Wilhelm von Humboldt

Perspektiven und Fragestellungen seines Bildungsverständnisses heute

In diesem Jahr feiern wir ein bemerkenswertes Jubiläum eines besonderen Menschen: Am 22. Juni 1767 wurde Wilhelm von Humboldt geboren. Sein 250. Geburtstag soll Anlass sein, um auf sein Wirken zurückzublicken, aber auch nach vorne zu schauen: Welche Ideen prägten das Denken und Handeln Wilhelm von Humboldts? Was ist aus diesen Ideen geworden? In welchen Punkten gibt es Weiterentwicklung, wo täte Rückbesinnung not und wo muss davon Abstand genommen werden?

Obschon sein Einfluss in zahlreiche gesellschaftliche Felder bis heute sichtbar ist und beispielsweise in den Naturwissenschaften, in der Sprachtheorie, in der Staatstheorie und in den Kulturwissenschaften hineinreicht, soll anlässlich des Jubiläums verstärkt der Blick in den pädagogischen Kontext gerichtet werden. Denn mehr denn je sind es Bildungsfragen, die den öffentlichen Diskurs bestimmen und gerade in Zeiten einer anstehenden Bundestagswahl zum Kristallisationspunkt der bildungspolitischen Auseinandersetzung werden.

Verfolgt man diese aktuellen Auseinandersetzungen, so zeigt sich schnell: Wilhelm von Humboldt ist eine der wichtigsten historischen Bezugspunkte und wird zur Untermauerung vieler Positionen herangezogen. Manchmal zu Recht, aber nicht weniger selten zu Unrecht scheint Wilhelm von Humboldt instrumentalisiert zu werden. Vom „Heilsbringer“ bis zur „Traditionskeule“ reichen die zu findenden Zuschreibungen und sie fordern auf, genauer hinzuschauen.

Im Folgenden wird ein solcher Versuch unternommen und das pädagogische Denken und Handeln Wilhelm von Humboldts an vier Facetten erläutert: das Mythische, das Visionäre, das Dialektische und das Pädagogische. Bevor diese Facetten aber erörtert werden können, ist es allein schon aus hermeneutischer Sicht notwendig, sich zumindest in den Grundzügen mit der Person Wilhelm von Humboldts auseinanderzusetzen und sein Leben einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

 

Ein biographischer Streifzug

 

Wilhelm von Humboldt, der eigentlich Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand heißt, wurde am 22. Juni 1767 als zweiter Sohn von Alexander Georg und Elisabeth von Humboldt geboren. Sein Bruder ist Alexander von Humboldt, der bekannter Naturforscher war. Die Humboldts waren ursprünglich eine Bürgerfamilie, die 1738 auf eigenes Ersuchen hin in den Adelsstand gehoben wurden. Aufgrund des Vermögens scheuten die Eltern der Gebrüder Humboldt Investitionen in die Bildung ihrer Söhne nicht, sondern engagierten hochqualifizierte Hauslehrer. Darunter beispielsweise Johann Heinrich Campe, zu dem die Brüder zeitlebens Kontakt hielten. Campe selbst ist der pädagogischen Geschichtsschreibung bekannt als einer der zentralen Aufklärungspädagogen und als einer der führenden Philanthropen, unter anderem tätig am Philanthropin in Dessau, gegründet von Johann Bernhard Basedow. Für damalige Verhältnisse zeigte sich die Erziehung der Gebrüder Humboldt demzufolge offen, innovativ, umfassend und eröffnete beiden den Zugang zu den wichtigsten Kreisen der Zeit. So hatten sie Kontakt zu Jacobi, Wolf, Goethe sowie Schiller und lasen Hume, Locke und Kant. Wilhelm von Humboldt zeigte bereits früh sein Interesse an Natur, Recht, Sprache sowie Bildung und beherrschte unter anderem Griechisch, Latein, Französisch, Englisch und Italienisch. Nicht nur für Maßstäbe seiner Zeit, sondern auch für heutige zeigt sich Wilhelm von Humboldt folglich als Universalgelehrter. Aufgrund seiner diversen politischen Ämter sammelte er des Weiteren zahlreiche Erfahrungen außerhalb Deutschlands. Er wirkte als Gesandter in Paris, London, Wien und Rom. Gerade vor dem Hintergrund der Zielsetzung des vorliegenden Beitrages dürfte seine wichtigste Station in Berlin gewesen sein, als er 1809 zum Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultur und Unterricht bestellt wurde. Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle seine familiäre Situation, die ebenfalls als erfüllt bezeichnet werden kann: 1791 heiratete er Caroline von Dacheröden, mit der er acht Kinder hatte, drei davon allerdings zu Grabe tragen musste. Wilhelm von Humboldt selbst starb am 8. April 1835 im Alter von 68 Jahren.

Dieser Einblick in das Leben Wilhelm von Humboldts soll an dieser Stelle ausreichen, um darauf aufbauend die bereits genannten Facetten seines Denkens und Handelns beleuchten zu können: das Mythische, das Visionäre, das Dialektische und das Pädagogische.

