Kein Archäologe hat jemals eine so breite Wertschätzung erfahren wie Johann Joachim Winckelmann, der Sohn eines Flickschusters aus Stendal. Das kommt schon in Goethes Schrift Winckelmann und sein Jahrhundert von 1805 zum Ausdruck, wonach in Winckelmann ein neues Kunstideal und die Wissenschaftsauffassung eines ganzen Saeculums kulminierten.
Anlässlich der Einweihung einer kolossalen Büste, die er bei dem Bildhauer Emil Wolff in Auftrag gegebenen hatte, erklärte König Ludwig I. von Bayern 1857 in der Villa Albani in Rom: „Was Winckelmann geleistet, schildern zu wollen, wäre überflüssig. Sein Wirken ist bekannt. Haben Spätere gleich die Wissenschaft der Kunst, welcher er sein Leben geweiht, ausgebildet, bleibt ihm doch das große Verdienst, den Grund dazu gelegt zu haben.“
Mit dieser Beurteilung stand der bayerische Monarch neun Jahre nach seiner Abdankung gewiss nicht allein. Aber die Verehrung, die Ludwig dem Begründer der Archäologie und Kunstgeschichte entgegenbrachte, hatte gewichtige Folgen, denn bereits als bayerischer Kronprinz sollte er zu einem begeisterten Liebhaber der klassischen Antike und zu einem der wichtigsten Förderer des Klassizismus in Deutschland werden. Neben seinen Verdiensten um die Konsolidierung des Staatshaushaltes sowie um die Eingliederung der neuen Untertanen – welche 1806 mit Napoleons Unterstützung unter bayerische Herrschaft gelangt waren – sind es vor allem seine Bauten und Kunstsammlungen, die Ludwig I. bis heute zur Ehre gereichen.
Es ist unstrittig, dass er Winckelmann hoch geschätzt hat. Doch welche Rolle hat das konkret für das Handeln des Kronprinzen und Königs gespielt?
I.
In der Kindheit von Ludwig, dem Sohn des Pfalzgrafen Max Joseph von Pfalz-Zweibrücken, lag zunächst kein Schwerpunkt auf der künstlerischen Ausbildung. Während seines kurzen Studiums 1803/1804 – inzwischen war sein Vater zum bayerischen Kurfürsten aufgestiegen – eröffneten sich für ihn neue Wissenswelten. Auch wenn an den Universitäten in Landshut und Göttingen Staatsrecht, Ökonomie, Regierungswissenschaft, Mathematik, Naturkunde und Geschichte im Vordergrund standen, hat der Wittelsbacher Prinz in Göttingen auch Vorlesungen zur Altertumskunde gehört. Der Student verkehrte u.a. im Hause des Zoologen und Anthropologen Blumenbach, einem Schwager des Altertumswissenschaftlers Christian Gottlob Heyne. Spätestens in der Abguss-Sammlung antiker Skulpturen der Göttinger Universitätsbibliothek dürfte Ludwig mit den Arbeiten von Winckelmann vertraut gemacht worden sein.
Mit 18 Jahren brach Ludwig 1804 zu einer großen Italienreise auf, die ihn über Venedig und die Städte Oberitaliens nach Rom und Neapel führte. Er hielt sich fast ein Jahr lang auf der Apenninhalbinsel auf und kehrte im Laufe seines Lebens immer wieder dorthin zurück. Die Reise im Stil der Grand Tour erweiterte den Bildungshorizont und gesellschaftlichen Gesichtskreis des jungen Mannes. Er spazierte durch die Straßen Roms, besuchte antike Ruinen und traf mit zahlreichen Künstlern wie dem Bildhauer Bertel Thorvaldsen und der Malerin Angelika Kauffmann zusammen, die ein Porträt von ihm anfertigte. Die deutsche Künstlerkolonie in Rom nahm ihn freudig auf. Wenn sie darauf spekuliert hatten, einen späteren Mäzen zu gewinnen, dann waren die Künstler damit sehr erfolgreich. Die Begegnung mit der Statue der Hebe in Venedig, einem Werk Antonio Canovas, führte bei Ludwig zu einem Erweckungserlebnis. Zweifellos ist in Italien seine Begeisterung für die Kunst und ganz besonders für die antike Plastik der Griechen geweckt worden.
