I.
Als Kronprinz Ludwig mit dem Sammeln antiker Kunst begann, hatte die Wirkung Winckelmanns ihren Zenit bereits überschritten: Sein Freiheitspathos war von den Folgeentwicklungen der Französischen Revolution kompromittiert, sein aufgeklärter Deismus wurde von einer empfindsamen Frömmigkeit abgelöst, und mit der griechischen Kunst als Vorbild begannen die altdeutsche, altflämische und altitalienische als gleichursprüngliche zu konkurrieren. Der Hochschätzung seiner Person und seines Kunsturteils tat dies keinen Abbruch; im Gegenteil, es begann jener Prozess der Idealisierung und Verdinglichung, den Esther Sünderhauf so eindrücklich beschrieben hat.
Ein eindrucksvoller Beleg für Winckelmanns ungebrochene Autorität ist ein Brief Ludwigs an seinen Kunstagenten Johann Martin Wagner vom 8. Oktober 1813: „Hie folgt ein Verzeichniß von Kunstwerke welche ich in Winckelmanns Werke mir vorgemerckt nach der durch Fernov u. dessen Fortsetzer besorgten Ausgabe; damit sie danach forschen u. das würdigste erwerben.“ Aber auch ohne diese detaillierten Vorgaben konnten Wagner dessen Begehren „das schönste Kaufbare zu erwerben“ in erstaunlichem Maße erfüllen. Dass Ludwig mit einem solchen Einkaufszettel überhaupt an sie herantreten konnte, war aber keineswegs selbstverständlich; genauso wenig, dass sich die Münchener Glyptothek heute schmeicheln kann, nach dem Louvre die größte Anzahl von antiken Skulpturen nördlich der Alpen zu besitzen, die Winckelmann in seinem Œuvre diskutiert und aufgewertet hatte.
Winckelmanns und Wagners Aufenthalt in Rom markieren die Eckpunkte einer Epoche, die den größten Abfluss antiker Kunstwerke aus Rom und ihre Verbreitung über ganz Europa gesehen hatte. Sie begann mit den Kavaliersreisen im frühen 18. Jahrhunderts und erlebte ihren Höhepunkt in der Zeit von etwa 1760 bis 1795, die von Ilaria Bignamini und Clare Hornsby als „The Golden Age of the Grand Tour“ beschrieben wurde. Vor allem die Reisenden aus der führenden kapitalistischen Nation Großbritannien etablierten in Rom einen blühenden Kunstmarkt mit einer angeschlossenen Industrie von Grabungsunternehmern, Restauratoren, Händlern, Maklern, Fremdenführern. Winckelmann, von 1763–1768 Commissario delle antichità e cave di Roma, zeichnete nicht nur die Grabungs- und Exportlizenzen ab, sondern stand auch mit den führenden Akteuren wie Jenkins, Gavin Hamilton und Cavaceppi auf vertrautem Fuß. Für betuchte Romtouristen waren die Führung durch ihn oder einen anderen renommierten Antiquar, die Porträtsitzung bei Pompeo Batoni und schließlich der Antikeneinkauf im Spanischen Viertel feste Programmpunkte.
Winckelmanns Schriften beflügelten sicher die Konjunktur auf dem römischen Antikenmarkt, aber die meisten von ihm behandelten Skulpturen waren selbst für die zahlungskräftigsten Käufer unerreichbar: in den öffentlichen Sammlungen auf dem Kapitol und im Vatikan oder in den Kollektionen der Adelsfamilien, die durch Fideikommiss gegen Veräußerung abgesichert waren und deren Besitzer auch sonst keine Veranlassung sahen zu verkaufen. In der fraglichen Zeit gelangten mit wenigen Ausnahmen nur Neufunde aus Grabungen auf den Markt. Die Gelegenheiten zum Erwerb erstrangiger altbekannter Antiken waren dagegen rar.