 

Das Mystische

 

Woher kommt es, dass Wilhelm von Humboldt über Jahrzehnte hinweg als der Bildungsreformer gesehen wird? Wodurch unterscheidet er sich von seinen Zeitgenossen? Was ist das Besondere an seinem Denken und Handeln? Warum ist ausgerechnet er der Bezugspunkt für Bildungsdiskussionen bis heute? Bereits diese Fragen lassen erahnen, dass Wilhelm Humboldt nicht alleine im Rampenlicht seiner Epoche stand. Vielmehr wurde sie dominiert von Denkern wie Goethe und Schiller. Und dennoch kommt Peter Berglar zu dem Schluss: „Obwohl Humboldt sich an Tiefe nicht mit Goethe, an Dynamik nicht mit Schiller und an Schöpferkraft mit beiden nicht von Ferne messen konnte, hat doch gerade er vielleicht den stärksten, sicher aber den längsten Einfluss auf die deutsche Entwicklung genommen.“

Ein Grund hierfür liegt sicherlich in seiner bereits angesprochenen Stellung als Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultur und Unterricht. Damit war Wilhelm von Humboldt in politischer Verantwortung und musste gestalten. Mehrere Umstände ermöglichten ihm, mit vollem Tatendrang Reformen anzudenken und auch anzustoßen. Größtenteils blieb es aber auch dabei. Denn bereits nach 16 Monaten warf Wilhelm von Humboldt das Handtuch und trat vor allem aufgrund politischer Verstrickungen zurück. Mag dies im Moment des Rücktrittes zweifelsfrei als ein Scheitern Wilhelm von Humboldts zu interpretieren sein, so zeigt sich diese kurze, aber intensive Amtszeit als Grundlage für das Mythische: Eine Vielzahl an Innovationen, an Ideen und an Reformen wurden nur skizziert und mussten sich nicht an der harten Realität bewähren. So bleiben bis heute viele Gedanken von Wilhelm von Humboldt lebendig.

 

Das Visionäre

 

Welche Innovationen, Ideen und Reformen sind es bis heute, die Wilhelm von Humboldt als Bildungsreformer in die Geschichtsbücher eingehen haben lassen? Ausgehend von seinen bildungstheoretischen und -politischen Fragmenten, die Wilhelm von Humboldt hinterlassen hat, sind es im Wesentlichen vier Aspekte, die als visionär eingestuft werden können: Erstens tritt Wilhelm von Humboldt in Bildungsfragen für eine verantwortungsvolle Rolle des Staates ein. Dieser habe in erster Linie für eine (finanzielle) Absicherung des Bildungswesens zu sorgen und in diesem Sinn nur steuernd einzugreifen. Zweitens ist er in humanistischer Tradition der Auffassung, dass es vor allem die Menschen sind, die Bildungsprozesse ermöglichen. Insofern sieht Wilhelm von Humboldt pädagogische Institutionen und Bildungseinrichtungen in einer Autonomie. Drittens ist er ein Verfechter einer Bildungsgesellschaft. Jeder Mensch ist in der Lage, sich zu bilden und jeder Mensch sollte seinen Möglichkeiten nach unterstützt werden. Und viertens definiert er Leistung als gesamtgesellschaftliches Prinzip. Infolgedessen sollte Aufstieg und Wohlstand nicht so sehr das Ergebnis von Abstammung und Erbe sein, sondern die Folge von Leistung.

 

Das Dialektische

 

Die bisherigen Ausführungen haben bereits anklingen lassen, dass das Denken und Handeln Wilhelm von Humbolts nicht ohne Spannungsverhältnisse auskommt. Vielmehr lebt es gerade von diesen und zeigt sich vor allem dort als visionär, wo es gelingt, die Spannungsverhältnisse herauszukristallisieren und in eine Synthese überzuführen. Damit erscheint Wilhelm von Humboldt im klassischen Sinn als Dialektiker. Besonders eindringlich zeigt sich diese Eigenschaft an den zuvor genannten Aspekten der staatlichen Absicherung des Bildungswesens einerseits und der Autonomie der pädagogischen Institutionen andererseits. Beide Pole versuchte er in seiner Zeit als geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultur und Unterricht umzusetzen. So sorgte er für die Einführung von Ausbildungsplänen, Prüfungsordnungen und Examina, garantierte aber ebenso durch finanzielle Zugeständnisse Spielräume. Die pädagogische Grundfrage Immanuel Kants, wie es gelingen möge, „die Freiheit bei dem Zwange“ zu fördern, kommt einem ebenso in den Sinn wie die Zuspitzung Schleiermachers, wonach grenzenlose Freiheit aufhört Freiheit zu sein, sondern zur Beliebigkeit wird. Und damit findet sich bei Wilhelm von Humboldt die zentrale Unterscheidung des Freiheitsbegriffes in ein „frei sein von“ und ein „frei sein zu“, die bis heute den bildungspolitischen Freiheitdiskurs kennzeichnet: Während die staatliche Absicherung dafür Sorge trägt, dass Bildungseinrichtungen von existenziellen Fragen befreit sind, resultiert daraus aber auch die Verpflichtung, entstandene Möglichkeitsräume verantwortlich zu nutzen.

