Winckelmann und das kurfürstlich bayerische Generalmandat von 1770: „Edle Simplizität“ wird behördlich verordnet

Am 4. Oktober 1770 erließ der bayerische Kurfürsten Max III. Joseph (reg. 1745-1777) ein Generalmandat in puncto concurrentiae zu den Kirchen- und Pfarrhöfbau. Der zwölfseitige Erlass wurde unter der Regie des kurfürstlichen geistlichen Rats in München erstellt, einer landesfürstlichen Behörde, die den Gesamtkomplex der Beziehungen zwischen Staat und Kirche im Kurfürstentum Bayern zu administrieren hatte. Hauptanliegen des Mandats war, die Baufinanzierung „unbemittelter Gotteshäuser“ neu zu regeln. Hierfür wurde eine „allgemeine Kirchenbaukonkurrenzkommißion“ nach dem Vorbild Italiens und „verschiedener Provinzen Deutschlands“ errichtet und in einem 13 Punkteplan die Kriterien festgelegt, die es zu erfüllen gilt, damit eine mittellose Kirche „zum Neubau oder Reparation“ finanzielle Unterstützung beanspruchen kann.

Für die Kunstgeschichte wird das Mandat insofern interessant, als es mit der Neuordnung der kirchlichen Baulast zugleich einen Stilwandel im Kirchenbau initiieren wollte. „Edle Simplicität” soll die „Ungereimtheiten“ des Rokoko ersetzen. So heißt es unter Punkt 5 der Verordnung: „5to. Damit aber, wenn ein Landgotteshaus neu zu erbauen wäre, alle Uebermaaß verhütet, und nicht eines jeglichen Pfarrers oder Beamten Eigendünkel, die willkührliche Anordnung des Baues überlassen, sondern vielmehr eine so viel möglich durchgängige Gleichförmigkeit in der Kirchenarchitektur nach dem Beyspiele von Italien beobachtet werden möge; so werden Wir durch erfahrne und verständige Baumeister verschiedene Muster von Grundrissen und Profils nach der Anzahl Pfarrkinder, und zugleich bey jedem einen Ueberschlag der sämmtlichen Baukösten, so zuverläßig als es immer thunlich ist, verfassen lassen, dergestalt, daß mit Beybehaltung einer reinen und regelmäßigen Architektur alle überflüßige Stukkador- und andere öfters ungereimte und lächerliche Zierrathen abgeschnitten, an denen Altären, Kanzeln und Bildnissen eine der Verehrung des Heiligthums angemessene edle Simplicität angebracht werde.” (Hervorhebung des Verfassers)

Der Erlass dokumentiert gewissermaßen „schriftlich“ das Ende der Epoche Rokoko. Er ist damit geradezu prädestiniert in der kunstgeschichtlichen Literatur als äußerer Endpunkt eingesetzt zu werden. So erstmals bei Adolf Feulner, der bereits 1912 auf dieses Mandat aufmerksam machte, und jüngst bei Ute Engel in ihrer 2018 erschienen Habilitationsschrift Stil und Nation – Barockforschung und deutsche Kunstgeschichte, die allerdings das Mandat dem falschen Kurfürsten zuordnet, Karl Theodor.

Das Außergewöhnliche und in der Tat Singuläre an diesem Mandat – eigentlich ein Finanzdekret – ist, dass darin eine ästhetische Stellungnahme zum Kirchenbau formuliert wird, verbunden mit einer Stilanweisung, wie künftiges Bauen auszusehen hat, es also eine direkte Einflussnahme auf die Kunst von staatlicher Seite darstellt. Ob dabei auch klassizistisches Gedankengut reflektiert und im Mandat in den bereits zitierten Formulierungen Niederschlag und Widerhall gefunden hat, gilt es hier zu prüfen.

Zudem stellt sich die Frage, weshalb sich eine staatliche Behörde genötigt sieht per Dekret auf die künstlerische Situation im Kirchenbau zu reagieren und Einfluss zu nehmen. Was waren die Gründe? Werfen wir einen kurzen, schlaglichtartigen Blick zurück.