Kaum von dort zurückgekehrt schrieb Ludwig am 2. April 1806: „Ich will ein Stifter werden einer Sammlung antiker Produkte der Bildhauerkunst“. Vier Jahre später formulierte er: „Wir müssen auch zu München haben, was zu Rom museo heißt“.
Auf der Heimreise von Italien erwarb Ludwig in Genf die Arbeit Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft des Historikers Johannes Müller. Sie sollte sein national-patriotisches Geschichtsbild prägen. Der Schweizer Historiker sensibilisierte Ludwig für das Freiheitsstreben einzelner Völker und weckte bei ihm das Interesse am Mittelalter.
In den folgenden Jahren lernte Ludwig mit Eifer und Ausdauer Griechisch und Latein, übersetzte Klassiker wie Herodot. Dabei wurde er u.a. von dem Bibliothekar Lichtenthaler angeleitet, der später Lehrer seiner Kinder werden sollte. Aber er eignete sich im Selbststudium auch umfangreiche Kenntnisse der Geschichte und Literatur an, lernte neben den alten Sprachen ferner Englisch, Italienisch und Spanisch. Im Vergleich mit anderen Standesgenossen erschien Ludwig als einer der gebildetsten Fürsten seiner Zeit. Er war jedoch nicht das, was wir heute einen Intellektuellen nennen würden. Vielmehr neigte er zu konkreter Anschaulichkeit. Ludwig stellte empfindsame Vorstellung über blutleere Rationalität.
Nicht ohne Wirkung auf Ludwigs spätere Kulturpolitik war auch sein halbjähriger Aufenthalt in Paris 1806 nach der Erhebung Bayerns zum Königreich von Napoleons Gnaden. Dort lernte er den französischen Kaiser aus der Nähe kennen und auch die von ihm in Paris zusammengetragene Kunst sowie die von Napoleon in Auftrag gegebene Architektur.
Seit 1812 hatte König Max I. Joseph seinem Sohn das vermeintlich unpolitische Feld der Kunst- und Baupolitik überlassen. Ludwig wusste das in den folgenden Jahren jedoch auch politisch nach seinen Vorstellungen zu nutzen. Seine Bautätigkeit und sein Mäzenatentum waren im deutschen Vergleich damals ohne Parallele.
Der Kronprinz wollte, so sagte er selbst, „aus München eine Kunststadt machen“. Weitsichtig erkannte Ludwig, dass Bayern machtpolitisch, militärisch und ökonomisch nicht zu den Großmächten aufschließen konnte. Vielmehr war es sein erklärtes Ziel, München zum Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Lebens in Deutschland zu machen. Die Residenzstadt soll ein Ort werden, „der Teutschland zur Ehre gereichen soll, dass keiner Teutschland kennt, wenn er nicht München kennt“. Damals ein sehr ambitioniertes Ziel.
Mit seinen Projekten verfolgte Ludwig – zunächst als Kronprinz, ab 1825 dann als bayerischer König – weit reichende Pläne: Die öffentlichen Bauten, Denkmäler und Kunstsammlungen sollten – gekoppelt mit Kultur- und Traditionspflege – dazu beitragen, die Einheit des neuen Bayern, seine Souveränität und die Monarchie zu sichern. Mit seinen Kunstschöpfungen wollte Ludwig den Untertanen Geschichte vermitteln und ihren Patriotismus in die richtigen Bahnen lenken.
Die in verschiedenen Stilen errichteten Monumente dienten dazu, am Beispiel von idealen Kunst- und Bauwerken, am Beispiel des Schönen, Wahren und Guten also, sein bayerisches Volk zu erziehen. Seinem volkspädagogischen Antrieb folgend machte er die wittelsbachischen Sammlungen einer breiten Öffentlichkeit frei zugänglich.
