In den meisten Priesterseminaren gibt es eine „Ahnengalerie“: Fotos der Weihekandidaten oder Neupriester am Tag ihrer Priesterweihe: hoffnungsfrohe Gesichter, zukunftsgewandt, bereit für Seelsorge und Verkündigung. Ich habe mich beim Betrachten oft gefragt: Was waren die priesterlichen Ideale dieser jungen Männer, damals 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs; oder 1939, als bald darauf die Synagogen brannten, die Nationalsozialisten die Judenvernichtung organisierten und ganz Europa in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führten? Werden sie geahnt haben, was schon bald nach der Priesterweihe auf sie zukam? Oder 1946, die wenigen Priesterkandidaten, die den Krieg überlebt hatten, voller Idealismus, bereit für den Neuaufbau einer Gesellschaft auf dem Boden christlicher Wertorientierung: Waren sie vorbereitet auf den schleichenden Säkularisierungsprozess, die gesellschaftlichen Umbrüche nach ’68 und die kirchlichen Veränderungen mit dem Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils? Und fragen wir die wenigen Kandidaten in den heutigen Pastoralkursen, was sie bewegt, heute Priester zu werden, ungeachtet des Glaubwürdigkeitsverlusts der Kirche, der beschämenden Pädophilieskandale und des vielerorts zu beklagenden Missmanagements?
Die Zukunft kann man nicht vorhersagen, aber man kann sich auf das, was kommt, innerlich einstellen. Dabei geht es um feste Verwurzelung im Glauben, um Gottvertrauen, aber auch um eine Bereitschaft und die Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen und flexibel zu reagieren – „Spiritualität“ im eigentlichen Sinn des Wortes: mit dem Wirken des Geistes Gottes rechnen und „hören, was der Geist der Kirche sagt“ (vgl. Offb 2-3). Gerade unübersichtliche Zeiten verlangen ein Leben „in Christus“, „im Geist“, wie Paulus den Christen seiner Zeit einschärft. Mit den Worten des Zweiten Vatikanums: „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 4). Als Weltpriester zur Zeitgenossenschaft mit unseren Mitbürgern gerufen, haben wir gewissermaßen in der einen Hand die Bibel (gern auch den CIC und den Katechismus), und in der anderen die Zeitung (auch den Wirtschaftsteil und das Feuilleton).
Ich möchte in diesem Zusammenhang an Papst Paul VI. erinnern, auf den nicht zufällig unser jetziger Papst Franziskus immer wieder Bezug nimmt. Die beiden Leitworte, mit denen Paul VI. das Konzil inspiriert und die Kirche damit reformfähig gemacht hat, waren „Dialog“ und „Dienst“. Das (je nach Lesart) viel gerühmte wie gescholtene Konzil hat hier tatsächlich eine Weichenstellung, wohl auch eine Kurskorrektur der Kirche in ihrem Weltverhältnis vorgenommen, wie es etwa in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (z.B. im Blick auf die sog. Autonomie der Weltbereiche) zum Ausdruck kommt. Gerade weil die Kirche als sacramentum mundi den Auftrag hat, der ganzen Welt die Wahrheit Gottes zu künden, muss sie diese auch in ihrer Haltung und ihrem Auftreten – auch in ihrer „Selbstorganisation“ – zum Ausdruck bringen: „Die Kirche wird kraft ihrer Sendung, die ganze Welt mit der Botschaft des Evangeliums zu erleuchten und alle Menschen aller Nationen, Rassen und Kulturen in einem Geist zu vereinigen, zum Zeichen jener Brüderlichkeit, die einen aufrichtigen Dialog ermöglicht und gedeihen lässt. Das aber verlangt von uns, daß wir vor allem in der Kirche selbst, bei Anerkennung aller rechtmäßigen Verschiedenheit, gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht und Eintracht pflegen, um ein immer fruchtbareres Gespräch zwischen allen in Gang zu bringen, die das eine Volk Gottes bilden, Geistliche und Laien. Stärker ist, was die Gläubigen eint als was sie trennt. Es gelte im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe“ (GS 92).
Diese Haltung der respektvollen Hochachtung vor jedem Menschen als Grundvoraussetzung für jeden Dialog hat Papst Paul VI. in seiner Antrittsenzyklika Ecclesiam Suam (6. Aug. 1964) zum Programm der Kirche erhoben und dem von ihm wieder einberufenen Konzil in der zweiten Sitzungsperiode das entscheidende Leitwort mitgegeben: „Die Kirche muss zu einem Dialog mit der Welt kommen, in der sie nun einmal lebt. Die Kirche macht sich selbst zum Wort, zur Botschaft, zum Dialog“ (ES 65). Und weiter: „Bevor man die Welt bekehrt, oder vielmehr um sie zu bekehren, muss man sich ihr nahen und mit ihr sprechen“ (ES 68).
Man kann erahnen, wie viel Gegenwind jener große Reformpapst während des Konzils und erst recht danach aushalten musste. In seiner Schlussrede auf dem Konzil (7.12.1965) ging Paul VI. unmittelbar, aber auch unbeirrt darauf ein: „Vielleicht noch nie hat die Kirche so sehr das Verlangen verspürt, die sie umgebende Welt kennen zu lernen, sich ihr zu nähern, sie zu verstehen, zu durchdringen, ihr zu dienen, ihr die Botschaft des Evangeliums zu bringen, gleichsam um ihr nachzugehen in ihrer raschen und fortwährenden Wandlung. Und das so sehr, dass einige befürchteten, das Konzil habe sich zum Schaden der Treue, die der Tradition gebührt, allzusehr bestimmen lassen von einem toleranten und übermäßigem Relativismus gegenüber der äußeren Welt, der ständig fortschreitenden Geschichte, der kulturellen Modeströmung.“ Paul VI. hält dagegen, dass sich die Kirche den Menschen von heute gegenüber zu einer Haltung des Dienens durchgerungen habe: „Die Idee des Dienstes hat eine zentrale Stellung eingenommen“, und sei zur Erkenntnis gelangt, dass, „um Gott zu kennen, man den Menschen kennen muss.“
Wenn das so ist, dann dürfen wir uns auch heute nicht einfach zurückziehen und angesichts des gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts und des fortschreitenden Mitgliederschwunds unsere Wunden lecken und uns selbst bemitleiden. Anstatt defensiv-trotzig die Mauern hochzuziehen („wir gegen den Rest der Welt“), sind wir vielmehr (vom Geist!) herausgefordert, „wahrzunehmen, was ist“ und „demütig und bescheiden“ jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15). Das Deutungsmonopol haben wir als Kirchen verloren, aber unsere Weltdeutung und Wertorientierung ist nach wie vor gefragt, vielleicht mehr als je zuvor.