1754 wurde die Wieskirche bei Steingaden nach achtjähriger Bauzeit fertigstellt. Diese Wallfahrtskirche, Inbegriff des bayerischen Rokokos, stellt geradezu ein Paradigma dessen dar, was knapp 20 Jahre später, nicht mehr hinnehmbar scheint und zur staatlichen Korrektur herausfordert. Ein „Landgotteshaus“, bei dem die „ungereimthe[n] und lächerliche[n] Zierrathen“ grundlegendes Gestaltungsprinzip der Architektur sind. Richten wir den Fokus auf die Chorlösung. Eine Architektur, die sich der Ratio und den tektonischen Strukturprinzipien entzieht: Architektur wird zu Ornament und umgekehrt. Bezeichnend ist, dass diese Ornamentarchitektur nicht von einem Architekten im eigentlichen Sinne errichtet, sondern durch die Zusammenarbeit eines Architekten-Stukkators, Dominikus Zimmermann und eines Maler-Stukkators Johann Baptist Zimmermann sozusagen geformt und modelliert wurde. Diesen „Eigendünkel“, die die scheinbar „willkürliche Anordnung des Baues“ (Formulierungen des Mandats) bestimmen, will man entgegenwirken.

Die extreme Weiterführung und zugleich das Vordringen der Gestaltungsprinzipien des bayerischen Rokokos bis in kleinste Orte belegen die Kirchen in Hörgersdorf (Umgestaltung 1760), Eschelbach (Umgestaltung um 1760) und Oppolding (1764). Das Ornament erreicht einen so hohen Grad an Verselbständigung und phantastischer, losgelöster, gegen jede Norm gerichteter Formenentfaltung – betrachtet man z.B. die asymmetrischen Rocaillegebilde der Seitenaltäre von Hörgersdorf und Eschelbach oder den weitgehend sich ornamental auflösenden Schalldeckel der Kanzel von Oppolding -, dass das Mandat 1770 fordern konnte, dass „alle überflüßige Stukkador- und andere öfters ungereimte und lächerliche Zierrathen abgeschnitten, an denen Altären, Kanzeln und Bildnissen eine der Verehrung des Heiligthums angemessene edle Simplicität angebracht werde“.

Hinzu kam das Bauen über den eigenen Vermögensstand, wie es in Bayern des 18. Jahrhunderts die Regel war. In der Tat waren viele bayerische Klöster aufgrund der zu hohen Kosten ihrer aufwendigen Bauten hoch verschuldet. Hier bietet die Wieskirche, jetzt aus finanzieller Perspektive, wieder ein Musterbeispiel dafür, was zukünftig vermieden werden sollte: der Bau dieser Kirche im Auftrag des Prämonstratenserklosters Steingaden hatte das Kloster nahe an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Die wirtschaftliche Situation war selbst noch beim Nachfolger des Bauherrn Abt Augustin III. Bauer (amtierte 1777-1784) so prekär, dass er den Kurfürsten um die Aufhebung des Stiftes bat, was aber abgelehnt wurde.

Konzentrieren wir uns nun beispielhaft auf einen Kirchenbau, der in die Zeit des Mandats fällt: Die Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Salvator in Bettbrunn (1774) in der Oberpfalz, in Beilngries-Riedenburg. Lässt sich ein bewusstes Eingreifen von Seiten des kurfürstlich geistlichen Rates nachweisen? Die alte, von der Regensburger Dombauhütte ab 1329 errichtete, einschiffige, gotische Wallfahrtskirche in Bettbrunn erweist sich infolge der außerordentlichen Zunahme der Wallfahrt im Laufe des 18. Jahrhunderts als „viel zu eng und klein an denen Wallfahrtsfesten“ , wie F. Laurentius Kornmesser 1754 beanstandet. Jedoch meldet der Pflegverweser von Riedenburg in seinem Amtsbericht vom 24. Juli 1772 an den Geistlichen Rat in München nur, dass eine tiefgreifende Reparatur am Wallfahrtsgotteshaus notwendig sei. Bei den Instandsetzungsarbeiten stellt sich jedoch heraus, dass „die völlige von Grund auf neue Erbauung des Gotteshaus ganz unvermeidentlich“ sei.