Für sein „Kunstkönigtum“ und die aktiv betriebene Geschichtspolitik wich Ludwig von der ihm sonst eigenen Sparsamkeit ab. Fast die Hälfte der ihm persönlich zur Verfügung stehenden Mittel hat er als Kronprinz, König und Pensionär für den Erwerb von Kunst und die Errichtung von Bauwerken ausgegeben. Prächtige Architektur, die Bayern und speziell München bis heute prägt. Monumentale Erzgießerei und wiederbelebte Freskomalerei sind seinem Mäzenatentum zu verdanken. Neben Antiken und italienischer Malerei erwarb er etwa mit der Sammlung Boisserée ein gewaltiges Konvolut altdeutscher und altniederländischer Malerei. Bei der Förderung der Nazarener ging es ihm auch um die Revitalisierung christlicher Kunst.
Damit Ludwig seine kühnen Kunstvisionen realisieren konnte, musste der bayerische Haushalt saniert werden. Der König erreichte dies unter anderem durch heftig umstrittene Kürzungen des Militäretats und Stellenstreichungen im Verwaltungsapparat. Auch aus privaten Einkünften finanzierte Ludwig seine Projekte. Selbst nach seiner Abdankung wandte er einen Großteil der ihm noch zur Verfügung stehenden Mittel für öffentliche Bauten und Denkmäler – etwa die Abteikirche St. Bonifaz, die Bavaria, das Siegestor, die Neue Pinakothek oder die Propyläen –, für Erwerbungen von Kunstwerken – beispielsweise den Kuros von Tenea – sowie für christlich-karitative Projekte auf.
II.
Am 4. Dezember1814 hatte Ludwig über die Akademie der Künste drei Wettbewerbsprojekte ausloben lassen: ein Invalidenhaus für bayerische Veteranen aus den Napoleonischen Kriegen, ein Gebäude, das seine Sammlung antiker Skulpturen aufnehmen sollte, und ein „Walhalla“ genanntes Ehrenmal für berühmte Deutsche.
Die Bedeutung Winckelmanns für die von Ludwig betriebenen Bauprojekte ist nicht zu leugnen. Der Königsplatz ist noch heute das eindrucksvollste klassizistische Ensemble in Deutschland und darüber hinaus. Für die Pläne einer Ruhmeshalle der Skulptur, die spätere Glyptothek, wie für die Walhalla hatte Carl Haller von Hallerstein, der Entdecker der Ägineten, erste Pläne vorgelegt, die Leo Klenze ab 1816 in den von ihm beaufsichtigten Bauten weitgehend übernahm. Für Ludwig wie für Klenze war es von zentraler Bedeutung, dass das Museumsgebäude von außen an einen griechischen Tempel erinnerte.
Doch bei den von Ludwig auf den Weg gebrachten Gebäuden – ebenso wie bei den ungefähr gleichzeitig entstandenen Bauten in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. – ist gerade das Nebeneinander klassizistischer und romantischer Tendenzen charakteristisch. Klenzes Museumsbauten in München, etwa die Glyptothek, erhalten im Inneren eine nazarenische Ausmalung, und der wichtigste Architekt im ludovizianischen München neben dem Klassizisten Klenze ist Friedrich von Gärtner, ein prominenter Vertreter des Rundbogenstils.
Der königliche Bauherr wollte die großen Stilarten der Vergangenheit erneuern. Ludwig I. begeisterte sich für die Baukunst der Antike, für deren Wiederaufleben in der Renaissance, aber auch die sakrale Kunst des Mittelalters hatte es ihm angetan. Rund 40 Großbauten ließ er im Zusammenspiel mit Architekten wie Klenze, Gärtner und Ziebland errichten.
Oftmals wird behauptet, Winckelmanns Schriften hätten auch auf die Einkaufspolitik Ludwigs einen starken Einfluss gehabt. Einer genaueren Betrachtung hält diese Einschätzung allerdings nicht stand. Tatsächlich hatte der Kronprinz ein Verzeichniß von Kunstwerken, die in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums besprochen worden waren, erstellt und am 8. Oktober 1813 an Wagner geschickt, damit sein Kunstagent in Rom danach forschen und das würdigste erwerben möge. Aber letztlich wurde nur ein einziges von den 21 aufgelisteten Werken in römischen Sammlungen für die Glyptothek gekauft: die Muse mit Leyer, heute als Apollon Barberini bezeichnet.