Was bewegt die Welt – und fordert uns heraus? Kirchliche Sendung in säkularer Gesellschaft
Als Weltkirche, deren Sendung das Heil der Welt ist, muss uns bewegen, was die Welt bewegt, gerade in Zeiten großer Veränderungen und kultureller Umbrüche. Vor diesem Hintergrund möchte ich an das Wort des Paulus erinnern: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist“ (Röm 12,2). Ich möchte daher den Blick auf die Wandlungsprozesse lenken:
- In der Gesellschaft: in einem Land mit einer großen christlichen Vergangenheit (wir sind das „Land der Reformation“). Ich erinnere an die Einschätzung von Clemens Maria Hofbauer: „Die Reformation musste kommen, weil die Deutschen das Bedürfnis hatten, fromm zu sein.“ Wenn man heute auf das Ursprungsland der Reformation schaut, sieht man große weiße Flecken auf der Landkarte. In der Lutherstadt Eilsleben gibt es heute noch gerade 6% Christen, und auch in weiten Teilen des einst christlichen Abendlandes müssen wir uns einer säkularen Gegenwart stellen (vgl. Irland, Benelux, Frankreich …).
- In der Kirche, die ja Teil dieser Gesellschaft ist und auf gesellschaftliche Prozesse nicht nur reagieren, sondern sich im selben Zuge auch selber wandeln muss – und darüber hinaus eine eigene Schuld- und Verfehlungsgeschichte aufzuarbeiten hat. Man denke nur an den enormen Glaubwürdigkeitsverlust aufgrund der bedrückenden Fälle sexuellen Missbrauchs oder desaströsen Finanzgebarens.
- Mit Blick auf uns Priester, die wir als amtliche Repräsentanten der Kirche unter besonderemBeobachtungsdruck stehen und für alle Missstände haftbar gemacht werden, die angesichts der enormen „Verwerfungen“ in der Gesellschaft wie der veränderten Sozialgestalt der Kirche selber in einem enormen Wandlungsprozess stehen: worauf sollen / müssen die sich einstellen, die morgen Priester werden wollen- und was für Priester brauchen wir denn morgen (in einer Kirche, in der es keine einzelnen Gemeinden mehr gibt, sondern nur noch große pastorale Räume)?
Der Gestaltwandel (metamorphe) dieser Welt und Gesellschaft erfordert eine Umkehr (metanoia), genauer: ein Um-Denken (nous). Mit Gefühlsaufwallungen ist es in diesem Fall nicht getan. Vielmehr braucht es – wieder nach Paulus – den Geist der „Besonnenheit“ (sofrosyne: darin steckt die Wortwurzel von fronesis: Weisheit, Klugheit, Denken, Vernunft). „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Tim 1,7). Es geht also darum, gesellschaftliche und pastorale Wirklichkeit nüchtern wahrzunehmen und aus dem Geist Gottes zu deuten (vgl. den pastoralen Dreischritt SEHEN – URTEILEN – HANDELN, der auf die Lehre Kardinal Joseph Cardijns, 1882-1967, zurück geht). Wandlungsprozesse fordern zu einem Paradigmenwechsel heraus (nicht „oje“, sondern „aha“!), einem geistlichen und zugleich intellektuellen Prozess.
Wandlungsprozesse in der Gesellschaft
Wenn wir heute nach den „Zeichen der Zeit“ fragen, möchte ich mich auf drei Stichworte beschränken, die aber für epochale Umwälzungen stehen und die Kirchen und zuvörderst ihr Führungspersonal, also uns Priester, ganz elementar herausfordern: Individualisierung, Globalisierung, Digitalisierung.
Individualisierung: Noch vor zehn Jahren hatte es geheißen, Individualisierung sei das Signum der Postmoderne, verbunden mit einem ungeahnten Zugewinn an individueller Freiheit, die aber auch zu einer Überforderung des einzelnen führen kann. Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang vom „kollektiven Zwang zum Subjektivismus“.
Die VISA-Werbung von damals bringt das Lebensgefühl einer ganzen Genration m.E. unübertroffen auf den Punkt: „Die Freiheit nehme ich mir“. Im Wirtschaftlichen korrespondieren damit Schröders „Ich-AG’s“, wo jeder seines Glückes Schmied ist, aber auch selbst die Verantwortung für das Scheitern trägt. Es gibt eben nicht nur Gewinner, sondern mehr noch Verlierer. Das Aufleben des Neoliberalismus insbesondere in der jüngsten Schuldenkrise mit seinen unangenehmen Begleiterscheinungen – Rücksichtslosigkeit, Neid, Gier … – haben uns die gesellschaftlichen Verwerfungen vor Augen geführt.
Ein Afrikanisches Sprichwort sagt: Wenn wir gemeinsam den Fluss durchschwimmen, können uns die Krokodile nicht fressen. Doch wehe, wenn wir allein sind, vereinzelt, vereinsamt. Dann sind wir schlecht vorbereitet auf das, was sich als neues „Zeichen der Zeit“ ankündigt.
