I.
Die spärlichen Zeugnisse, die von der umstrittenen Lebensweise des legendenhaften Dr. Faust erhalten sind, reichen zum Teil in die vorreformatorische Zeit zurück. Wenn wir ihn in eine imaginäre Zeitgenossenschaft mit Kaiser Maximilian und Luther, mit Kolumbus und Kopernikus bringen, wird zumindest umrisshaft erkennbar, dass wir uns an einer Weggabelung befinden. Die sehr viel spätere Einschätzung von Heinrich Heine, aus seiner Schrift Die Romantische Schule von 1835, mag uns zwar etwas plakativ erscheinen: „daß mit Faust die mittelalterliche Glaubensperiode aufhört und die moderne kritische Wissenschaftsperiode anfängt“. Aber dass die Faustfigur in ihrem Nimbus als ein Grenzgänger beschrieben werden kann, ist sicherlich vertretbar, denn viele Merkmale des Unentschiedenen, des Doppeldeutigen tragen zur offenbar unaufhörlichen Faszination dieser Gestalt bei. Es sind etwa die Spannungen zwischen angeblicher Gelehrsamkeit und Scharlatanerie, zwischen Melancholie und Risikobereitschaft, zwischen Sündhaftigkeit und Experimentiergeist. Auch die Frage der Konfessionen spielt dann im Faust-Stoff zweifellos eine große Rolle; das verbindet diese Figur mit den anderen großen Mythen der Frühen Neuzeit, mit den spanischen Figuren des Don Quijote und des Don Juan, aber auch mit Hamlet, der bekanntlich aus Wittenberg an den dänischen Hof zurückgereist ist, wenn Shakespeares Stück beginnt. Von Wittenberg und Thüringen ist dann auch die Rede, wenn in der sogenannten Historia von 1587 die Herkunft „deß weitbeschreyten Zauberers“ Dr. Faust beschrieben wird. Schon die Frage des Geburtsortes konnte dabei Ausdruck erheblicher Anfeindungen innerhalb der protestantischen Bewegung sein. Der uns unbekannt gebliebene Verfasser dieser Historia hat Luthers „Glauben an den Teufel als echten Widersacher Gottes“ mit den spärlichen Angaben einer legendären Faust-Figur verbunden. Indem sich dieser Schwarzkünstler „gegen dem Teuffel auff eine benandte Zeit“ verschreibt, wie es im Titelblatt heißt, setzt er für seine Wissbegierde, die seit Augustinus verurteilte „curiositas“, sein Seelenheil ein. Nach 24 Jahren holt ihn dann auch bekanntlich der Teufel, denn mögliche Auswege aus seiner Verstrickung, wie etwa die Reue, sind ihm ausdrücklich verwehrt. Sein Abfall vom Glauben ist irreparabel. Zwar hat der Verfasser der Historia neben vielen anderen Quellen auch auf protestantische Exempelsammlungen zurückgegriffen. Faust erscheint als Negativbeispiel, als Warnung, „als ein schrecklich Exempel des Teuffelischen Betrugs / Leibs und Seelen Mords“, wie es in der Widmung des Buchdruckers heißt. Aber Faust bleibt auf eine sonst nicht übliche Weise auf Dauer in den Fängen des Teufels; der auch von Luther als Möglichkeit gezeigte Ausweg, sich durch die Berufung auf das Evangelium und die Gnadenlehre dem Zugriff des Bösen zu entziehen, ist in der Historia folgenlos. Die protestantische Warnschrift der Historia ist somit selbst auf einer Grenze angesiedelt. Es gab protestantische Städte, die das erfolgreiche Buch nicht drucken lassen wollten. Anderseits ist nicht zu verkennen, dass sie überdies eine antikatholische Tendenz verfolgt. Das wird aus den satirischen Schilderungen des 26. Kapitels deutlich: Darin ist von Fausts Aufenthalt in Rom die Rede, und er wird Zeuge des „gottlosen Wesens“ im üppigen Palast des Papstes.
II.