Seit 1808 erteilte Ludwig erste Aufträge, Antiken zu kaufen. Dabei lautete seine simple Vorgabe, „das schönste Kaufbare zu erwerben“. Bei seinen Skulpturenerwerbungen standen ihm u.a. die Maler Friedrich Müller und Georg Dillis sowie der Architekt Leo Klenze zur Seite. Sein wichtigster Berater, der über Jahrzehnte für ihn in Rom als Kunstagent agierte, war jedoch der Würzburger Maler Martin Wagner, den Ludwig 1808 kennen und schätzen gelernt hatte. Wie kein anderer besaß Wagner ein sicheres Qualitätsurteil und gute Nerven, um den Preis in den Verhandlungen zu drücken.
Selbstverständlich war Wagner auch mit den Schriften Winckelmanns vertraut. In seinen Briefen an Ludwig zitierte er vor allem aus der deutschen Übersetzung der Monumenti inediti. Folgte Wagner anfangs noch den gängigen, häufig auf Winckelmann zurückgehenden Beurteilungen, emanzipierte er sich zunehmend in seiner Einschätzung. Es ist keineswegs so, dass Wagner Winckelmann gering geschätzt hätte. Immer wieder beruft er sich in seinen Briefen an Ludwig auf dessen Einschätzung. Doch es ist offensichtlich, dass Wagner sich zunehmend auf sein eigenes Urteil verlassen hat. Ludwig wiederum hat Wagner fast blind vertraut und gut daran getan.
Trotzdem gelangten einige von Winckelmann sehr geschätzte Werke in die Glyptothek. Das gilt insbesondere für einige Stücke aus der Sammlung Albani, die Winckelmann zeitweilig betreut hatte, da der Kardinal Albani zu den bekanntesten Förderern des Altertumsforschers gehörte. 1815 gelang es Ludwig in Paris, von den etwa 130 dorthin verschleppten Skulpturen der Sammlung des Fürsten Albani schließlich 49 zu erwerben. Bei dieser Gelegenheit lernte er Leo Klenze schätzen. Sogar lange als unverkäuflich geltende Stücke wie die Eirene, die Büste der Athena Velletri oder der Faun mit den Flecken, den Winckelmann als eine der schönsten Büsten des Altertums gelobt hatte, waren darunter.
Der Kopf eines jungen Pan, heute unter dem Spitznamen Winckelmann’scher Faun bekannt, gehört ebenfalls dazu. „Schöner als jeder Schönheitsgedanke in Marmor ausgedrückt“, schrieb Winckelmann in einem Brief vom 30. April 1763 an Ludovico Bianconi über den Kopf, den er beim Restaurator Bartolomeo Cavaceppi gesehen und dann 1765 für seine eigene Sammlung erworben hatte. Der Kopf war nach Winckelmanns Tod in die Sammlung des Kardinals Albani gelangt und 1798 mit weiteren Teilen der Sammlung Albani von Napoleons Truppen in den Louvre verschleppt worden.
Auch die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Sammlung Rondanini war unter Mithilfe Winckelmanns erweitert worden. 1811 konnte Wagner verschiedene Skulpturen der Sammlung erwerben: Dazu gehörten u.a. die Statue des Alexander sowie im selben Jahr einige inzwischen in die Sammlung Capranica gelangte Stücke wie die berühmte Medusa oder das Rinderrelief. Anfangs folgte Wagner bei dem Relief mit Rinderherde noch der Interpretation Winckelmanns, dass es sich nämlich um Herakles mit den Rindern des Geryoneus handele; später korrigierte er sich jedoch selbst. Im Zusammenhang mit dem Erwerb des schon genannten Alexander Rondanini verwies Wagner darauf, dass Winckelmann ihn als „einzige ächte und ganze Statue dieses Königs“ bezeichnete. Ganz offensichtlich wollte er damit die Bedeutung der Erwerbung unterstreichen.