Globalisierung: Die sog. Flüchtlingskrise hat den unwiderlegbaren Erweis gebracht, dass unsere eurozentrische Sicht an ein Ende gekommen ist. Ich spreche bewusst von „Krise“: nicht einer der Flüchtlinge, sondern der europäischen Gesellschaft. Wir sind zwar schon seit Jahren voller Stolz Exportweltmeister, und als Reiseweltmeister sind wir bis in die entlegensten Winkel dieser Erde vorgedrungen. Aber Globalisierung ist keine Einbahnstraße. Mit den neuen Kommunikationsmitteln und Transportwegen hat eine neue Dynamik eingesetzt, die zwar auch schon vor zehn Jahren da war, aber erst jetzt in vollem Maße zu Bewusstsein kommt: die Welt kommt zu uns. Die Welt rückt zusammen, was vielen im Wohlstandseuropa gar nicht so recht ist. Mit dem Gefühl der Unübersichtlichkeit und der Unbehaustheit wächst nicht nur die Sehnsucht nach Heimat und Beheimatung, sondern greifen auch Mechanismen der Abgrenzung und Abschottung. Es ist nicht erst der transatlantische Ruf „America First“; auch hier bei uns erleben Nationalismus und Protektionismus fröhliche Urstände. Wenn die Grundeinschätzung und -überzeugung des Christlichen schwindet, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, dass wir alle Kinder eines Vaters im Himmel sind, Brüder und Schwestern untereinander – dann wird der Andere in seinem Anderssein die Begrenzung meiner Freiheit (Sartre), wird er erst recht in seiner Armut zur (moralischen) Bedrohung für den eigenen unbekümmerten Wohlstand. Insofern darf das Aufkommen fremdenfeindlicher Reaktionen und Verbindungen in ganz Europa nicht weiter verwundern. In dem Maße dem Christlichen der Boden entzogen ist, wird unsere Welt unsolidarischer.
In gewisser Weise hat uns in der Kirche der neue Papst „vom anderen Ende der Erde“ für diese globale Dimension die Augen geöffnet und uns bewusst gemacht, was wir schon immer waren, aber über Jahrhunderte vergessen haben: dass wir Weltkirche sind, keine europäische Kirche, die immerhin Missionare und Geldspenden in die sog. „Dritte Welt“ geschickt hat. Der Papst benennt unverblümt die globalen Herausforderungen und Ungerechtigkeiten und spricht von dem Idealbild einer „armen Kirche für die Armen“. Es sind die großen globalen Themen, die der Papst auf die Agenda seiner Kirche setzt, wenn er dem „Stöhnen der Schwester Erde“ und dem „Stöhnen der Verlassenen der Welt“ (LS 53) eine Stimme gibt: Armut und Entwicklung, soziale Ungleichheit und Einsatz für die SDG’s (Sustainable Development Goals) auf globaler Ebene, Klimazerstörung und Schöpfungsverantwortung. Die Katholische Soziallehre wird im globalen Kontext gewissermaßen weitergeschrieben; es geht um das Weltgemeinwohl, was die reiche Kirche in Amerika und Westeuropa in ganz neuer und elementarer Weise zur Übernahme von Verantwortung herausfordert. Dieser Paradigmenwechsel („erneuert euer Denken“) führt innerhalb der europäischen Kirche zu erheblichen Spannungen (Ost-West, Nord- Süd), aber zugleich auch zu einer Erneuerung der Kirche, die sich ihrer Sendung neu und tiefer bewusst wird.
Digitalisierung: Mit der Globalisierung eng verwoben sind die fast unbegrenzten Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation im Zeitalter der Digitalisierung, das sich erst andeutet und nach Meinung von Experten eine ähnliche umstürzende gesellschaftliche Veränderung nach sich ziehen wird, wie es die industrielle Revolution zu Beginn des letzten Jahrhunderts ausgelöst hat, als mit der Kohleförderung und Energiegewinnung die Nacht zum Tage wurde, industrielle Fertigung ermöglichte (Dampfmaschine) und bis dahin ungeahnte Transportwege (Eisenbahn) erschlossen wurden.
Wenn man heute unter dem Stichwort „Arbeit 4.0“ an die Fortschritte der Robotik denkt oder an selbstfahrende Autos etc., steht im Vordergrund die begründete Angst vor dem Wegfall von Arbeitsplätzen, was u.a. einen Verdrängungswettbewerb nach sich ziehen wird und in einer saturierten Gesellschaft (Mittelstand) vor allem Verlustängste auslöst. Doch bislang können wir nur erahnen, wie grundstürzend sich das Leben mit der Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz verändern wird, die vor allem dank der Satellitennutzung mit der schier unbegrenzten Speicherung, Anwendung und Steuerung von Daten (BIG DATA) einhergeht. Da dürfte nur ein Vorgeplänkel sein, was sich im Schutz der Anonymität im Netz an eruptiven Aggressionen (der „Verlust der Anständigkeit“) oder auch strategischen Manipulationen („asymmetrische Kriegsführung“) zeigt, was z.B. zur Beeinflussung und Untergrabung demokratischer Prozesse (etwa durch Trolle oder Hacker) führt. Das Internet als „Echoraum der eigenen Vorurteile“ (Thierse) dürfte der Manipulierbarkeit und Kontrollierbarkeit des Menschen ungeahnten Vorschub leisten, wenn objektive Fakten und Wahrheiten durch subjektiv plausible, auf den Einzelnen zugeschnittene „alternative Fakten“ ersetzt werden. Man darf sich fragen, in wessen Händen sich die Macht über die personenbezogenen Daten befinden, und mit welchem Ethos diese Macht eingesetzt und / oder ausgespielt wird.
Ein konkretes Beispiel liefert die chinesische Sonderverwaltungszone Xiongan: Mit einem gigantischen Punktesystem wollen Chinas Kommunisten jeden einzelnen Bürger zu sozialistisch-tugendhafter Folgsamkeit zwingen. Die Pläne von Chinas Regierung, mit einem „Sozialkreditpunktesystem“ die rund 1,4 Milliarden Einwohner der Volksrepublik zu einem vorgeschriebenen sozialen Verhalten zu zwingen, sehen laut Berichten von Staatsmedien erstmals auch Strafen für Wohlhabende vor und gehen damit weit über ihr bisher bekanntes Ausmaß hinaus. Dieses Bewertungssystem untersucht „Gesetzestreue, moralisches Wohlverhalten, soziales Engagement, Aktivitäten im öffentlichen Interesse und Umweltschutz“ jedes einzelnen Bürgers. Abweichungen von sozialen und moralischen Normen werden bestraft. Landesweit will Chinas Staatsrat das „Soziale Bonitätssystem“ ab dem Jahr 2020 einführen. Es soll neben sozialem Wohlverhalten auch die Kreditwürdigkeit der Bürger beurteilen.