Mit dem Vertrag von Tolentino 1796 hatte sich die Situation jedoch grundlegend geändert. Die Meisterwerke aus dem Vatikan und dem Kapitol, der Villa Albani und der Villa Borghese traten ihre Reise an die Seine an. In der römischen Republik 1798-1799 zwang der Abgabendruck der französischen Besatzung die Adelsfamilien, die über erhebliche Sach- und Immobilienwerte, aber nur wenig Barmittel verfügten, ihre Kunstsammlungen zu verkaufen, gesetzliche Sicherungen wie das Fideikommiss waren aufgehoben. Das Ausbleiben der englischen Reisenden ließ die Preise verfallen; die politische Lage Roms blieb bis 1815 instabil. Dies stellte sich als unschätzbarer Vorteil für Ludwigs Einkäufe heraus: Als Bieter konkurrierten nur Napoleons Bruder Lucien und deren Onkel Kardinal Fesch.
Die römischen Kunsthändler nutzten die Lage zu Spekulationskäufen aus, in großem Stil Vincenzo Pacetti, Pietro Maria Vitali und Pietro und Vincenzo Camuccini. Dominique Vivant Denons Besuch in Rom 1812 versetzte Wagner zwar in Aufregung, aber „das Auge Napoléons“ reiste mit leeren Händen wieder ab. Von Bieterschlachten lesen wir in der Korrespondenz nichts, im Gegenteil, es gelang Wagner immer wieder, die Verkäufer bedeutend herunterzuhandeln. Erst mit dem Wiener Kongress endete diese schöne Zeit: die letzten spektakulären Ankäufe tätigte Leo von Klenze 1815/16 in Paris mit den Skulpturen der Sammlung Albani. Danach relativierte sich die Rolle Roms auf dem Markt deutlich. Denn in der Zwischenzeit hatten die Antikensammler das östliche Mittelmeer, wo die gesetzlichen Regeln nicht galten, die die päpstliche Regierung nach der Rückkehr der napoleonischen Raubkunst aus Paris durchzusetzen bemüht war. Der Ankauf aus den Sammlungen Sciarra und Giustiniani scheiterte an der verweigerten Ausfuhrerlaubnis und anderen Vorbehalten.
Vor diesem Hintergrund erscheinen Ludwigs Einkäufe römischer Antiken von 1808 bis 1815 als absolut singulärer Glücksfall: nie wieder vorher oder nachher bestand in Rom die Chance, in dem Maße antike Skulpturen zu erwerben, deren Prestige durch Winckelmann ausgewiesen war. Ich werde im Folgenden auf die Erwerbungsgeschichte ausgewählter Skulpturen eingehen und ihre Beurteilung durch Winckelmann und durch Ludwig und Wagner; von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch das Konzept, das Wagner 1815 für die von Ludwig in München geplante Antikensammlung entworfen hatte, die dann Glyptothek heißen sollte.
II.
Die abenteuerliche und verwickelte Erwerbungsgeschichte des Barberinischen Faun ist hinreichend eingeführt; inzwischen sind jedoch Briefe des Commisario delle antichità Carlo Fea und die Giornali von Vincenzo Pacetti publiziert worden, die zusätzliches Licht auf die Affäre werfen. Deswegen sei der Ablauf anhand dieser Dokumente noch einmal kurz skizziert, da er sowohl aufschlussreich ist für die turbulente politische Situation in Rom zwischen 1796 und 1815 und auch einen Einblick in die erwähnten Spekulationskäufe gewährt. Am 28. Dezember 1798 wurden Pacetti vom Principe Barberini der Faun und acht weitere prominente Skulpturen angeboten, die der Kunsthändler am 31. Dezember für 1.400 Scudi erwarb. Barberini war durch „contribuzioni“ der französischen Besatzung zum Verkauf genötigt; das Ende des Jahres fiel wohl auch mit dem der Zahlungsfrist zusammen und er sah keinen anderen Ausweg, als Pacettis schäbiges Angebot anzunehmen. 1799 wurde die Herrschaft des Papstes wieder hergestellt; das öffnete Rom wieder für Interessenten aus England. Die Bieter gaben sich auch gleich bei Pacetti die Klinke in die Hand, der schließlich 6.000 Zecchini (14.000 scudi) verlangte. Er wurde jedoch 1802 gezwungen, den Faun zurückzugeben, da der Verkauf unter Zwang erfolgt und deswegen ungültig sei. Auch erging ein ausnahmsloses Exportverbot für Antiken. Die Statue wurde Barberini wieder übergeben mit der Auflage, „ihn eifersüchtiger denn je zu bewachen“.