Bezeichnungen von Skulpturen folgten oft den Benennungen durch Winckelmann. So etwa im Fall der Leukothea – in der griechischen Mythologie Pflegemutter des Halbwaisen Dionysos – für die Eirene des Kephisodot aus der Sammlung Albani. Auch bei der Muse mit Leyer aus der Sammlung Barberini übernahm Wagner lange die Winckelmann’sche Bezeichnung. Später jedoch machte er sich die bis heute gültige Deutung als Apollon zu eigen.
Wagner berief sich nur dann auf Winckelmann, wenn er damit seinen eigenen Standpunkt gegenüber Ludwig untermauern konnte. Als etwa die Antiken der Slg. Casali 1819 zum Kauf angeboten wurden, fragte Ludwig Klenze und Wagner nach ihrem Urteil zu dem Antinoos Casali, den Winckelmann als die schönste aller Antinoosstatuen gerühmt hatte. Weil Wagner sie jedoch als mittelmäßig einstufte, sah Ludwig von einem Kauf ab. Bis zuletzt führte Wagner Schriften Winckelmanns an, wenn ihm daran gelegen war, gegenüber Ludwig die Qualität eines Stückes hervorzuheben. So bei dem Iphigenie-Sarkophag aus der Sammlung Bernardino Ridolfi.
Sogar zu den Ägineten, die erst ein halbes Jahrhundert nach Winckelmanns Tod entdeckt worden waren, und zudem eine Winckelmann noch gar nicht bekannte Stilstufe vertreten, berief sich Wagner auf den berühmten Altertumsforscher. Nach einer knappen Beschreibung der Skulpturen schrieb er aus Griechenland an den Kronprinzen: „Würde Winckelmann diese Werke gesehen haben er hätte wenigstens 2 Foliobände darüber geschrieben. Dieses kann einstweilen hinlänglich sein Eurer Königlichen Hoheit eine vorläufige Idee von dem Werthe derselben zu geben.“
Am deutlichsten greifbar ist der Einfluss Winckelmann auf Ludwig und Klenze an der Glyptothek greifbar. Hinsichtlich der äußeren Gestalt folgte der Architekt der Devise Winckelmanns: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“ Der zentrale Bereich an der Südfront des Gebäudes erinnert von außen unmittelbar an einen griechischen Tempel. Münchens ältestes Museum orientierte sich auch im Inneren als erstes Museum weltweit an Winckelmanns entwicklungsgeschichtlichem Verständnis der antiken Kunst. Nicht wie damals üblich nach typologischen oder ikonographischen Gesichtspunkten wurden die Werke aufgestellt, sondern sie folgten erstmals „jenem dauerhaften Winckelmannschen Faden, der uns durch die verschiedenen Kunstepochen durchleitet“, wie Goethe es formuliert: In chronologischer Reihe vom Ursprung über das Wachstum, den Höhepunkt, den Niedergang und schließlich die Wiedergeburt der Antike.
In mancherlei Hinsicht zeigte sich Ludwig stark von Wickelmanns Ansichten beeindruckt. So hinterließ dessen Negativurteil über die Wandmalereien aus den Vesuv-Städten bei ihm eine lang anhaltende Wirkung. Erst im Laufe zahlreicher Italien-Reisen gelangte der Kronprinz zu einer positiveren Bewertung der Pompejanischen Wandmalerei. Erstaunlich ist allerdings, dass Ludwig bis 1823 kein Interesse an den antiken Vasen zeigte, obwohl bereits Winckelmann ihre Bedeutung herausgestellt und – gegen manche Zeitgenossen – den griechischen Ursprung erkannt hatte. Noch 1819 folgte Ludwig nicht Klenzes nachdrücklicher Empfehlung, eine schöne Vase aus der Sammlung Poniatowski zu erwerben. Einige Jahre zuvor hatte er den Vorschlag Wagners verworfen, in der Glyptothek auch einen Raum für die griechischen Vasen einzurichten. Dass es Ludwig schließlich doch gelang, die vielleicht weltweit schönste Vasensammlung zusammenzustellen, ist das Verdienst Klenzes, der auf einer gemeinsamen Sizilienreise den Kronprinzen vom Erwerb der Sammlung Panitteri überzeugen und damit den Grundstock legen konnte.
III.