Die Ankündigung erinnert auf erschreckende Weise an den totalen Überwachungsstaat in George Orwells Roman „1984“, in dem die allgegenwärtige „Gedankenpolizei“ der herrschenden Staatspartei das Leben und Denken der gesamten Bevölkerung in ihrem Sinne infiltriert, kontrolliert und manipuliert.
Mit diesen Entwicklungen im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung, die unsere Weltgesellschaft als Ganze betreffen und jeden einzelnen herausfordern, werden auch wir uns als Christen bzw. als Kirche beschäftigen und auseinandersetzen müssen. Das mag ernüchtern, sollte aber keineswegs entmutigen oder niederdrücken. Denn als Christen, für die jeder Mensch „persona“ ist: in sich stehend und beziehungsfähig, leben wir aus Hoffungs- und Handlungsressourcen, die es uns ermöglichen, konstruktiv mit diesen Entwicklungen umzugehen, anstatt sie zu erleiden. Als Kirche und Christen sind wir doch Experten für menschliche Begegnung und personale Zugewandtheit, setzen wir auf Beziehung statt auf Kontrolle und Machtdurchsetzung – auch wenn wir bisweilen leidvoll lernen mussten, dass auch wir als Kirche Teil jener Wandlungsprozesse waren und sind.
Wandlungsprozesse in der Kirche
Die Trias Individualisierung – Globalisierung – Digitalisierung kennzeichnet und bestimmt natürlich auch das Leben der Kirche, die ja Teil der Gesellschaft ist und sich zugleich als Gegenentwurf zu den zeitgeistigen Strömungen präsentieren muss. Vor allem aber: Während jeder Mensch jenen umwälzenden Entwicklungen ausgeliefert ist, haben Christen eine Ressource, die sie zusammenhält und ihnen ein Instrumentarium gibt, um all jenen Herausforderungen konstruktiv zu begegnen und gleichzeitig für alle Zeitgenossen einen Raum der Sicherheit und Geborgenheit zu bieten.
So führt die zunehmende Individualisierung der heutigen Menschen und Kirchenglieder zu einer Pluralität der Lebensentscheidungen. Das löst gerade auch bei den Führungskräften und zumal bei den Priestern Ängste aus, wie aus einer repräsentativen Studie im Erzbistum Paderborn (2008-09) hervorgeht, an der rd. 95 % der Priester im aktiven Dienst (= rd. 800) teilgenommen und sich explizit geäußert haben. Die Studie kommt zu dem Schluss: „Ad extra macht den Priestern der zunehmende gesellschaftliche Bedeutungsverlust der Kirche zu schaffen. Die Menschen scheinen auch ohne Kirche und Christentum ganz gut durchs Leben zu kommen und bearbeiten ihre zentralen Sinnfragen bei anderen als den kirchlichen Anbietern. Es verunsichert, dass auch in der Säkularität Potenziale der Lebensdeutung abgeschöpft werden können und auch die anderen Weltreligionen kulturelle Attraktivität besitzen. Ad intra wirken die internen Differenzierungen noch bedrohlicher: Man stellt fest, dass sogar viele Ältere und Kerngemeindemitglieder eigene Interpretationen des Kircheseins über die gesetzten Standards stellen, dass Gottesdienste und Sakramentenempfang wahlförmig geworden sind, dass moralische und dogmatische Standards dauernd unterboten werden und sich auch in der Gemeinde Glaubens‐ und Zugehörigkeitsstile verändern.“
Christ werden und Christ sein im Zeitalter der Postmoderne, wo der einzelne sich durchringen muss zu seiner reifen Form des selbstgewählten und selbstverantworteten Christseins, ist zweifellos anstrengender als in einem geschlossenen Milieu, wo der Glaube des einzelnen immer auch unter einem Kontroll- und Konformitätsdruck steht, sich aber auch nicht rechtfertigen oder auch nur erklären muss. Und es ist zweifellos auch anspruchsvoller, in der Pastoral dem einzelnen Wahl- und Wachstumsmöglichkeiten zu eröffnen, ihn aber frei zu lassen in seiner Entwicklung und seine freie Entscheidung der Annahme oder Verweigerung zu akzeptieren. Aber ist der Verlust der Deutungshoheit über die öffentliche Meinung und der Verlust der Kontrolle über den Glauben des einzelnen wirklich Verlust – oder nicht vielmehr ein Gewinn? Auch wenn selbst unter treuen Katholiken hierzulande schon lange nicht mehr gilt: Roma locuta, causa finita – die Lebensdeutung der Kirche, ihre Wertorientierung aus dem Glauben ist auch heute gefragt, vielleicht mehr als jemals zuvor.
Als Papst Benedikt zurücktrat, habe ich mir die Frage gestellt: wie wird es sein, wenn der erste Papst aus einem nichteuropäischen Land kommt? Und mir war klar: er wird – unbeschadet der katholischen Glaubenslehre – andere Akzente setzen. Und genauso ist es gekommen: Papst Franziskus öffnet uns eurozentrisch verengten Christen wieder den Blick auf die ganze Kirche und die Menschen in der ganzen Welt. Als Kirche in Europa müssen wir uns an den Gedanken einer symphonischen, „polyzentrischen Kirche“ (Metz) gewöhnen. Dass dies mit Verlustängsten einhergeht und diesem umfassenden Kirchenverständnis in einer globalen Welt offener oder verdeckter Widerstand begegnet, gerade auch im binnenkirchlichen Kontext, ist unübersehbar. Wenn die Welt größer wird, wird der eng umgrenzte Raum kleiner, bedeutungsschwächer. Kirche erlebt auch in dieser Hinsicht einen Wandlungsprozess, der sie mehr sie selbst sein lässt: Weltkirche, die die ganze Menschheitsfamilie im Blick hat; alle Kinder eines Vaters im Himmel, untereinander Schwestern und Brüder. Das fordert uns heraus, auch weltkirchlich zu denken. Dass wir in unterschiedlichen Kulturen leben, unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedliche Gewohnheiten haben, wusste auch schon der Diognetbrief. Denn unsere DNA als Christen ist doch gerade, dass Einheit in Verschiedenheit möglich ist, Einheit und Freiheit keine Gegensätze sind. Das bedeutet freilich ein Ende des Kirchturmdenkens und der Abschied von einem verbürgerlichten Christentum, wo – etwa in ländlichen katholischen Räumen – die Dörfer einander in herzlicher Abneigung verbunden waren und sich neuerdings in einem gemeinsamen pastoralen Raum als die eine Kirche Gottes begreifen müssen. Die Aufforderung des Papstes, nicht bei sich und unter sich zu bleiben, sondern „rauszugehen“, impliziert allerdings auch das Wagnis, sich mit anderen Logiken, Denk-, Lebens- und Erfahrungswelten auseinandersetzen zu müssen, sich ihnen auszusetzen, auch intellektuell. Da mögen uns die Fremden, die als Migranten plötzlich in unsere gepflegte Wohlstandszonen eingebrochen sind, in unserem Christ- und Kirchesein herausgefordert und unbeabsichtigt einen Revitalisierungsschub unserer Kirchengemeinden ausgelöst haben. Wovor also haben wir Angst? Wir haben als Kirche und Christen doch gelernt, mit Fremden umzugehen: „Du wirst den Fremden lieben, denn er ist wie du“ (Lev 19,34; Übersetzung von Martin Buber). Wenn Christsein also heißt, plurizentrisch zu denken: vom Anderen her und auf den Anderen zu, in dem ich ein Abbild Gottes erkenne oder zumindest erahne, dann müsste uns eigentlich bewusst sein, dass in einer globalen Welt Christen, erst recht als Glieder einer Weltkirche, die eigentliche Avantgarde sind: als Experten für Begegnung und Beziehung, für Dialog und Dienst – Menschen mit Weltdimension. So erhält der Sendungsbefehl Jesu: „Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15) erst recht in einer globalen Welt seine volle universale Geltung.