Vor Gericht anhängig war parallel ein Erbstreit zwischen den Barberini und den Sciarra-Colonna um den Kunstbesitz der Barberini. Pacetti, wohlunterrichtet von Ludwigs Interesse, hielt Wagner auf dem Laufenden; er hoffte, der Faun würde den unter Geldnot leidenden Sciarra-Colonna zugesprochen, mit denen er glaubte, leichtes Spiel zu haben. Allein, er fiel an die Barberini, die ihn dann an Pacetti vorbei für 8000 Scudi an Ludwig verkauften. Fea protestierte lautstark dagegen und der Maire de Rome Luigi Braschi Onesti versuchte, seine Ausfuhr zu verhindern. Um ein Haar wäre diese aber doch im Mai 1814 geglückt.
Die Genehmigung stammte von Joachim Murat, König von Neapel, der sich gegen seinen Schwager Napoleon gestellt und im Januar Rom eingenommen hatte und damit schien der Weg frei. Anfang Mai 1814 war Murat jedoch wieder abgerückt und man erwartete die Rückkehr des Papstes. Am 3. Mai wurde der Faun auf Betreiben Pacettis beschlagnahmt. Am 11. Mai kehrte die alte Stadtregierung wieder zurück und erklärte die Maßnahmen der Vorgänger für nichtig, darunter auch die Aufhebung des Fideikommiss. Allerdings wurden Ludwigs Ansprüche auf den Faun anerkannt nach langem Ringen erhielt er 1819 die Ausfuhrerlaubnis. Pacetti notierte, dass er nur 1.500 Scudi für den Rückkauf der Antiken Barberini erhalten habe, sprich, das erhoffte Geschäft seines Lebens war spektakulär schief gegangen. Kontakte Wagners und Pacettis nach dieser Affäre sind nicht mehr belegt.
Die Statue genoss seit ihrer Entdeckung in den 1620er Jahren höchstes Ansehen. Cassiano Dal Pozzo nannte sie „von herausragender Manier gleich jeder der schönsten Statuen, die man im Belvedere oder im Hof des Palazzo Farnese sieht“, und Nicolas Poussin schrieb, sie sei „von der schönsten Manier, die sich unter den Resten der antiken griechischen Werke findet“. Hieronymus Tetius widmete ihr in seiner Beschreibung der Aedes Barberinae von 1642 eine kunstvolle lateinische Ekphrase und mit der Illustration in Maffei/De Rossis Raccolta von 1704 gehörte er zum Kanon der „statue più celebri“ Roms.