Das löste Argwohn beim kurfürstlich geistlichen Rat aus, der daraufhin Risse und Überschläge „in duplo“ einforderte. Zugleich soll belegt werden, „aus was für Mitteln solche Baukosten bestritten wird möge“. Der Finanzierungsplan wird vom Pflegverweser „nach Anweisung für p. Gnädigst General Mandat v. 4.octbr. 1770“ erstellt. Dies hatte zur Folge, dass der kurfürstliche geistliche Rat die Pläne des Ingolstädter Hofmaurermeister Veit Haltmayr nicht akzeptierte. Stattdessen beauftragte er einen Gutachter, den Münchner Hofmaurermeister Leonhard Matthäus Gießl, das „ieztige Gottshaus“ genau zu examinieren. Tatsächlich ergaben sich folgenreiche Konsequenzen für das Neubauprojekt. Gestattet wurde nur ein Langhausneubau, der alte Chor musste beibehalten werden. Die Leitung des Baus wurde Matthäus Gießl übertragen, der die eingereichten Pläne überarbeitete.

Die für unsere Untersuchung wichtigen Neuerungen lassen sich am besten durch den Vergleich des ausgeführten Gießl-Plans mit dem vom Geistlichen Rat abgelehnten Entwurf Veit Haltmayrs aufzeigen: Gießl behielt zwar im Wesentlichen die Grundstruktur des Haltmayr-Plans bei, entwarf also keinen eigentlich neuen Bautypus, sondern griff vielmehr korrigierend ein, doch diese Korrekturen sind bezeichnend und geben dem Bau ein neues Gepräge. Im Grundriss zeigt sich, dass Gießl den Bau insgesamt breiter dimensionierte und damit die Tendenz zur Zentralform verstärkte. Eine besonders zu betonende Korrektur und das Gesamtgefüge des Baus entscheidend beeinflussende Maßnahme ist das Glätten der aufwendig gestalteten, konkav-konvex geschwungenen Westfassade, wie sie noch der Haltmayr-Plan vorsieht. An die Stelle der betonten Schauseite ist eine glatte Wand getreten mit nur kleinem, portikus-artigen Vorbau, der in ähnlicher Form jeweils genau in der Mitte der Langhausseiten wiederholt wird und die Symmetrie der Anlage hervorhebt. Gießl hatte also als Beauftragter und Gutachter der kurfürstlichen Behörde eingegriffen und den Raum in Richtung Sachlichkeit, Regularität und Symmetrie geklärt.

Der Kirchenbau in Bettbrunn ist zugleich symptomatisch für die veränderte kirchenpolitische Lage im Kurfürstentum Bayern in der Spätzeit des 18. Jahrhunderts. Es zeigt sich in der Tat eine neue Praxis im Baugenehmigungsverfahren, die auf eine strenge Kontrolle des kurfürstlichen geistlichen Rats schließen lässt. Es sind zwar keine Musterpläne nachweisbar, aber häufig wird über den Umweg eines Gutachters von staatlicher Seite in die Planung eingegriffen.

Vergleicht man nun die festgestellten Merkmale mit den Forderungen des Mandats, so lassen sich oberflächlich betrachtet tatsächlich eine zunehmende „Gleichförmigkeit in der Kirchenarchitektur“ und ein Zurückdrängen der „Ungereimtheiten“ in Ausstattung und Dekoration erkennen. Dieses vermeintlich klare Bild bedarf jedoch in mehrfacher Hinsicht der Korrektur: Zum einem gelingt es dem Mandat nämlich nicht, auf breiter Basis den geforderten Stilwandel durchzusetzen: So zeigt z.B. die Pfarrkirche St. Laurentius in Haag a.d. Amper in der ab 1783 begonnenen Stuckdekoration noch reine Rocailleformen. Andererseits wiederum darf das Mandat auch nicht als alleiniger Auslöser einer neuen Kunstrichtung verstanden werden, da sich klassizistische Tendenzen in der bayerischen Kunst schon vor 1770 nachweisen lassen – beispielhaft können hier Rott a. Inn und Altomünster  angeführt werden –, also der künstlerische Wandel schon begonnen hatte, als das Mandat die neuen Ideale propagierte.