Wenn im Zeitalter der Digitalisierung das Leben immer mehr von Algorithmen bestimmt wird, von selbstprogrammierten Maschinen und anonymen Mächten, dann wächst doch umgekehrt proportional – so lässt sich vorstellen – die Sehnsucht nach menschlichen Beziehungen, nach „face to face“- Kontakten. Je unbeständiger und unbehauster der Mensch in seiner Lebens- und Arbeitswelt ist, desto mehr wird doch bewusst, wie sehr der Mensch auf Verlässlichkeit und Beständigkeit angewiesen ist, auf unverbrüchliche Liebe, auf Treue und Vertrauen. Die Frage nach letzten Wahrheiten wird kein Computer beantworten können. Vor diesem Hintergrund könnte man meinen: die große Zeit der Kirche kommt erst noch, denn hier ist der Ort personaler Annahme und bedingungsloser Zusage, dass der Mensch nicht nur eine Nummer ist, sondern ein Gesicht, eine Geschichte und einen Namen hat: Person ist im ganz umfassenden Sinn, liebenswürdig und liebesfähig.
Womit kann ich dienen? Priester sein in einer Kirche, die dient
Der in kirchlichen Kreisen weit verbreitete Kammerton der Klage weist ein ängstliches, defensives, rückwärtsgewandtes Denken auf. Denn es geht von Idealvorstellungen aus: was einmal war und nicht mehr ist; was eigentlich sein sollte und (noch) nicht ist (oder auch niemals sein wird). Damit hält man sich aber konstitutiv im „Minusbereich“ auf und thematisiert, was an die (vermeintlichen) hundert Prozent fehlt. Doch das ist nicht im Sinne des Evangeliums. Die geistliche Fragestellung (die auch für die Pastoral unerlässlich ist), lautet vielmehr: Was möchte Gott uns in dieser Situation sagen?
Gastropastoral: Daraufhin muss auch die Pastoraltheologie die Wirklichkeit befragen: was sind die pastoralen Gelegenheiten (challenges – options); Zulehner spricht in diesem Zusammenhang von einer pastoraltheologischen „Kairologie“. Den von Pastoraltheologen immer neu etablierten Unterdisziplinen wie Pastoralpsychologie, Pastoralsoziologie, Pastoralmedizin, Pastoralästhetik, neuerdings auch Pastoralgeographie … möchte ich nachstehend eine weitere hinzufügen: eine schlichte „Gastropastoral“. Sie verläuft nach demselben Muster, wie es in vielen Restaurants bewährte Praxis ist. Sie beginnt mit einem Dialog zwischen Gastgeber und Gast:
„Womit kann ich dienen?“ – „Was können Sie denn empfehlen?“ – „Unsere Hausspezialität steht oben auf der Karte“ – „Ich hätte da noch einen besonderen Wunsch, der aber nicht auf der Karte steht“ – „Ich frage gern mal in der Küche nach …“
So oder ähnlich wiederholt sich täglich in der Gastronomie das Eröffnungsritual. Mittlerweile hat sich eingebürgert, dass vorweg schon einmal „eine kleine Aufmerksamkeit aus der Küche“ das Warten verkürzt, und zum krönenden Abschluss wird dem Gast nicht selten noch einen Digestiv „auf Kosten des Hauses“ angeboten.
Was wir von der „gastropastoralen“ Alternative lernen könnten, wäre eine relationale Ekklesiologie, die „kundenorientiert“ nach den (nicht nur religiösen) Bedürfnissen der Menschen fragt und die (das darf jetzt nicht wirklich überraschen) „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1) teilt. Entscheidend ist dabei der Subtext: Der Kunde ist König, ob Stammgast oder Zufallsgast, ob eine ganze Gesellschaft einfällt oder ein Ehepaar mit einem Kleinkind …: jeder und jede wird mit Freundlichkeit und Höflichkeit empfangen und bedient. Das ist eine Frage des Ethos. (Als letzte Amtshandlung hatte ich als Regens des Priesterseminars noch ein „Freundlichkeitsseminar“ für Diakone und Flugbegleiterinnen der Lufthansa geplant, was dann aber leider nicht mehr zustande gekommen ist.)
Ob der Gast im Restaurant (resp. an der Kirchentür …) sich wohlfühlt, hängt dann
– von der Professionalität des Personals,
– von der Aufmerksamkeit, Zuvorkommenheit und gleichzeitigen Zurückhaltung,
– aber nicht minder auch vom Ambiente, der Atmosphäre des Raums
– und natürlich von der Qualität dessen, was dem Gast aufgetischt wird, ab.