Spuren einer katholischen Tradition lassen sich im Verlauf der Stoffgeschichte nur mühsam rekonstruieren – etwa wenn wenige Jahre nach der Historia (in ihrer Bearbeitung durch Georg Rudolf Widmann 1599) nunmehr das katholische Ingolstadt als Studienort an die Stelle von Wittenberg tritt. Dabei würde eine katholische Lesart sehr viel mehr Potential bieten können als bloß eine gegenprotestantische Wendung. Der katholische Heiligenhimmel erlaubt auch in Fällen hoffnungslos scheinender Verwerfung einen möglichen Ausweg, durch die Fürsprache, das Freibitten, die Verzeihung einer Schuld. Eine solche Möglichkeit wird in der sogenannten Theophilus-Legende gezeigt, die zu den beliebteren Stoffen des Mittelalters gehört. Sie berichtet vom Teufelspakt dieses verstoßenen Heiligen, der nur durch die Fürsprache Marias aus seinem Vertrag gelöst wird und einen versöhnten Tod findet.
Dass sich über Goethes Verhältnis zur Religion, zum Christentum und zum Katholizismus nicht in einer Viertelstunde sprechen lässt, wird niemand verwundern. Und dass er dem Katholischen besonders wohl gesonnen gewesen wäre, wird ebenfalls niemand erwarten, denn das Bild ist vielfach geradezu aggressiv. „Ich heidnisch? Nun ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilien verhungern lassen, ist denn das den Leuten nicht christlich genug?“, soll er geantwortet haben. In der Autobiographie ist dann vom Christentum zu seinem „Privatgebrauch“ die Rede, gegenüber Eckermann bezeichnet er die Katholiken als eine Meute von Hunden, die nur in der Jagd auf Protestanten einig wären. Andererseits findet sich im Reisetagebuch der Italienischen Reise seine Sympathie für die „katholische Mythologie“ bzw. in der Rezension zu „Des Knaben Wunderhorn“ für „die Katholiken mit ihren mythologischen Figuren“.
Die Frage, wie katholisch die Wette in Goethes „Faust“ ist, lässt sich indes weniger aus Goethes prekärer Theologie als aus der Entstehungsgeschichte des Dramas beantworten. Wir müssten dazu von vier verschiedenen Stadien ausgehen, nämlich:
- der Arbeit an einer frühen Fassung, die Goethe schon vor der Weimarer Zeit geschrieben hat, die aber unveröffentlicht blieb;
- der Veröffentlichung des Faust-Fragmentes in Goethes erster Gesamtausgabe von 1790. Hier fehlen noch die Studierzimmer-Szenen, aber auch der Prolog im Himmel.
- Diese Passagen, wohl vor und um 1800 geschrieben, finden wir erst im 1808 gedruckten „Der Tragödie erster Teil“.
- Welche Folgen ergeben sich für den Schluss des Zweiten Teils, der erst direkt nach Goethes Tod erschienen ist?
Dass Goethe aber das enorme religiöse Potential des Faust-Stoffes sofort gesehen hat, ist nicht zu verkennen. Die berühmte Gretchenfrage – „Wie hast du’s mit der Religion“ (V. 1107), in der man (Kemper) den Schlüssel zum Verständnis der „frühen Neuzeit“ insgesamt gesehen hat, wird von Faust bekanntlich ausweichend beantwortet mit rhetorischen Fragen („Wer darf ihn nennen?“) und im Zwielicht der Litotes (“Misshör mich nicht“). Aber damit musste Goethe auch die Heillosigkeit und Erbarmungslosigkeit der Puppenspielfabel vor Augen stehen, wie auch immer verwässert sie den Untergang Fausts in Marlowes Tragödie überliefert haben mag. Natürlich hat Goethe in keiner Weise eine Rekatholisierung des Faust-Stoffes betrieben, aber was im katholischen Milieu offenbar als Ausweg selbst für Teufelsbündner möglich war, hat er auf eine raffinierte Weise genutzt.
III.
