner Lösung teilhaben wollen. In Ijob vollzieht sich ein Prozess der Klärung, bei dem der Unterschied zwischen dem, was er wahrnimmt, und dem, was wirklich ist, immer deutlicher hervortritt. In Ijob bricht die Erkenntnis durch, dass es noch einen „anderen Gott“ gibt als den, von dem er meint, dass er ihn verfolge. Da es aber in der Tradition, aus der heraus Ijob spricht, neben dem einen Gott keinen anderen Gott gibt, ist der „andere Gott“, den Ijob als Zeugen anruft, kein anderer als der eine, wahre Gott, der „ihm Recht verschafft“: „Nemo contra Deum, nisi Deus ipse“ („Niemand gegen Gott außer Gott selbst“) – dieses Wort unbekannter Herkunft, mit dem Goethe im 20. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ das Dämonische zusammenfassend kennzeichnet, könnte auch als Überschrift über Ijob 16,18-22 stehen. Diese zunächst paradox klingenden Worte deuten darauf hin, dass Ijob von der Vorstellung, Gott würde ihn verfolgen, befreit wird. Die Erfahrung bricht in unserem Abschnitt blitzartig durch, doch es braucht noch viel Zeit und Leid, bis sie in Ijob zu einer tragenden und bleibenden Gestalt gefunden hat.

In Ijobs Leid sind zwei Ebenen zu unterscheiden: zum einen der Verlust seines Besitzes, seiner Kinder und seiner Gesundheit, zum anderen die Vorstellung, Gott habe ihm das alles zugefügt. Beide Leiderfahrungen werden im Ijobbuch durchgearbeitet und einer Lösung zugeführt: die erste in der Rahmenerzählung (1-2; 42,10-17), die zweite im Dialogteil (3-42,6). Die Lösung der zweiten nimmt weitaus mehr Zeit und Energie in Anspruch als die der ersten. Sie scheint im Ijobbuch als das tieferliegende Problem angesehen zu werden. Es handelt sich um die geistige, die spirituelle Dimension des Leids.

Dass es sich bei der „Gottesverfolgung“ Ijobs um eine Vorstellung handelt, besagt nicht, dass sie nicht äußerst schmerzhaft ist. Das durch Fehldeutung hervorgerufene Leid erfordert in gleicher Weise Solidarität und Trost wie jedes andere Leid auch. Es ist real und kann nicht weginterpretiert werden. Aber es kann durchlitten und geheilt werden – das ist der Weg, den das Ijobbuch beschreibt, und die frohe Botschaft, die es enthält.

 

Satan und Mephisto – ein kleiner, aber feiner Unterschied

 

Ein weiterer Unterschied zwischen Ijob und Faust betrifft die Bewertung Satans bzw. Mephistos. Mephisto ist wie Satan ein Ankläger. Er ist der Geist, der stets verneint. Als solcher bekommt er dann aber doch eine für den Gang des Geschehens wichtige Funktion zugesprochen. Er treibt die Dinge voran und verhindert, dass Menschen geistig erschlaffen. Er hält den Prozess des Werdens in Gang. So gesehen ist er bei aller Negativität dann doch ein Teil der Schöpfung. Entsprechend wird er von Gott – bereits im Prolog – gewürdigt:

Von allen Geistern die verneinen
Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.
Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt, und muß, als Teufel, schaffen

Die relative Wertschätzung findet bei Mephisto einen Widerhall:

Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern,
und hüte mich mit ihm zu brechen.
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.

Gott und der Teufel sind also in gewisser Weise zwei Prinzipien, die das „ewige Werden, Wirken und Leben“ in Gang halten, die miteinander kooperieren.

Vom Satan im Ijobbuch lässt sich das in dieser Weise nicht sagen. Er tritt im Rahmen der himmlischen Ratsversammlung aus der Gruppe der „Gottessöhne“ hervor und wird von Gott gezielt angesprochen. In diesem Zusammenhang äußert er den bereits genannten Verdacht, dass der von Gott als „sein Knecht“ geadelte Ijob aus rein eigennützigen Motiven heraus fromm ist. Der Satan wird also im Ijobbuch nicht als ein neben Gott wirkendes, die Entwicklung des Menschen vorantreibendes Prinzip verstanden. Nirgends wird er von Gott gelobt. Und doch wird auch aufgrund seiner Initiative das Geschehen in Gang gesetzt. Am Ende stellt sich die Frage: Ist Ijob nicht durch das Leid gereift, wenn er vom Glauben zum Schauen geführt wird?

 

Welche Lösung präsentiert das Ijobbuch?

 

„Vom Hörensagen nur hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut“. Dieser Satz aus der zweiten Antwort Ijobs (42,5) ist der Schlüssel zum Verständnis des Buches und des in ihm verhandelten Problems. Wie ist er zu verstehen?