Winckelmann erwähnte sie dagegen nur im Vorübergehen: „Das erstere männliche Ideal hat seine verschiedenen Stufen und fängt an bei den Faunen als niedrigen Begriffen von Göttern. […] Der schöne Barberinische schlafende Faun aber ist kein Ideal, sondern ein Bild der sich selbst gelassenen einfältigen Natur.“ Dies irritierte die Herausgeber der Dresdner Ausgabe: „Wir glauben den verehrten Winckelmann seinen Irrthum, der den Barberinischen schlafenden Faun für kein Ideal will gelten lassen, nicht widerlegen zu dürfen, da Er selbst diese herrliche Figur in gebührenden hohen Ehren zu halten scheint.“
Winckelmanns Einschätzung verdankt sich jedoch nicht einer Laune, sondern hat Methode. In seinen Aufzeichnungen zu Ville e palazzi von 1756 hatte er vor der Figur notiert: „Über die Serratae läuft eine Ader hinüber, so auch über seinen Unterleib.“ Der Sinn dieser Beobachtung erhellt aus einem Vergleich mit seiner Beschreibung des Torso vom Belvedere, den er für den vergöttlichten Herakles hielt: „wie er sich von den Schlacken der Menschheit mit Feuer gereinigt und die Unsterblichkeit und den Sitz unter den Göttern erlanget hat: denn er ist ohne Bedürfnis menschlicher Nahrung und ohne ferneren Gebrauch der Kräfte vorgestellet. Es sind keine Adern sichtbar, und der Unterleib ist nur gemacht, um zu genießen, nicht zu nehmen …“
„Ideal“ ist bei Winckelmann also kein unbestimmtes Synonym für „schön“ oder „herrlich“, sondern bezeichnet die sinnliche Erscheinung der Transzendenz, die von den Merkmalen des irdischen Daseins und menschlicher Bedürftigkeit gereinigt ist, so von Adern und Sehnen. So ist es nur folgerichtig, dass er die „wahre Land und Wald Einfalt“ von der ersten Stufe des Ideals, den „jungen Satyrs oder Faunen“ als „niedrigen Begriffen von Göttern“ abgrenzt. Das Unverständnis der Weimarer Kunstfreunde und ihr Versuch, Winckelmann vor sich selbst in Schutz zu nehmen, sind mithin ein signifikantes Beispiel für die erwähnte Idealisierung, die den methodisch-kritischen Charakter von Winckelmanns Idealismus gründlich verkannte.
Ob Wagner oder Ludwig sich über diese Feinheiten der Winckelmannschen Ästhetik im Klaren waren, sei dahingestellt; über den Wert der Statue gab es keine Diskussion. Ludwig war bereit, gegen seine sonstige Gewohnheit sogar ein Bestechungsgeld an Fea zu zahlen. In seiner Disposition der Glyptothek reservierte Wagner ihm eine eigene „Kammer des Fauns“: „Die Statue des barberinischen Fauns müsste mir durchaus in einer Zelle allein zu stehen kommen, weil sie nichts neben ihr vertragen kann, und auch keine von den andern Statuen neben ihr Stich halten würde. – Höchstens könnte man an einer von den Seitenwänden den Kopf der Medusa anbringen.“
Als die „jungen Satyrs oder Faunen, als niedrige Begriffe von Göttern“ hatte Winckelmann seinerzeit zwei Statuen eines angelehnten Satyr im Palazzo Ruspoli beschrieben. Winckelmann hatte die beiden als Kopien eines gemeinsamen Originals erkannt und damit als einer der ersten auf die antike Serienfertigung von Kopien berühmter griechischer Meisterwerke aufmerksam gemacht, in diesem Falle nach dem Original des Satyr periboetos („der famose“ in der Formulierung Wagners) des Praxiteles, was bis heute in der Wissenschaft Bestand hat. Wagner waren diese Erkenntnisse und weitere Repliken des Typus in Paris durchaus geläufig und er nannte sie Ludwig auch als Argumente für den Ankauf.
Wagner erwarb die beiden Satyrn zusammen mit dem Silen mit dem Bacchuskind, ebenfalls aus dem Palazzo Ruspoli. Letzterer figuriert in Winckelmanns Kunstgeschichte an der gleichen angeführten Stelle, die die physiognomische Hierarchie der „niederen Götter“ aufführt: „Die älteren Satyrs oder Sileni, und derjenige Silenus insbesondere, welcher den jungen Bacchus erzogen, haben in ernsthaften Bildern keine in das lächerliche gekehrte Gestalt, sondern sie sind schöne Leiber in völliger Reife des Alters, so wie sie uns die Statue des Silenus, der den jungen Bacchus in den Armen hält, in der Villa Borghese, bildet, welcher Figur zwo andere Statuen, in dem Palaste Ruspoli, völlig ähnlich sind, …“ Es „erscheinet derselbe als ein Lehrer des Bacchus, in philosophischer Gestalt.“ Auch hier kannte Wagner die Kopienüberlieferung der Figur und genauso wenig wie Winckelmann sah er dadurch ihren Wert beeinträchtigt.
III.