Der Versuch, zwei Parameter unter einen Hut zu bringen, wollte allerdings lange Zeit nicht gelingen – zu unterschiedlich waren die beiden Schwerpunkte des Dramas gewichtet: Weder in der frühen Fassung noch im Fragment konnte sich aus dem enormen Gewicht, das der Gretchentragödie zukommt, ein befriedigender Abschluss ergeben. Denn die sogenannte Gelehrtentragödie, die ihr ja vorausgeht, bestand in nicht viel mehr als der Erdgeistbeschwörung sowie den Auftritten Wagners und dann schon des Schülers. Dann folgt die bereits in der ersten Entstehungsstufe voll ausgearbeitete Gretchentragödie. Goethes Entscheidung, hier aus einer beiläufigen Episode der Stofftradition, nämlich einer Verführungsgeschichte, das zentrale Moment zu machen, fügte sich lange Zeit nicht zum Ganzen:
Der sogenannte Urfaust, jene frühe Fassung, die erst lange nach Goethes Tod an die Öffentlichkeit kam, endet unversöhnt mit der bevorstehenden Hinrichtung Margaretes; dem „Sie ist gerichtet“ des Mephistopheles wird nicht widersprochen. Das muss Goethe auf die Dauer beunruhigt haben, wenn er den Teufelsbündner nicht im schlichten Sinne vom Teufel holen lassen wollte. In dem 1790 gedruckten Faust-Fragment wird zwar die Brutalität der Kerker-Szene herausgeschnitten bzw. unterdrückt, aber die dort den Abschluss bildende Szene „Im Dom“ kann die Schuld Fausts natürlich ebenfalls nicht wirklich mildern.
Die Auseinandersetzung mit der Faust-Figur bleibt für Goethe 1790 nur als Fragment möglich. Und dies ist im Rahmen seiner zunehmend klassizistisch geprägten Ästhetik kaum eine befriedigende Lösung. Die neu hinzugekommene Szene Wald und Höhle leistet nur eine vorübergehende Distanzierung Fausts von der Macht des Bösen. Faust erkennt, dass er durch Mephisto vor sich selbst erniedrigt ist (V. 3245), aber die Kraft zur Befreiung hat er nicht.
Im Blick auf die Entstehungsgeschichte könnte man diesen Befund so formulieren: Goethe bleibt in der Arbeit am „Faust“ in einer Zwickmühle. Auf der Ebene der Handlung ist eine Rettung Fausts nicht in Sicht, und solange diese nicht erreichbar ist, bleibt das Stück unvollendbar.
IV.
Hier nun setzt Goethes Befreiungsschlag ein, und ich würde ihn, als Arbeitshypothese und der Kürze der Zeit geschuldet, als quasi-katholische Entschuldigungsstrategie bezeichnen. Mit der Erfindung des Rahmens, des „Prologs im Himmel“, gelingt Goethe der alles verändernde Schachzug. Durch diese Gesprächssituation zwischen Gott und dem Teufel wird die Fausthandlung meta-dramatisch entlastet und zugleich moralisch ironisiert. Das Geschehen um den Dr. Faust wird Teil der Wette zwischen dem Gott und seinem Widersacher, eine Wette, die angesichts der Hierarchie keineswegs offen bleibt. Der Entschluss des Herrn, den bislang nur verworren dienenden Knecht „bald in die Klarheit [zu] führen“ (V. 309), lässt sich durch keinen noch so raffinierten Aktionismus des Teufels ausbremsen.
Auch wenn es lange Zeit ganz anders aussieht: Wir werden Zeuge, wie Faust nur knapp der Todsünde des Suizids entgeht, wie er Liebe, Hoffnung, Glauben und Geduld verflucht, wie er mit dem Teufel paktiert und seinerseits wettet, wie er Gretchen verführt, verlässt und am Ende der Hinrichtung überlässt.
Der Teufel selbst muss die Begrenztheit seiner Negativität einräumen – „ein Teil von jener Kraft,/ Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (V. 1335f.) –, und am Ende der Gretchentragödie ist nun, aber erst nach den Rahmenbedingungen aus dem „Prolog im Himmel“, ein Ausklang möglich, der auch Fausts Rettung zumindest nicht ausschließt. Die Stimme, die in der Kerkerszene „von oben“ das „Ist gerettet“ dem teuflischen „Sie ist gerichtet“ entgegenruft, verweist auf die höhere Ebene, auf die weder Faust noch Mephisto Zugriff haben.