Winckelmann hatte mit seiner Geschichte der Kunst des Alterthums 1764 nicht nur die Archäologie als Wissenschaft begründet, sondern auch die Blickrichtung von der römischen auf die griechische Antike gelenkt. Das führte mittelbar dazu, dass Männer wie Carl Haller von Hallerstein bald danach drängten, auch das Ursprungsland der Antike zu bereisen, was bis zum Ende der osmanischen Herrschaft für Europäer, von den Engländern einmal abgesehen, nur unter großen Schwierigkeiten möglich war.
Spätere Archäologen wie Edward Dodwell erinnerten immer wieder an Winckelmanns kurz vor seinem Tod formulierte Absicht, Ausgrabungen in Olympia durchzuführen. Über Vermittlung Klenzes wurde auch an Ludwig die Idee des Altertumsforschers Friedrich Sickler, in Olympia auszugraben, herangetragen. Die Umsetzung scheiterte schon daran, dass keine Einigkeit über den späteren Verbleib der Funde erzielt werden konnte.
Die Hinwendung zu Griechenland wirkte sich bei Ludwig in vielfältiger Weise aus. Als er am 13. Oktober 1825 den Thron bestieg, betraf eine der ersten Verordnungen des jungen Monarchen die Änderung der Schreibweise von „Baiern“ mit „i“ zu „Bayern“ mit dem griechischen „y“. Die Orientierung am Vorbild des antiken Hellas‘ geht ohne Zweifel auf Ludwigs Winckelmann-Verehrung zurück.
Und so unterstützte er auch schon früh mit anderen Philhellenen den Kampf der Griechen gegen die osmanische Fremdherrschaft. Allerdings blieb das zunächst folgenlos, da sein Vater – wie die anderen europäischen Mächte – kein Interesse an einem gewaltsamen politischen Wandel hatte.
Winckelmann wurde auch wegen der politischen Dimension seines Werkes in ganz Europa rezipiert. Im revolutionären Frankreich beriefen sich viele auf ihn. In der Geschichte der Kunst des Alterthums hatte Winckelmann behauptet, dass mit der Einführung eines demokratischen Regiments in Athen sich dort die Künste niedergelassen und ihren vornehmsten Sitz genommen hätten. Mit Hinweis auf den von Winckelmann postulierten Zusammenhang von Kunst und politischer Freiheit meinten sie, in Paris das neue Athen zu erkennen.
Eine Generation später beriefen sich dann die Vertreter des Philhellenismus u.a. auf Winckelmann und seine Schriften. Auch wenn der Autokrat Ludwig selbstverständlich keine demokratischen Neigungen verspürte, war der bayerische Kronprinz für die Ideale des Philhellenismus und für die Idee eines unabhängigen Griechenland schnell entflammt.
Das Engagement Ludwigs für die Freiheit von Hellas war schließlich auch ein wichtiger Grund, seinen zweitgeborenen Sohn Otto 1832 zum König von Griechenland zu machen. Sichtbarster Ausdruck von Ludwigs Liebe zu Griechenland sind bis heute die Propyläen am Münchner Königsplatz, das weltweit größte Denkmal für die Befreiung Griechenlands.
Eine Weile verfolgte man auch Pläne, auf der Athener Akropolis, wo nach Winckelmann Freiheit und Kunstblüte zusammenkamen, die neue Residenz nach einem Plan von Schinkel zu errichten. Im Sinne Winckelmanns sollte dort in Nachahmung der Alten etwas Neues entstehen. Doch Ludwig I. und Klenze verwarfen den Plan, so dass der Königspalast später nach Plänen Gärtners am Musenplatz – heute Syntagma-Platz – entstand.
Es ist bezeichnend für Ludwig, dass er im Augenblick der unter bayerischer Mithilfe errungenen französischen Siege bei Jena und Auerstedt sowie bei Friedland und der Demütigung Preußens im Frieden von Tilsit 1807 im von Napoleon besetzten Berlin den Plan zu einem nationalen Denkmal fasste, der späteren Walhalla. Noch im selben Jahr gab er die ersten Büsten von Kopernikus, Friedrich dem Großen und Wieland in Auftrag.