Die Antikensammlung der Rondinini wurde erstmal 1639 von Cassiano Dal Pozzo beschrieben, darunter auch die berühmte Medusa. Der letzte Erbe Giuseppe Rondinini überführte sie in seinen Palazzo am Corso und ließ viele Antiken von Bartolomeo Cavaceppi restaurieren; von diesem erwarb er 1765 auch den berühmten Alexander. Nach seinem Tod 1801 ohne direkte Nachfahren wurden die Antiken aufgeteilt und standen 1808 zum Verkauf. Erste Verhandlungen nahm der bayerische Gesandte Johann Baptist Kasimir von Häffelin auf, der bis 1809 im Palazzo Rondinini zur Miete wohnte. Wagner erstand schließlich die Medusa, das Rinderrelief, den Kopf eines Brutus und den Alexander.
Winckelmann hatte die Antiken im Besitz Rondinini nicht in seinen Notizen von 1756 berücksichtigt, in einem Brief von 1758 erfahren wir auch, warum: „der junge Marchese ist seit kurzem Erbe seines Hauses und getragen von dem guten Geschmack hat er eine Anzahl von seit zweihundert Jahren gesammelten Statuen, Büsten und Bildern hierhin aus einer seiner Villen außerhalb Roms bringen lassen. […] Freunde, die wir sind, hat er sie mich sehen lassen, und ich werde ihr Verdienst im theoretischen Teil der Geschichte der Kunst enthüllen.“ So geschah es, er würdigte eine ganze Reihe von Denkmälern aus dieser Sammlung in seinen Schriften. Merkwürdiger Weise findet die Medusa keine Erwähnung, ihren Ruhm in deutschen Landen verbreitete erst Goethe.
Dem Rinderrelief widmete Winckelmann gar ein Lemma in seinen Monumenti inediti. Er sah hier eine Darstellung des Herakles auf dem Rückweg von Spanien bei seiner Rast auf dem Palatin, bei der ihm die Rinder des Geryoneus von dem Riesen Cacus gestohlen und in einer Höhle des Stadthügels verborgen worden seien. Den Pinienkranz erklärte er mit der Tatsache, dass Herakles in Rom als Herakles Silvanus verehrt worden sei; auch die Priaposherme sei eine Darstellung dieses römischen Gottes. Diese gesuchte Überinterpretation zeigt den blinden Fleck von Winckelmanns Hermeneutik, der einseitig von der Voraussetzung ausging, die griechische Kunst habe nur „dichterische“ (=mythologische) Sujets dargestellt; deswegen fehlte ihm der Zugang zu reinen Genreszenen.
Wagner war von dem „niedlichen“ Relief sehr angetan. In seinem Entwurf zur Glyptothek schlug er „das Basrelief mit den Ochsen“ zur Ausstellung in der „Kammer des Bacchus“ vor, er hielt es also zu Recht für eine bukolische Landschaft mit einer Landschaftspersonifikation.
Komplementär verhielt sich Winckelmanns Interpretation des Alexander Rondanini, wie dieser und andere Stücke aus der Sammlung Rondinini nach einem Schreib- oder Druckfehler in Goethes Italienischer Reise in der deutschen Literatur bis heute genannt werden.