Der Ausdruck „Gott schauen“ dürfte ursprünglich im Kontext altorientalischer Religionen jenen Vorgang bezeichnen, bei dem ein Mensch das (im Tempel aufgestellte oder bei Prozessionen gezeigte) Bild einer Gottheit schaut. Im Hintergrund steht die Vorstellung einer königlichen Audienz. Das Alte Testament hat diese Begrifflichkeit übernommen (Gen 32,31; Ex 24,10; Ps 42,3). Da es aber in Israel aufgrund des Bilderverbots (Ex 20,4-6) offiziell keine bildlichen und rundplastischen Darstellungen Gottes gab, konnte der Ausdruck hier nicht mehr das äußerliche Sehen eines Gottesbildes bezeichnen. Das Wort „Gott(es Antlitz) schauen“ wird zur Metapher für den inneren Vorgang einer Gotteserfahrung. Genau darauf zielt Ijob 42,5 ab. Dass hier kein äußerer Vorgang, auch kein Besuch im Tempel, sondern eine innere Erfahrung zur Sprache kommt, ergibt sich schon allein aus dem Kontrast zur vorangehenden Gottesrede: Gott hatte „gesprochen“, doch Ijob hat „geschaut“. Nirgends wird hier das Aussehen Gottes beschrieben. Ijob hat keine göttliche Gestalt gesehen (vgl. Dtn 4,12). Was hier beschrieben wird, ist die der Mystik sehr wohl vertraute Form einer bildlosen Gottesschau. Thomas von Aquin spricht in seinem Ijob-Kommentar von einer inspiratio interior, einer „inneren Eingebung“ (zu 38,1ff.)

Damit ist etwas für die jüdisch-christliche Tradition Wesentliches gesagt. Der „innere Mensch“ (homo interior) kommt in den Blick. Die Entdeckung des inneren Menschen gehört zum bleibenden Verdienst der christlichen Philosophie. Sie hat ihre Vorläufer in der antiken, insbesondere der platonischen Tradition und ihre Wurzeln in der Heiligen Schrift. Äußerlich gesehen hat sich für Ijob noch nichts geändert. Er sitzt noch „in Staub und Asche“ (Vers 6). Doch innerlich ist er ein anderer geworden. Den Streit mit Gott erklärt er für beendet (40,4-5). Er verwirft das, was er vor dem Ereignis, welches ihm jetzt widerfahren ist, gesagt hat (Vers 6), wenngleich er damals nicht anders sprechen konnte, weshalb er auch von Gott – im Unterschied zu seinen Freunden – nicht getadelt wird (42,7).

 

Vom Glauben zum Schauen

 

In den Gottesreden wird Ijob vom Glauben zum Schauen geführt. Wenn wir im Himmel sind, so die einhellige Lehre der Kirche, werden wir nicht mehr an Gott glauben, sondern wir werden ihn schauen, „von Angesicht zu Angesicht“ (vgl. 1 Kor 13,12; 1 Joh 3,2; Offb 22,4) – so zumindest hat Papst Benedikt XII. im Jahre 1336 „kraft Apostolischer Autorität“ entschieden. Damit wird er wohl Recht haben. Denn im Hebräerbrief heißt es: „Glauben ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Wenn wir Gott im Himmel schauen und wenn „glauben“ bedeutet „Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1), dann können wir im Himmel nicht mehr an Gott glauben, da wir ihn schauen. Jetzt, da wir noch auf Erden sind, glauben wir an Gott. Deshalb sagt der Apostel Paulus: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe“ (1 Kor 13,13). Doch was geschieht, wenn der Glaube in eine Krise gerät, wenn er nicht mehr trägt, wie bei Ijob?

Dann bieten sich drei Möglichkeiten an. Zum einen, den Glauben zu verwerfen. Ijobs Frau schlägt dies vor: „Lästere Gott und stirb!“ (2,9). Eine zweite Möglichkeit bieten Ijobs Freunde an: im überkommenen Glauben („was wir gehört haben“, 5,27) zu verharren und zu versuchen, die missliche Lage mit klugen Worten zu erklären und zu verstehen. Beide Möglichkeiten werden von Ijob verworfen. Zu seiner Frau sagt er: „Wie eine von den Törinnen redest du“ (2,10). Seinen Freunden empfiehlt er: „Dass ihr endlich schweigen wolltet, das würde Weisheit für euch sein!“ (13,5). Ijob wählt eine dritte Möglichkeit: Er geht den Weg, den der Glaube weist: „Ich will zum Allmächtigen reden, mit Gott zu rechten ist mein Wunsch“ (13,3). Auf dem Höhepunkt seiner Not ist er zutiefst davon überzeugt, dass dieser Weg ihn dahin führen wird, Gott zu schauen: „Ihn selber werde ich dann für mich schauen, meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd“ (19,27).