Abgeleitet von der gastronomischen Praxis stellen sich daher einige Fragen an unsere Pastoral:
- Aushängeschild ist die Karte: Wissen wir, was wir anzubieten haben? Wie ist unsere Präsentation?
- Was ist die „Spezialität unseres Hauses“?
- Wie steht es um die (berufsmäßige) Freundlichkeit des pastoralen Personals (Kundenorientierung)? Jeder ist wichtig – ob er Stammkunde ist oder zufällig oder aus Versehen in unsere Veranstaltung kommt. Wir haben keinen Grund, enttäuscht oder beleidigt zu sein, wenn andere wegbleiben.
- Wie gehen wir mit „Sonderwünschen“ (die extra mile) um? („Dafür bin ich nicht zuständig.“)
- Gibt es auch bei uns „kleine Aufmerksamkeiten“? (Etwa einen Gruß vom Pfarrer …)
- Wie ist unser Ambiente: einladend oder abstoßend; nach welchen Geschmacksvorgaben?
- Wie steht es um unsere Unternehmenskultur / Professionalität des Personals?
- Gibt es so etwas wie ein „super additum“?
Es ist, glaube ich, unschwer zu erraten: mir geht es hier nicht ums Essen, sondern ums Bedienen. Jene Szene aus dem Gastrobereich scheint mir wie ein Paradigma für die Pastoral zu sein, so dass es erstaunlich ist, dass darüber so wenig im Sinne einer „Gastropastoral“ zu lesen ist. Dabei liegt dies doch auf der Hand, zumal Jesus selber sich – bildlich gesprochen – als „Kellner“ versteht: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45; par Mt. 20,28).
Jener dezente Hinweis ist umso bedeutungsschwerer, als jene von den Synoptikern geschilderte Szene auf dem Weg nach Jerusalem: der Streit um die bevorzugten Plätze im kommenden Reich rechts und links vom Herrn, die bei Lukas in den Abendmahlsaal verlegt wird (Lk 22, 24-30). In jener letzten Stunde vor seiner Gefangennahme, seinem Leiden und Sterben, in der Jesus im intimsten Kreis mit seinen Jüngern zusammen ist und ihnen sein tiefstes Vermächtnis anvertrauen will: seine Selbsthingabe in den Zeichen von Brot und Wein, „entstand unter ihnen ein Streit darüber, wer von ihnen wohl der Größte sei“ (V. 24). Was für eine absurde Situation, die deutlich macht, dass auch seine engsten Weggefährten nicht verstehen, worum es Jesus im Letzten und Tiefsten geht. Dann begibt sich Jesus wieder auf eine Stufe mit ihnen und erklärt: „der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste und der Führende soll werden wie der Dienende. Welcher von beiden ist größer: wer bei Tisch sitzt oder wer bedient? Natürlich der, der bei Tisch sitzt. Ich aber bin unter euch wie der, der bedient“ (V. 26f).
Zeit – wichtiger als der Raum (Papst Franziskus): Mit dem Bochumer Pastoraltheologen Matthias Sellmann können wir von der Gebotenheit einer „relationalen Ekklesiologie“ sprechen, bei der es nicht darum geht, Räume zu besetzen, sondern Prozesse anzustoßen: „Es ist unübersehbar, dass die verfasste Kirche Platz machen muss. Nicht nur oberflächlich betrachtet verliert sie gegenwärtig personelle, ökonomische, juristische und prestigeförmige Ressourcen. Von der Platzmetapher her betrachtet, wird vieles schlicht leerer: Kirchen, Seminare und andere Ausbildungsstätten, Pfarrhäuser und Dienstwohnungen, Gemeindeheime, Gremien, Jugend- und Sozialverbände.“Eines der offensichtlichsten Kennzeichen der gegenwärtigen Pastoralplanung ist das Handeln in der Raumdimension, etwa durch die Vergrößerung der Pfarreiterritorien, die Umnutzung oder der Abriss von Kirchengebäuden; der Abschied von der Einteilung in ‚territoriale‘ und ‚kategoriale‘ Pastoral …,„»Platz machen müssen« und »viel zu viel Platz zu haben« ist sicher eine empfindliche Kränkung des Christseins und der organisierten Kirche.“
Es ist erstaunlich, dass Papst Franziskus gerade in dieser Hinsicht immer wieder zu einem Paradigmenwechsel aufruft: „Die Klage darüber, wie barbarisch die Welt heute sei, will manchmal nur verstecken, dass man in der Kirche den Wunsch nach einer rein bewahrenden Ordnung, nach Verteidigung hat. Nein – Gott begegnet man im Heute.“ Und weiter: „Gott zeigt sich in einer geschichtsgebundenen Offenbarung, in der Zeit. Die Zeit stößt Prozesse an, der Raum kristallisiert sie. Gott findet sich in der Zeit, in den laufenden Prozessen. Wir brauchen Räume der Machtausübung nicht zu bevorzugen gegenüber Zeiten der Prozesse, selbst wenn sie lange dauern. Wir müssen eher Prozesse in Gang bringen als Räume besetzen. Gott offenbart sich in der Zeit und ist gegenwärtig in den Prozessen der Geschichte. Das erlaubt, Handlungen zu priorisieren, die neue Dynamiken hervorrufen. Es verlangt auch Geduld und Warten.“
„Best Practice“: Die Campus Akademie: Um es nicht bei der Theorie zu belassen, die immer unter dem Verdacht des „Besserwisserischen“ steht, soll abschließend ein konkretes Projekt vorgestellt werden, das zumindest annäherungsweise veranschaulichen möchte, wie es aussehen kann, sich bietende pastorale Gelegenheiten wahrzunehmen und sich schrittweise auf pastorale Prozesse einzulassen. Konkret geht es um eine Initiative der Katholischen Akademie Schwerte, deren pastorale Aufbruchsdynamik mit einer schlichten Feststellung begann. Anstatt uns in der Kirche angstvoll zu fragen: „Wie erreichen / wie kriegen wir sie …?“ (die Jugendlichen, die Ordens- und Priesterberufungen, die Frauen, die Arbeiter, die Intellektuellen …) oder mit Blick auf die eigenen Aktivitäten in der Gemeinde: „Wie finde ich Mitarbeiter zur Sicherstellung meiner Pastoral?“ (Pfarrgemeinderäte, Kirchenvorsteher, Gruppenleiter, Tischmütter …), könnte man ja umgekehrt fragen: wer immer mir als Repräsentant der Kirche begegnet: „Was braucht Ihr?“, „Womit kann ich Euch dienen …?“
Das war auch die Ausgangsfrage im Blick auf Schüler und Schülerinnen der katholischen Gymnasien im Erzbistum Paderborn, die vor dem Abitur standen, aber unsicher waren, welchen beruflichen Weg bzw. welches Studium sie eingehen sollten. Als Akademie verfügen wir über ein großes Netzwerk in allen Lebens- und Fachbereichen, das wir den Jugendlichen zur Verfügung stellen konnten. Angesichts der unübersehbaren Fülle gesellschaftlich nicht normierter und präjudizierter Lebensentwürfe und Lebensstile in der Postmoderne stehen insbesondere junge Menschen vor der Herausforderung, mit Blick auf die eigene Lebensorientierung je neu auswählen zu dürfen und sich je neu entscheiden zu müssen. Das eröffnet ungeahnte Lebensperspektiven, kostet aber auch Lebensenergien und birgt ungeahnte Risiken und Gefahren. So bleibt bei jeder Wahl die Ungewissheit, ob man sich richtig entschieden hat und die eigenen Potenziale optimal ausgeschöpft werden. Je mehr Potenzial an Begabungen und Fähigkeiten ein junger Mensch hat, desto mehr potenzieren sich die Wahlmöglichkeiten, aber auch die Aporien hinsichtlich tragfähiger Lebensentscheidungen.