 

II.

 

In größerem Kontext stellt die kurbayerische Verordnung als behördliche Stellungnahme nur ein äußeres Zeichen eines tiefergreifenden und komplexen Gesinnungs- und Geisteswandels der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar. Sie ist nur eine Stimme im Diskurs, Symptom einer geistigen Entwicklung, der die Kunst, unabhängig von staatlicher Intervention, in zunehmendem Maße unterworfen war. In Bayern allerdings, das der Tradition des Rokokos in besonders hohem Maße verbunden war, kommt dem Mandat, in erster Linie für den Landkirchenbau, dann doch eine gewisse stilfördernde Wirkung zu, indem es als autoritäre Verordnung die Entwicklung zu klassizistischen Idealen hin befiehlt und damit beschleunigt, wie auch das Beispiel Bettbrunn zeigt.

Aber nun zum Vokabular des Mandats, zur Begrifflichkeit der Stilanweisung, die in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist. Auf welche Kontexte lassen sich diese Formulierungen zurückführen? Ist es überhaupt Winckelmannsches Vokabular? Wie vertraut war der kurbayerische Hof mit dem vermeintlich klassizistischen Vokabular?

Frank Büttner warnte in einem Beitrag über das Ende des Rokoko in Bayern von 1997, vorschnell und ausschließlich auf die Kunstanschauungen eines Winckelmann zu rekurrieren. Er verwies dagegen auf eine geänderte Auffassung in der Predigt- und Rhetoriklehre als die entscheidende Quelle für die Wortwahl des Mandats. Seinen Ausführungen zu Folge regte sich auch in Süddeutschland nach der Jahrhundertmitte die Opposition gegen die überkommene Kanzelrhetorik jesuitischer Provenienz und ihre Wirkungsästhetik. Die barocke Affektlehre wurde zunehmend in Frage gestellt zugunsten einer Empfindungslehre. Süddeutsche Theologen berufen sich dabei vor allem auf François Fénelon, Erzbischof von Cambrai (1651-1715) und theologisch-politischer Autor, sowie Lodovico Antonio Muratori (1672-1750), italienischer Theologe, Historiograph und Bibliothekar.

Fénelons aufsehenerregende Dialogues sur l’éloquence, erschienen 1718. Er propagierte eine Abkehr von einem Predigtstil, der „alle gekünstelten Zierrathen verwarffet, welche eitels Menschen in den Reden suchen“, wie es in der deutschen Übersetzung von 1734 hieß, und der die „simplicité des paroles de Jesus-Christ“ zum Vorbild nimmt, dergestalt, dass solche Predigten „une noble et aimable simplicité“ erringen würden. Große Bedeutung kam auch dem Theologen Muratori zu. Besonders sein Buch über Die wahre Andacht des Christen (1747), das die größte Verbreitung fand, erregte vorrangig im josephinischen Österreich enormes Aufsehen. In seiner Abhandlung De i pregi dell’eloquenza populare von 1750, das sieben Jahre nach seinem Tod in Augsburg auch in Latein erschien forderte Muratori die Abkehr von der überschwänglichen wie eitlen barocken Rede, die er als „ornamentum luxuries“ ablehnt und mit einem Zuviel an Ornament in der Architektur vergleicht. Stattdessen muss der Predigtstil klar, einfach und für das unbedarfte Publikum verständlich sein, „clarum, facilem, planum“.

Beide Autoren wurden in Lehrbüchern zur Kanzelrhetorik in Bayern des späten 18. Jahrhunderts intensiv rezipiert. So auch von Heinrich Braun, bedeutender Schulreformer in Bayern, in seiner 1776 erschienenen „Anleitung zur geistigen Beredsamkeit“, in der er die althergebrachte Kanzelrhetorik heftig kritisiert. Bereits unter patriotischen Vorzeichen konstatiert er: „Der nachahmende Deutsche vergaf[f]te sich in die emblematischen Putzwerke der Italiäner, und brachte diesen Theaterschmuck auf die Kanzeln des Vaterlandes.“ Dagegen fordert Braun eine „edle Einfalt“: „Die edle Einfalt der Kanzelsprache […]verwirft […] allen unnöthigen, und überfüßigen Schmuck. Sie folget der Natur, die allen unnöthigen Aufwand und Überfluß vermeidet, und gerade so viel Mittel wählet, als ihr zur Ausführung ihrer Absicht nötig sind. […]Die edle Einfalt (Simplicität) ist also die Haupteigenschaft dieser Sprache. […] Die Reden Christi, und seiner Apostel waren Meisterstücke, und Muster der edlen Einfalt.“