Trotz der Selbstvorwürfe, die Faust dann zu Beginn des 2. Teils gegen sich erhebt, verstrickt er sich weiterhin in Schuld und Schulden, am Ende gibt er gar den enthemmten Großkapitalisten, der wegen eines Stückchen Landes das alte Paar Philemon und Baucis über die Klinge springen lässt. Und dennoch endet auch der 2. Teil nicht mit einem „Er ist gerichtet“, sondern mit einer „Lösung“, einer Entlastung. Dazu greift Goethe in der „Bergschluchten“-Szene auf Gretchen als eine der Büßerinnen zurück, die nun, als eine Art Liebesheilige, für Faust Fürbitte einlegt und ihn damit rettet, ungeachtet seines kompletten Scheiterns. Goethe greift dazu auf die „Acta Sanctorum“ zurück, eine aus dem Kreis jesuitischer Bollandisten erstellte Sammlung von Heiligenlegenden. So lässt Goethe schließlich Gnade vor Gerechtigkeit walten – weshalb Faust keineswegs aus eigener Kraft, sondern durch die Vermittlung gerettet werden kann. „Mephistopheles“, so Goethe in einem Brief von 1820 an Karl Ernst Schubarth, „darf seine Wette nur halb gewinnen, und wenn die halbe Schuld auf Faust ruhen bleibt, so tritt das Begnadigungs-Recht des alten Herrn sogleich herein, zum heitersten Schluß des Ganzen“.
Goethe hat somit drei raffinierte Strategien eingesetzt, um gleichzeitig Faust aus der Verbannung in die Hölle zu retten und das Stück zum Abschluss zu bringen:
- Er lässt Faust sterben – aber nicht den gewaltsamen Tod der Historia, sondern den, wie Goethe über Ödipus sagt, „Verschwindenstod“ eines Hundertjährigen.
- Die Gretchen-Handlung übernimmt zentrale Bedeutung: Ihre Liebe führt zu Verzeihen und Entlastung am Ende. Was in der Historia nur eine Episode der Sinnlichkeit ist, wird bei Goethe zum Angelpunkt von größter Schuld und schließlicher Erlösung – unter Anleihen katholischer Traditionen.
- Die Wette im Prolog im Himmel ist als eine Art Sicherheitsgarantie und Risiko-Minimierungs-Strategie vorgeschaltet und ermöglicht den guten Ausgang.
V.
Damit muss Goethe, anders als in der Theophilus-Legende, nicht ganz schlicht auf den katholischen Heiligenhimmel zurückgreifen; er verquickt vielmehr dessen Freispruchpotential mit der Liebesreligion und dem opernhaften Finale der Bergschluchten. So kann man natürlich nicht von einer katholischen Lösung der Tragödie sprechen. Aber Goethe nutzt die Elemente der katholischen Tradition für eine poetisch beherrschte Begnadigungsgeschichte, in der am Ende die unerschütterliche Liebe den Ausschlag gibt und das Böse in seine Schranken verweist. Das Begnadigungsrecht deutet auf das Unabsehbare, auf die Grenzüberschreitung einer auf den Buchstaben fixierten, geistlosen Verdienst- und Schuldmoral, wie sie die Faust-Tradition geprägt hat. Wie schon für den protestantischen Sympathisanten der Ketzer, wie für Lessing, ist auch für Goethe die Faustfigur ein Grenzüberschreiter aller Verrechenbarkeit. Das von Goethe immer wieder in Anschlag gebrachte Inkommensurable seiner Dichtung lässt sich moralisch oder konfessionell gerade nicht einfangen oder reklamieren. „Wer der Liebe Gottes Gränzen bestimmen wollte“, lässt Goethe schon 1772 den spinozistischen Pastor sagen, „würde sich noch mehr verrechnen“. Und sechzig Jahre später, 1831, entdeckt er in der Sekte der „Hypsistarier“ mit der größten Sympathie eine Gruppe von Gläubigen, die „zwischen Heiden, Juden und Christen geklemmt“, „erklärten, das Beste, Vollkommenste, was zu ihrer Kenntnis käme, zu schätzen, zu bewundern, zu verehren und, insofern es also mit der Gottheit im nahen Verhältnis stehen müsse, anzubeten“. Hier sind alle Grenzen der Moral im Sinne eines inkommensurablen Begnadigungsrechtes überwunden.
In der Kategorie des Inkommensurablen kommen die Aspekte des Religiösen und Poetischen, des Mathematischen und des Erotischen zusammen. In der Wette haben sie einen kreativen Angelpunkt gefunden, der nicht zuletzt für die übermoralische und überkonfessionelle Gestaltbarkeit der Ent-Schuldigung des schuldig gewordenen Doktor Faust entscheidend ist.