Mit der Exzellenzinitiative der Campus-Akademie hat die Katholische Akademie Schwerte 2006 in Kooperation mit den katholischen Gymnasien im Erzbistum Paderborn ein Projekt der Begabtenförderung ins Leben gerufen, das einen ganzheitlichen Ansatz der Persönlichkeitsentwicklung in intellektueller, sozialer, religiöser, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht verfolgt und Jugendliche auf Grundlage der christlichen Wertorientierung bei ihrer Berufswahl, ihrer Lebensplanung sowie ihrem gesellschaftlichen Engagement unterstützt.
Nach durchlaufenem Bewerbungs- und Auswahlverfahren erhalten in jedem Jahr rd. 25 begabte Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 12 eine Einladung zur Sommerakademie in der Katholischen Akademie Schwerte unter dem Leitwort „Abenteuer Menschsein“, wo sie auf Gleichgesinnte mit ähnlichen Fragen und persönlichen Antwortversuchen treffen. Den jungen Menschen wird dazu die Begegnung und das Gespräch mit hochrangigen Verantwortungsträgern ermöglicht. Diese Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens lassen sich auf den kritischen Dialog mit den Jugendlichen ein und berichten von ihren Lebensprojekten und eigenen Lebenserfahrungen.
Neben der Orientierung an erfahrenen Vorbildern gewinnen die Schüler und Schülerinnen auf diese Weise ein authentisches Bild von aktuellen Tendenzen und Herausforderungen im Bereich des verantwortlichen Handelns in Wirtschaft, Kultur, Kirche, Forschung und Politik und können so selbst die eigene Lebensplanung und –orientierung vor dem Hintergrund der Zeichen der Zeit hinterfragen.
Die Campus-Weggemeinschaft: Das Angebot der Campus-Akademie ist bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf ein überaus positives Echo gestoßen. Dabei schätzten sie sowohl die Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit als auch die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Dem Wunsch nach weiterer Begleitung und Förderung der begabten jungen Menschen wird daher auch über die Campus-Sommer-Akademie hinaus, mit einem aufbauenden Konzept spezieller Kursangebote zur Potenzialanalyse („Zwischen den Jahren“), mit Exkursionen zu modernen Wallfahrtsstätten gelebten Glaubens (Fazenda da Esperança, Weltjugendtag) und spirituell-lebensorientierten Studienfahrten (Kar- und Ostertage im Heiligen Land) entsprechend nachgekommen.
So entstand auf Initiative der Jugendlichen selbst aus den Anfängen einer Schüler-Akademie eine ausbildungs- und studienbegleitende „Weggemeinschaft“, die über ein Internetportal vernetzt ist und viermal im Jahr ein offenes Treffen in der Katholischen Akademie Schwerte anbietet. Mittlerweile haben sich an derzeit fünf Studienstandorten sog. Campus-Regionalgruppen gebildet, die sich mehrmals im Semester zu Austausch und gemeinsamen Aktionen treffen und sich mit anderen studentischen Initiativen zusammenschließen. Die Initiative der Campus-Weggemeinschaft zielt auf den Aufbau einer studien- und ausbildungsbegleitenden Förderung und Vernetzung künftiger Verantwortungsträger ab, die in ihrer christlichen Identität unterstützt werden sollen und denen die Möglichkeit gegeben wird, in Bindung an einen Ort die Kompetenzen der Katholischen Akademie Schwerte in Anspruch zu nehmen und ihrerseits ihre je spezifischen Beiträge dort einzubringen.
Seit 2007 haben rd. 240 Schülerinnen und Schüler an der Campus-Akademie teilgenommen, die auch während ihres Zivildienstes, Auslandseinsatzes oder Hochschulstudiums untereinander und über die Katholische Akademie Schwerte in Kontakt sind. 2011 wurde der gemeinnützige Verein „Campus-Weggemeinschaft e.V.“ als Forum des persönlichen, fachlichen und beruflichen Austausches im Geist gegenseitiger Unterstützung und Anteilnahme gegründet. „Ziel des Vereins ist es, junge, engagierte Menschen in ihrer sozialen und beruflichen Entwicklung zu fördern, sie über die Grenzen einzelner Jahrgänge bzw. akademischer und beruflicher Schwerpunkte hinweg zu vernetzen und ihnen eine Plattform für persönliche Begegnung, geistige Auseinandersetzung und Entwicklung gemeinsamer Initiativen zu bieten“ (Präambel Vereinssatzung). Studenten der Campus-Weggemeinschaft organisieren sich in derzeit acht Fachschaften, um in wissenschaftlicher und beruflicher Hinsicht voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Mit dem Vorstand und den Koordinatoren der Fachschafts- und Hochschulgruppen nehmen Alumni der Campus-Akademie mittlerweile eigenständig die Verantwortung für die Campus-Weggemeinschaft wahr, darin konstruktiv unterstützt und beraten durch die Katholische Akademie Schwerte. Ihnen ist es ein Anliegen, den Verein im Geist der selbstgegebenen Satzung mit Leben zu füllen: „Die Mitglieder des Vereins, die in dem christlichen Menschenbild den Maßstab für ihre Wertorientierung und Lebensgestaltung suchen, sind einander im Geist einer affektiven und effektiven Weggemeinschaft verbunden und unterstützen sich gegenseitig in ihrem gesellschaftlichen und sozialen Engagement. Aufgrund ihrer Gemeinwohlorientierung sind sie bereit, entsprechend ihrer Profession und Kompetenz nach Möglichkeit gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen“ (Präambel Vereinssatzung).