Doch verfolgen wir zunächst die Begrifflichkeit der „edlen Simplicität“ im Kunstdiskurs der Zeit. Richtet man nämlich den Blick auf die Kunstdebatte in Frankreich um 1735 so lässt sich Erstaunliches entdecken. Germain Boffrand (1667-1754), der berühmte französische Architekt hielt 1734 vor der Academie Royale d‘Architecture einen viel beachteten Vortrag Dissertation sur se qu’on appelle le bon goust en architecture, der 1745 seinen einflussreichen und international rezipierten zweisprachigen (französisch-lateinisch) Architekturtraktat „Livre d’architecture“ vorangestellt wurde.

Zentraler Begriff ist der bon goût. Er wendet sich gegen die Subjektivierung des Geschmackbegriffs (chacun à son gout), gegen die „Eigendünkel“ (wie es im Mandat heißt). Grundlegende Prinzipien der Architektur sind nach Boffrand: belle proportions, convenance, commodité, sûreté, santé, bon sens (also: gute Proportion, Schicklichkeit, Annehmlichkeit, Sicherheit, Wohlbefinden, gutes Empfinden). Aufgabe der Akademie ist es diese Prinzipien zu vermitteln und zu kontrollieren, sowie die „folles nouveautés“ der Mode („die ungereimtheiten, lächerlichen Zierathen“ in der Sprache des Mandats) zu bannen. Er nimmt dabei auch die Auswüchse der Ornamentik in der Architektur ins Visier und fordert die Beachtung seiner Prinzipien, die eine noble simplicité garantieren: „Il semble que la mode en differens tems ait pris plaisir à donner la torture à toutes les parties d’un édifice : elle a fouvent effayé de détruire tous les principes de l’Architecture, dont on doit toujours conserver la noble simplicité.“

Der style rococo mit seinem antiklassischen Vokabular wird in Frankreich ab den 1740er Jahren auf breiter Basis zur Zielscheibe und löst umfängliche wie einflussreiche Kritik aus. Man fordert eine Ornamentik „sans confusion“, wie es auch der Architekt und Theoretiker Charles-Etienne Briseux (1660-1754) eindringlich formulierte.

Boffrand war in Bayern kein Unbekannter. Für Max Emanuel entwarf er einen Jagdpavillon in Bouchefort (1705) und Joseph Effner (1687- 745), bayerischer Hofbaumeister, war Schüler Boffrands und später sogar dessen Bauleiter. Effner überführte dessen Innendekorationssystem nach München (Style Régence). Boffrand, ursprünglich selbst Architekt und Dekorateur des Rokoko, bekanntestes Beispiel das Hôtel de Soubise in Paris (1734), wird in seinen theoretischen Äußerungen erstaunlicherweise ein Wegbereiter des Klassizismus. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Frankreich, besonders in der Architektur, den klassischen Stilprinzipien weitaus stärker verpflichtet war, sie auch nie vollends preisgab und diesem Formenkanon schon ab 1740 wieder vermehrt Geltung verschaffte.

Boffrands jüngerer Architekturkollege Jacques-Francois Blondel (1705-1774) führte das theoretische Konzept Boffrands weiter. In Ablehnung des willkürlichen Ornaments fordert Blondel einen „wahren Stil“ in der Architektur, einen „grand goût de la belle simplicité“, der wie Hanno Walter Kruft darlegte, „zu einer zentralen Formel des neuen Klassizismus wird“. Ab 1771 publizierte Blondel seine seit 1750 an der von ihm gegründeten École des Arts gehaltenen Vorlesungen in einem mehrbändigen Cours d’architecture.

 

III.