Winckelmann diskutierte ihn ausführlich in der 2. Auflage der Geschichte der Kunst. „Die einzige wahre Statue und in Lebensgröße ist vielleicht diejenige, die der Marchese Rondinini zu Rom besitzet […]. Alexander ist hier heroisch dargestellt, das ist, völlig nackend. […] Da nun die Künstler diesen König billig als ihren Helden ansehen, so haben sie auch die Geschichte desselben, gleich der Götter- und Heldengeschichte, die der eigentliche Vorwurf der Kunst ist, ebenfalls zu ihren Bildern gewählet, und Alexander allein unter den Königen und berühmten Männern der wahren Geschichte hat das Vorrecht erhalten, auf erhobenen Arbeiten vorgestellet zu werden, wovon der Grund auch in dessen Geschichte selbst lieget, denn dieselbe ist den Begebenheiten der Helden ähnlich und also dichterisch; und war folglich auch der Kunst, die das außerordentliche liebet, gemäß, und außerdem allen bekannt, nicht weniger als die Erzählungen vom Achilles und Ulysses.“
Dies ist nicht nur ein schönes Beispiel dafür, wo und wie Winckelmanns Hermeneutik greift, über deren Grundlage er sich hier auch völlig im Klaren war. Auch ist diese zutreffende Einschätzung der statuarischen Selbstinszenierung des charismatischen Makedonenkönigs und des von daher begründeten ‚pathetischen Realismus‘ umso bemerkenswerter, als sie auf einer damals noch äußerst schmalen und wenig gesicherten Materialgrundlage beruhte. Dieser Charakter impliziert aber zugleich die Doppeldeutigkeit der Figur, denn bis heute wird diskutiert, ob sie nicht doch Achilleus darstellen könnte, der sich die von Thetis empfangenen Waffen anlegt.
Wagner stellte Ludwig gegenüber ihr Verdienst mit ausdrücklicher Referenz auf Winckelmann heraus; er wertete sie auf durch den Vergleich mit der 1779 aufgefundenen, durch eine Namensbeischrift beglaubigten Porträtherme aus der Sammlung Azara im Louvre. In seinem Vorschlag für die Disposition der Glyptothek stellte er ganz im Sinne Winckelmanns die Statue in den Mittelpunkt einer „Kammer des Alexander“, deren Thema die Darstellungen griechischer Helden und Athleten sein sollte.
IV.
1814 gelang dann der Kauf von acht weiteren Skulpturen aus der Sammlung Barberini. Dazu gehörte auch die in dem eingangs zitierten Brief aufgelistete „Muse mit Leyer über Lebensgröße Palast Barberini“, für die Wagner ausführlich Winckelmanns Zuschreibung an den Bildhauer Ageladas, Lehrer des Phidias zitiert mit der Schlussfolgerung „folglich in dem Zeitraume verferdigt, wo sich die Kunst der Vollkommenheit näherte“. An anderer Stelle referierte Wagner jedoch die alternative Identifizierung als Apollon Kitharoidos, die sich heute durchgesetzt hat; die Datierung ist dagegen umstritten. Die androgyne Erscheinung Apollons war von Winckelmann selber ausführlich thematisiert worden, in diesem Fall blieb er aber bei der traditionellen Bezeichnung einer Muse.
Aus dieser Erwerbung stammt auch die erste ägyptische Skulptur für Ludwigs Sammlung; auch hier konnte Wagner sich für die Datierung auf Winckelmann berufen. Zu dessen unbekannteren wissenschaftlichen Verdiensten gehört die erste Darstellung der ägyptischen Kunst, die sich natürlich ausschließlich auf die in Rom und Tivoli gefundenen Ägyptiaca und Gemmen stützte. Aber bis zur „Expédition d’Égypte“ kann er durchaus als zuverlässige Referenz für die ägyptische Kunst gezählt werden, umso mehr, als er sich weder auf linguistischen Spekulationen zu den Hieroglyphen einließ, noch auf hermetische zur ägyptischen Religion. Er glaubte, drei ägyptische Stile nachweisen zu können: einen altägyptischen, einen durch das griechische Vorbild beeinflussten nach der Öffnung des Landes nach der persischen Eroberung und eine virtuelle Weiterentwicklung der ägyptischen Kunst, die von der Förderung ägyptischer Kulte und Künstler unter Hadrian angestoßen worden sei. Die Zuschreibungen vieler von ihm beschriebener Kunstwerke zu diesem sind in der Tat zutreffend, auch der neu erworbenen Dioritstatue: Wagner unterstreicht eigens die altägyptische Arbeit der sperberköpfigen Statue des Horus, die er mit Sandrart für Osiris hielt.