Campus 2.0: Die Erfahrungen der Campus-Akademie sind vielen Teilnehmern noch Wochen und Monate nach der Veranstaltung im Kopf geblieben. Vor allem die junge Gemeinschaft, in der man alles offen ansprechen kann und in der sich immer jemand findet, der einem zur Seite steht, hat die Abiturienten regelrecht berührt. Daraus ist die Idee entstanden, eine ähnliche Akademie-Woche jährlich stattfinden zu lassen, und zwar für alle ehemaligen Teilnehmer der Campus-Akademie.
Campus 2.0 bietet Raum zum interdisziplinären, jahrgangsübergreifenden Austausch. Neben Vorträgen externer Referenten gibt es auch Workshops, die von Mitgliedern der Campus-Weggemeinschaft selber gestaltet werden. Dabei stellen Studenten und Berufseinsteiger Themen vor, mit denen sie sich im Studium oder im Ehrenamt beschäftigt haben. Anschließend besteht für die facheigenen und fachfremden Zuhörer die Möglichkeit, selbst Anregungen einzubringen. Weitere Bestandteile im Campus 2.0-Programm sind Glaubensimpulse und Diskussionsabende. In der Regel findet Campus 2.0 jedes Jahr zum Ende der eigentlichen Campus-Akademie statt. Dadurch können sich die neuen Mitglieder gleich in das Vereinsleben der Campus-Weggemeinschaft integrieren.
Soziale Projekte: Seit September 2014 setzen sich Mitglieder der Campus-Weggemeinschaft u.a. für benachteiligte Jugendliche ein. In der Überzeugung, dass eine Förderung des Gemeinwohls nur durch Dialog und persönlichen Einsatz zu erreichen ist, bringen die Studenten Themen wie soziale Teilhabe, ökologische und soziale Nachhaltigkeit, Rassismus und Drogensucht ins Gespräch mit den Jugendlichen, untersuchen die Mechanismen von Wirtschaft und Arbeitswelt und stellen immer wieder die Frage, wie man als mündiger Bürger und Mensch sein Leben verantwortungsvoll in der Gesellschaft leben kann. Das Ergebnis ist eindeutig: Nach einer Zeit des gegenseitigen Kennenlernens ist eine Vertrauensbasis gewachsen, auf der ein richtiger Gesprächsprozess über die ernsten Themen des Lebens stattfindet. Ohne den Leistungsdruck von Schulunterricht lernen die Jugendlichen so, wie sie ihr eigenes Leben in die Hand nehmen und dafür Verantwortung übernehmen können. Neben den wöchentlichen Einheiten werden auch mehrtägige Blockveranstaltungen durchgeführt, bei denen zu einzelnen Aspekten besonders intensiv gearbeitet wird. Besonders hervorzuheben ist auch das Wochenende zur Drogen- und Suchtprävention, das in Kooperation mit der Fazenda da Esperança durchgeführt wird. So soll einer besonderen Anfälligkeit für Süchte und Abhängigkeiten, die aus der Lebenssituation der Schüler resultiert, Vorschub geleistet werden. Zwar ist der Erfolg eines Projektes nur schwer zu bemessen, es ist aber deutlich spürbar, dass die Jugendlichen ein immer besseres Gefühl dafür bekommen, was es bedeutet, Protagonist im eigenen Leben zu sein. Deshalb ist auch die Campus-Weggemeinschaft entschlossen und freut sich darauf, diesen Weg mit Jugendlichen, die oft am Rand unseres Bewusstseins stehen, weiter zu gehen und so am Aufbau einer vereinten Gesellschaft mitzuwirken.
CAMPUSprofessional: Woher und Wohin? Diese Fragen standen am Beginn der Campus-Akademie, kurz vor dem Abitur. Aber die Fragen wiederholen sich an den unterschiedlichen Weggabelungen des Lebens. Da ist es eine Hilfe, auch weiterhin miteinander im Gespräch zu sein und sich darüber auszutauschen, was in der neuen Lebensphase wichtig ist, was die je eigenen Ideale und Wünsche sind, die guten und weniger guten Erfahrungen … Wenn Studium und Ausbildung mehr oder weniger abgeschlossen sind und die Berufseinstiegsphase hohen Einsatz erfordert, geht es mit der Frage der weiteren Lebensplanung auch um finanzielle Unabhängigkeit und Partnerschaft. Mit der Initiative CAMPUSprofessional an unterschiedlichen Standorten wie Berlin oder München machen die Alumni nach guter CAMPUS-Tradition miteinander ihre Fragen der Lebensgestaltung zum Thema, verbunden mit spirituellen Impulsen und Aspekten ethischer Führung, um voneinander zu lernen und sich weiter zu vernetzen.
Die Initiative der Campus-Akademie bzw. – Weggemeinschaft ist ein offener Prozess. „Wir haben einfach angefangen“ – und es hat sich eine Dynamik entfaltet, die alle Ideen, Vorstellungen und Pläne des Anfangs bei weitem übertroffen hat. Dabei kommt mir ein Wort in den Sinn, das der heiligen Katharina von Siena zugeschrieben wird: „Wenn wir die sind, die wir sein sollen, werden wir ganz Italien in Brand stecken“. Wahrlich bewegte Zeiten, die dazu herausfordern, mit den Worten der Psalmen darauf zu bauen: „Sende aus deinen Geist, und das Antlitz der Erde wird neu“ (vgl. Ps. 104).