 

Aber wie erfolgte der Ideentransfer der „noble und belle simplicité“ nach Bayern? Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Architekten François Cuvilliés d. J. (1731- 777), Sohn des berühmten François Cuvilliés (1695-1768) und Carl Albrecht von Lespilliez (1723-1796). Beide waren in den Jahren 1754 bis 1755 zur Weiterbildung in Paris. Cuvilliés d. J. studierte bei Blondel an der berühmten Académie royale d’architecture in Paris. 1757 bekam er wegen seiner „vortrefflichen Bau- und Ingenieurkunst“ eine Stellung beim kurbayerischen Hof. 1768 wurde er zum 2. Oberhofbaumeister ernannt. Er wurde zu einem der überzeugten Vertreter des frühen Klassizismus in München. Carl Albrecht von Lespilliez war ebenso Schüler Blondels. Lespilliez rühmte sich, dass er Blondels Akademie besuchen und dem großen Architekten nach eigener Aussage „plus de commun“ begegnen konnte. Frühklassizistische Architektur und Architekturtheorie konnte Lespilliez in Paris in unterschiedlichen Konzepten und Ausprägungen kennenlernen. Er erwarb für die Münchner Hofbibliothek im Auftrag des Kurfürsten Max III Joseph umfangreich Literatur zeitgenössischer Architekturtheoretiker darunter Blondels Traktate, wie Jutta Thinesse Demel nachweisen konnte. 1768 wurde Lespilliez 1. Oberbaumeister in München. 1766 hatte er außerdem eine Zeichenschule nach Blondels Vorbild begründet, die bis 1808 Bestand hatte.

Mit dem frühklassizistischen Ideengut der französischen Architekturtheorie war man in München durchaus vertraut. Aber wie verhält es sich mit den Schriften Winckelmanns? Hier lohnt sich ein Blick in die Kunstzeitung der „kayserlichen“ Akademie zu Augsburg von 1770, die auch in München aufmerksam rezipiert wurde. In dieser wöchentlich erscheinenden Zeitung der Akademie bot man auch dem Winckelmannschem Gedankengut ein Forum. Man zitiert sogar aus seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst (19.3.1770) und gebiert sich als Promoter seiner Ideen. Andererseits nicht verwunderlich, denn Winckelmann gehörte zu den Räten und Ehrenmitgliedern der 1755 gegründeten Akademie. Auch der Begriff der „Simplicität“ taucht in diesem Kunstjournal mehrfach auf. Außerdem wird ausführlich auf die Münchner Gründung einer Zeichnungs Schule respective Maler= und Bildhauer academie eingegangen und deren Anerkennung durch Max III. Joseph am 7. März 1770. Sie wird als Errungenschaft im aufklärerischen wie im frühklassizistischen Sinn gepriesen (14. Mai 1770). Max III. Joseph wird als der Förderer der neuen Ideen und als Garant des guten Geschmacks gefeiert. Man erinnert dabei auch an seine bedeutende Gründung der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1755.

Wie sehr sich um 1770 die Kunstanschauung in Süddeutschland geändert und sich ein frühklassizistisches Gedankengut durchgesetzt hat, verdeutlicht anschaulich ein Stich von Johann Esaias Nilson, seit 1769 Direktor der Augsburger Akademie und vormals ein Verfechter des Rokoko: Rechts neben einem von zwei Sphingen flankierten Urnenmonument steht ein vornehm gekleideter Mann. Er zerreißt eine Zeichnung, auf der eine Rocaille dargestellt ist, eben Muschel-Werck, wie aus dem zweiten bereits angerissenen und schon im Fallen befindlichen Blatt hervorgeht. Der Direktor selbst distanziert sich von seinem Lebenswerk, vom sprichwörtlich gewordenen „schlechten Augsburger Geschmack“, vom „Grillenwerk“ und „Muschelwerk“ des Rokokos, dessen vehementer Förderer er einstmals war: Ein öffentliches pecavi, ich habe gesündigt, wie es Herman Bauer formulierte.