Als ein gottesfürchtiger, das heißt: als ein gläubiger Mann wird Ijob zu Beginn der Erzählung vorgestellt (1,1). Zunächst schien es so zu sein, als könne er das schwere Leid, das ihn getroffen hatte, im Glauben bewältigen: „Noch immer hält er fest an seiner Frömmigkeit“ (2,3). Doch als nach einem zweiten satanischen Schlag und nach siebentägigem Schweigen das ganze Ausmaß des Elends zum Vorschein kam und immer tiefer in sein Bewusstsein eindrang, begann sein Glaube zu zerbrechen. Hellsichtig haben das seine Freunde erkannt: „Du brichst sogar die Gottesfurcht, zerstörst das Besinnen vor Gott“, hält ihm Elifas vor (15,4; vgl. 6,14). Mit einem „Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1) konnte sich Ijob nicht mehr zufrieden geben. Zu groß war die Not, die ihn getroffen hatte. Mit Gott selbst wollte er in Kontakt kommen und nicht nur mit dem, was über ihn gesagt wird (vgl. 13,1-3). Tatsächlich ist ihm dies gelungen. So ist folgerichtig im Schlussteil der Erzählung (42,7-17) nicht mehr davon die Rede, dass Ijob Gott fürchtet, dass er an Gott glaubt. Er ist den Weg des Glaubens zu Ende gegangen und ein Schauender geworden. In der Erzählung heißt es, dass er noch hundertvierzig Jahre (so) gelebt habe (42,16).

 

Identität und Wandlung – Auflösung und Erlösung

 

Wenn ich recht sehe, liegen in Faust und Ijob zwei unterschiedliche Konzeptionen von Identität und Wandlung vor. Ijob durchläuft einen Prozess der Wandlung. Doch am Ende löst er sich nicht auf. Es kommt in der Begegnung mit Gott zu einer tiefen Kohärenzerfahrung. Seine durch das Leid hervorgerufene Zerrissenheit wird nicht durch Auflösung seiner Persönlichkeit aufgehoben, sondern zusammengeführt und somit versöhnt. Über den Weg der Rebellion wird Ijob, der Rebell, zu Ijob, dem Dulder – was er bereits am Anfang war, jetzt aber in einem bewussten Akt der Annahme. In Faust kommt gleich in der 1. Szene der Tod – und zwar der Suizid – als Erlösung in den Blick. Im letzten Moment wird Faust durch den Chor der Engel: „Christ ist erstanden!“ davon abgehalten. Auch im Ijobbuch kommt einige Male der Tod als Lösung, ja als Erlösung in den Blick; aber nicht in dem Sinne, dass Ijob erwägt, sich selbst zu töten. Er erwartet den erlösenden Tod von Gott. Doch dieser tötet ihn nicht. Ijob empfindet das als Qual: „Erwürgt zu werden, zöge ich vor, den Tod meinem Totengerippe. Ich mag nicht mehr, ich will nicht ewig leben“ (7,15f). Die Lösung, die das Ijobbuch präsentiert, besteht in der Gottesschau. Ijob wird – noch vor seiner äußeren Wiederherstellung – auf eine andere Ebene des Bewusstseins gehoben und erklärt den Streit mit Gott für beendet.

Ijob und Faust stimmen darin überein, dass sie nicht aus eigener Kraft aus ihrer Not herausfinden. Ijob vertraut – bei allem Streit mit Gott – letztlich doch darauf, dass die Erlösung nur von Gott kommen kann. Irgendwelche magischen Praktiken oder gar ein Pakt mit dem Teufel spielen dabei keine Rolle. Der Satan taucht nach dem Prolog im Ijobbuch nicht mehr auf. Ganz anders im Faust. Mephisto spielt im Drama eine Schlüsselrolle. Faust wird mit Hilfe einer durch Mephisto herbeigeführten Verzauberung auf einen Weg geführt, der ihm Erlösung verspricht, ihn aber letztlich in die Fänge des Teufels führt.

Kommt es am Ende doch zur Gottesschau, wie der Chor seliger Knaben singt, da die Engel Faustens Unsterbliches tragend in die Höhe schweben?

Göttlich belehret
Dürft ihr vertrauen,
den ihr verehret,
Werdet ihr schauen (399).

Woher kommt die Erlösung? Aus der eigenen Anstrengung des Menschen, wie der Schluss von Faust II andeutet? Ober bedarf es doch der entgegenkommenden Liebe, die dem Menschen, der sich bemüht, an die Hand nimmt? Oder beides zusammen, wie der Chor seliger Knaben am Ende anzudeuten scheint?

Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen,
‚Wer immer strebend sich bemüht
Den können wir erlösen.’
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben Teil genommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen (399). 

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