Die Erwerbung von 46 Skulpturen der Sammlung Albani 1815/16 in Paris bildete den größten geschlossenen Block in der Ankaufsgeschichte der Glyptothek, zumal von Skulpturen, deren ursprünglicher Erwerb und Aufstellung in der Villa Albani durch Winckelmann selber begleitet worden war. Die 1798 nach Paris überführten ca. 130 Skulpturen wurden Carlo Albani 1815 wieder zuerkannt, der aber die meisten gleich in Paris veräußerte, wo er auf die Antikengesetze des Kirchenstaats keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Einen kleineren Teil kaufte der Louvre, einen größeren Ludwig. Dazu gehörten neun ägyptische oder pseudoägyptische Skulpturen. Die Statue einer Isis hatte Winckelmann zutreffend seinem „späteren und schöneren Stil“, also der Ptolemäerzeit zugeschrieben. Eine weitere männliche Statue erkannte er wiederum anhand typologischer und stilistischer Merkmale als zum dritten ägyptischen Stil gehörig; somit waren jetzt alle drei von Winckelmanns ägyptischen Stilstufen in Ludwigs Sammlung vertreten.
Es bleibt also festzustellen, dass Winckelmann nicht nur für das Prestige der von Ludwig und Wagner erworbenen Kunstwerke stand, sondern immer noch eine wichtige Referenz für ihre wissenschaftliche Beurteilung und ihre künftige Ausstellung darstellte. In dem erwähnten Konzept Wagners für die Glyptothek kamen gleichermaßen neue und traditionelle Gedanken zur Anwendung. Traditionell ist die Grunddisposition der klassisch griechischen Kunst nach Themen, nach der noch Winckelmann den Katalogteil seiner Monumenti inediti aufgebaut hatte. Allerdings sind sie im ersten Entwurf Wagners durch einen ausgesprochen originellen Vor- und Abspann eingerahmt. Nach dem Eingangssaal verzweigt sich der Durchgang: Links eröffnen ihn die zeitgenössischen Skulpturen von Canova, Eberhard und Thorvaldsen, gefolgt von denen der „Mittelzeit“, der Renaissance und des Barock. Rechts hingegen erwarten den Besucher als erstes die römischen Porträts und Sujets.
Die Räume der eigentlich griechischen Skulptur sollten dagegen auf der linken Seite mit der „Kammer des Alexander“ beginnen, dem die Statuen griechischer Helden und Athleten zur Seite gestellt waren; wie aufgewiesen, eine Kategorisierung Winckelmanns. Dieser sollte dann rechts die „Kammer des Nero“ mit dem Nero-Hercules als Mittelpunkt gegenübergestellt werden. Dann folgten, ohne Angabe ob rechts oder links, die Kammer des Silens, des Fauns, des Bacchus, der Venus usw., zum Abschluss wurde der Besucher schließlich zu den Anfängen der Kunst in die „Hetrurische oder Alt-Griegische Kammer“, die „Kammer der Aeginätischen Werke“, und die „Aegyptische Kammer” geführt.
Wagners Disposition ist also ein Kompromiss von themenorientierter und chronologischer Aufstellung, mit der originellen Variante dass letztere „rückwärts“ verlief. Realisiert wurde jedoch von Klenze die neuartige Aufstellung nach Epochen, beginnend mit der ägyptischen Kunst, endend mit dem „Saal der Neueren“, die bis nach dem 1. Weltkrieg Bestand hatte. Bestehen blieb jedoch die thematische Einteilung der Säle der Kunstblüte: Apollo-Saal, Bacchus-Saal, Niobiden-Saal, Heroen-Saal, in letzterem war der Alexander Rondanini mit griechischen Helden und Athleten sowie römischen Kaisern versammelt.
Der Übergang von einer themenorientierten zu einer chronologischen Ordnung der antiken Skulptur weist also deutlich über Winckelmann hinaus. Diese Neuorientierung erwies sich nicht zuletzt als notwendig, um die Skulpturen von Aigina angemessen zu präsentieren. Mit der Entdeckung dieser neuen Kunstepoche war aber Rom als geographischer Horizont überschritten und damit auch der wissenschaftliche Winckelmanns, der in Griechenland nur in seiner Imagination zu Hause gewesen war.