Besonderes Augenmerk verdient in unserem Zusammenhang noch die kurz nach der Veröffentlichung des Mandats erscheinende Allgemeine Theorie der Schönen Künste von Johann Georg Sulzer in vier Bänden von 1771-74. Erstmals lag nach französischem Vorbild eine deutschsprachige Enzyklopädie vor, die das umfassende Gebiet der Ästhetik und ihre Begrifflichkeit lexikalisch zu fassen suchte. Besonders hervorzuheben ist, dass Sulzer seinem Werk ein Fremdwörterverzeichnis beigibt, ein „Verzeichniß der eigentlichen Wörter, welche hier für die fremden Kunstwörter gebraucht worden“. So setzt er „Simplicität“ mit „Einfalt“ gleich.

Unter dem betreffenden Artikel „Einfalt“ heißt es dann: „Man vermißt die Einfalt in den Gebäuden, in den Werken der bildenden Künste, in den Gemählden, in der Beredsamkeit, Dichtkunst und Musik. Das weitläuftige, überflüßige und willkührliche hat so wol in den Sitten, als in den Werken der Kunst so sehr überhand genommen, daß man gar oft Mühe hat, das wenige natürliche darin zu erkennen. Wie viel, sowol ganze Gebäude, als einzelne Zimmer, sieht man nicht, wo unnütze oder gar widernatürliche Zierrathen die Augen so sehr auf sich ziehen, daß man vergißt auf das Wesentliche zu sehen.“ Und unter dem Begriff „Schönheit“ nimmt er dann konkret auf Winckelmann Bezug: „Wer indessen glaubet, daß ihm diese Zergliederung noch dienlich seyn könnte, den verweisen wir auf die Anmerkungen und Beobachtungen die Mengs und Winkelmann hierüber gemacht haben.“

Einfalt bzw. das Fremdwort Simplizität ist in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts ein fester Begriff. Die durch Winckelmann in seiner ersten Veröffentlichung Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) propagierte Formel „edle Einfalt“ ist vor ihm bereits mehrfach eingeführt, wie Élisabeth Décultot zeigen konnte, so bei Felibien, Roger de Piles, Du Bos und auch in Johann Christoph Gottscheds Ausführlicher Redekunst (1736). Direkt übernommen hat Winckelmann die Formel der „noble simplicité“ aus einer französischen Übersetzung von Jonathan Richardsons An essay on the theory of painting (1715). Die Formel war um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Sprachgebrauch virulent, sie ist omnipräsent in unterschiedlichen Diskursen. Winckelmanns markanter und wirkmächtiger Ausdruck ist dem Vokabular seiner Zeit entnommen.

 

IV.

 

Für das Mandat bedeutet das, dass es eingespannt ist in ein ganzes Feld von Bezügen: Es lässt sich nicht eindeutig bestimmen, welcher Kontext für die „edle Simplizität“ verantwortlich gemacht werden kann: der der Rhetorik und der reformierten Predigtlehre, der des französischen Kunstdiskurses oder der des Winckelmannschen Werkes selbst. Das Vokabular der „ungereimten Zierrathen“, der „edlen Simplicität“, usw. findet sich in nahezu allen Traktaten und Lehrschriften unterschiedlichster Provenienz dieser Zeit. Die Fokussierung auf die Predigtlehre eines Fénelon und Muratori als Hauptquelle für die Wortwahl der Stilanweisung im Mandat ist zu monokausal. Die Bezüge zum Kunst- und Ästhetikdiskurs der Zeit, besonders zu den kunsttheoretischen Schriften der französischen Architekten Boffrand und Blondel und zu den Augsburger Kunstperiodika der Akademie, die wesentlich den Transfer des neuen Ideengutes einerseits französischer Provenienz andererseits Winckelmanns leisteten, erscheinen ebenso gewichtig, wenn nicht plausibler. Die virulenten kunstästhetischen Schlagworte werden im Mandat, das ja in erster Linie ein finanztechnisches Dekret war, mit dem vernunftmäßigen Sparsamkeitsidealen in eins gebracht: So lässt sich kaum entscheiden, ob bei der Wahl des Wortes „Simplicität“ finanzielle oder ästhetische Überlegungen im Vordergrund standen. Die politische Intention fällt mit den Forderungen der neuen Kunst zusammen.

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