1830-42 entstand die Walhalla als grenzübergreifendes Denkmal der deutschen Kulturnation. Der Architektenwettbewerb verlangte ausdrücklich einen dorischen Tempel nach dem Vorbild des Parthenon. Der gewaltige Unterbau ist un-griechisch. Der Tempelschmuck gilt germanischen Themen.
Winckelmanns Schriften können wir entnehmen, dass er verschiedene Vaterländer hatte: Preußen, wo er geboren und aufgewachsen war, Sachsen, das ihm den ersten Kontakt mit antiker Kunst ermöglicht hatte, und Rom, das für ihn – wie für viele andere in Deutschland, nicht zuletzt für Ludwig – ein Sehnsuchtsort war. Aber auch dort fühlte er sich noch 1764 als Deutscher. König Ludwig I. hat ihn, den Sohn eines preußischen Flickschusters, durch die Aufnahme in die Walhalla zu einem Heros der deutschen Nation erhoben.
Schon 1808 hat der Kronprinz zu diesem Zweck eine Marmorbüste Winckelmanns in Auftrag gegeben. Der von Antonio Canova empfohlene Südtiroler Bildhauer Salvator de Carlis hat sie noch im selben Jahr in Rom angefertigt. Dass Winckelmann zu den frühsten Aufträgen gehörte, verrät die hohe Wertschätzung, die der bayerische Kronprinz ihm entgegenbrachte.
Die Winckelmann-Büste von de Carlis folgt den vertraglich festgelegten Vorgaben für die Walhalla, „in einem edlen einfache Styl bearbeitet nach der Art der griechischen Büsten“: also eine Herme aus Carrara-Marmor, frontale Blickrichtung und Verzicht auf ein Kostüm. Winckelmann erscheint als reifer Mann und ohne erkennbare Gemütsäußerung, was der vom Auftraggeber geforderten „stillen ruhigen Seelengröße“ entspricht.
Kurz nach seiner Fertigstellung bezeichnete der Maler und Kunstagent Dillis de Carlis‘ Arbeit noch als „die allervollendetste“ unter den bis dahin fertiggestellten Walhalla-Büsten. In Rom erhielt das Winckelmannbildnis zunächst breite Anerkennung und wurde dort 1810 in einer Ausstellung präsentiert, in deren Aufnahmekommission u.a. Canova, Rauch und Thorvaldsen saßen. Doch bald wendete sich das Blatt für den Südtiroler de Carlis und seine Arbeit wurde später fast durchgängig negativ beurteilt. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass im Zeitalter der Befreiungskriege die italienische Herkunft des Künstlers kritisch gesehen wurde.
Form und Größe der für die Walhalla vorgesehenen Büsten änderten sich im Lauf der Zeit. Ausschlaggebend für Ludwigs Entscheidung, de Carlis᾽ Winckelmann-Bildnis in der Walhalla durch eine Büste von Ridolfo Schadow zu ersetzen, war aber wie so oft das Urteil Martin Wagners, der neben künstlerischen Kritikpunkten vor allem die Maße der Büste bemängelte, die nicht den inzwischen geänderten Abmessungen der später entstandenen Büsten entsprachen. Ohne die Büste von de Carlis je gesehen zu haben befand Ludwig deshalb in einem Brief vom 20. Juni 1812 an Wagner: „Winckelmanns Büste zu klein ausgefallen u[nd] nicht würdig so der Arbeit nach in der Sammlung zu stehen, doch kann anders gebraucht werden, darum schicken sie solche mit, ich will es.“ So steht heute eine 1814 von Ridolfo Schadow, dem in Italien tätigen Berliner Klassizisten, geschaffene Büste in der Walhalla.
Fasst man die Haltung von Ludwig und seinen wichtigsten Beratern, Wagner und Klenze, zusammen, so schätzten alle drei die Arbeiten Winckelmanns. Doch insbesondere Wagner verschaffte sich bei seiner ruhelosen Tätigkeit in Rom rasch ein eigenständiges Bild. Und auch Ludwig war kein Klassizist reinsten Wassers. Es kommt hinzu, dass er zeitlebens ein instinktgetriebener Willensmensch blieb, der sich von reiner Wissenschaft nicht beeindrucken oder gar leiten ließ.