Wilhelm von Humboldt schreibt dazu: „Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässlichste Bedingung … Gerade die aus der Vereinigung Mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft gibt, und diese Manngifaltigkeit geht gewiss immer in dem Grade der Einmischung des Staates verloren. Es sind nicht mehr eigentlich die Mitglieder einer Nation, die mit sich in Gemeinschaft leben, sondern einzelne Untertanen, welche mit dem Staat, d. h. dem Geiste, welcher in seiner Regierung herrscht, in Verhältnis kommen, und zwar in ein Verhältnis, in welchem schon die überlegene Macht des Staates das freie Spiel der Kräfte hemmt. Gleichförmige Ursachen haben Gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte … Wer aber so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit misskennt und aus Menschen Maschinen machen will.“ Verfolgt man aktuell die bildungspolitischen Diskussionen zur Kompetenzorientierung oder zur Digitalisierung, so finden sich gerade diese Positionierungen wieder.

 

Das Pädagogische

 

Mit den angestellten Überlegungen ist bereits das Feld der Pädagogik beschritten. Welche Gedanken sind es, die Wilhelm von Humboldt als den Bildungstheoretiker bis heute erscheinen lassen? Wo erscheint es heute ebenso wie früher oder vielleicht sogar mehr denn je sinnvoll, sich auf ihn zu berufen? Erstens ist es seine Idee der Allgemeinbildung, die vor allem in den Arbeiten von Wolfgang Klafki zu größerer Bedeutung gefunden hat und in der Zuspitzung existiert: Bildung ist Allgemeinbildung. Wilhelm von Humboldt macht diesen Gedanken an einem Beispiel deutlich: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnung und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er sich und ohne Hinsicht auf seinen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen.“

Mit diesen Ausführungen verbindet sich ein zweiter Aspekt einer modernen Bildungstheorie: Bildung umfasst den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten. Ein Gedanke, der bis in die Länderverfassungen Eingang gefunden hat, beispielsweise in die Bayerische Verfassung, Art. 131, wo steht: „Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ In den Worten Wilhelm von Humboldts heißt es so: „Bildung bedeutet die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch-proportionierlich entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit die Menschheit bereichert.“ Bildung, so der zentrale und moderne Gedanke Wilhelm von Humboldts, ist immer allgemein und umfassend. Sie ist nicht bestimmten Ständen vorenthalten, sondern allgemeines Menschenrecht. Sie ist nicht auf einzelne Dimensionen des Menschseins beschränkt, sondern bezieht sich auf den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeitsräumen. Für den Staat folgt hieraus, dass er für derartige Bildungsprozesse Sorge tragen und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen muss.

Angesichts dieser Zuspitzung manifestiert sich im Denken und Handeln Wilhelm von Humboldts ein pädagogischer Kerngedanke: Die Grundlage von Bildung ist ein Menschenbild, das nicht ideologisch misszuverstehen ist, sondern als Einsicht in das Menschsein anzusehen ist. Am deutlichsten wird diese Einsicht aus heutiger Sicht an Artikel 1, Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Man kann diese Formulierung für eine normative Setzung halten, man kann sie mit Jürgen Habermas auch als Universalprinzip ansehen oder man kann sie als eine Erkenntnis betrachten, die seit der Antike besteht: die Würde des Menschen als Grundlage von Humanität.

Wilhelm von Humboldt schreibt hierzu: „Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist; wenn irgendeine die vielfach bestrittene, aber noch vielfacher missverstandene Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes beweist: so ist es die Idee der Menschheit, das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben; und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln. Es ist dies das letzte, äußere Ziel der Geselligkeit und zugleich die durch seine Natur selbst in ihn gelegte Richtung des Menschen auf unbestimmte Erweiterung des Daseins.“

 

Wilhelm von Humboldt: Ein Klassiker

 

„Die uns beleben, die können wir brauchen, das sind Klassiker.“ Diese Worte von Martin Walser bringen aus meiner Sicht auf den Punkt, warum die Auseinandersetzung mit Wilhelm von Humboldt lohnt – und nicht nur an seinem diesjährigen Jubiläum. Seine Ideen regen an zum Nachdenken, stellen das Heute infrage und fordern zur Auseinandersetzung auf. Wer uns belebt, der nimmt Einfluss auf unser Denken und Handeln im Hier und Jetzt, in unserer Gegenwart. Demgemäß bemerkt Friedrich Nietzsche, dass der „Spruch der Vergangenheit“ immer ein „Orakelspruch“ ist: „Nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen.“ All das trifft auf das Denken und Handeln Wilhelm von Humboldts in besonderer Weise zu.

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