Der Messias-Ahne als Räuberhauptmann, Schurke, Bisexueller und Ehebrecher – König David und die Dialektische Ethik der Hebräischen Bibel
Grundzüge König Davids
Der Messias komme aus dem Hause David. So die christliche und jüdische Verheißung. Christen sagen: Der Messias ist bereits gekommen. Jesus ist der Messias, der Heiland, der Christus. Nein, sagen Juden: Der Maschiach, wörtlich: der Gesalbte oder auch der (von Gott) Gesandte wird kommen.
Die jüdische Tradition wäre nicht jüdisch, hätte sie ausgerechnet hier auf Dialektik verzichtet.
Die alttestamentliche Messiasverheißung ist – nicht nur der wegen des krassen Übersetzungsfehlers aus Jesaja 7, 14 („Jungfrau“ statt „junge Frau“) – alles andere als eindeutig. „Schuld“ ist einmal mehr die Septuaginta. Die Siebzig (wohl ausschließlich…) Männer übersetzten in Alexandria seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert Numeri 24, 17 anthropozentrisch. Aus „und es wird sich ein Stamm aus Israel erheben“ machten sie: „und es wird sich ein Mensch bzw. Mann aus Israel erheben.“ Das war Basis und Beginn der seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert unter Juden zunehmend menschbezogenen Messiaserwartung. Siehe das Buch Daniel oder, noch personalistischer, das (apokryph) Äthiopische Henoch-Buch sowie, im ersten nachchristlichen Jahrhundert, also quasi im Wettbewerb zum entstehenden Christentum, ebenfalls apokryph, Das Vierte Buch Esra sowie die Griechische Baruch-Apokalypse. In der Vision Esras sitzt der „Bar Enosch“ bzw. Menschensohn (wie Jesus) auf dem Thron Gottes oder zu seiner Rechten.
Die jüdisch-davidische Personalisierung des Messiaskönigs war sowohl hochpolitisch als auch, daraus abgeleitet, nostalgisch. Sie hatte vornehmlich drei Gründe: Erstens die sich steigernde Abneigung gegen das aus dem einst puristisch jüdischen Makkabäern hervorgegangene, dann extrem hellenistische Königshaus der Hasmonäer. Zweitens Opposition und Widerstand gegen die seit 63 v. Chr. währende römische Besatzung. Drittens Opposition und Widerstand gegen das neujüdisch idumäische Königshaus Antipatros-Herodes. Messiaserwartung und „Davidisierung“ sind nicht zuletzt der Suche nach der vermeintlich guten, altjüdischen Zeit geschuldet.
Aus dieser in der Gegenwart wirksame und auf die physische plus metaphysische Zukunft gerichtete Nostalgie-Ära stammt die Urform des Achtzehner-Gebetes (eigentlich ein 19er-Gebet) – fromme Juden sprechen es an Werktagen dreimal täglich – aus der Spätzeit des Zweiten Tempels, der 70 n. Chr. im Jüdischen Krieg von den Römern zerstört wurde.
Die Tanaiten von Jawne (Jamnia) haben das 18er-Gebet im ersten nachchristlichen Jahrhundert umgestaltet. Einer von Ihnen war Rabban bzw. Rabbi Gamliel, der Lehrer (und Retter) des Apostels Paulus. Sieben der 18 Gebete sind der Messias-Hoffnung und -Ewartung gewidmet.
Rabban Gamliel, Paulus. Beide Namen erklären fast alles: Als Reaktion auf sowie im Wettbewerb mit dem frühen Christentum betont das Talmudische bzw. Neue, sprich: Nach-Tempel-Judentum den Messiasgedanken zunächst und kurzfrsitig stärker als je zuvor. „Messias“, hebräisch: „Maschiach“, der Gesalbte, bezog sich ursprünglich sowohl auf den Hohepriester aus dem Hause Aron als auch auf den jeweils gesalbten König Israels (Saul, David, Salomon) und dann auf die Könige Judääs aus dem Hause David. (Das aus biblischer Sicht „ketzerische“ Israel wurde ignoriert, kannte und pflegte aber, wie viele nichtjüdische Königreiche vorher, damals und später, dieses Ritual.)
Den Messias-Wettbewerb mit dem frühen Christentum gaben die talmudischen Weisen – außer Rabbi Akiva – dann aber faktisch sehr schnell auf, und zwar bereits im zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Sie verschoben das Kommen des Messias auf den Sankt Nimmerleinstag. Rabbi Akiva hielt Bar Kochba, den Heerführer im Aufstand gegen Rom in den Jahren 132 bis 135, für den gekommenen Messias. Rabbi Akivas Kollegen konterten: Bar Kochba stamme nicht aus dem Hause David und sei deshalb, als vermeintlicher König der Juden ein Usurpator und meinten, implizit, „wie die Hasmonäer und Idumäer-Könige“, mit denen die Juden schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Akivas Kontrahenten mussten nicht aufs Reich Gottes warten, denn der Bar-Kochba-Aufstand brach zusammen. Reales Unheil, kein messianisch-davidisches Heil.
In der Mishna findet sich so gut wie gar nichts Messianisches, und auch die talmudischen Belege halten sich in Grenzen. Kein Wunder nach (!) der Zerstörung des Tempels und erst recht nach dem Scheitern des Bar-Kochba-Aufstands. Und ob ausgerechnet R. Akiva beim Bar Kochba-Aufstand aus der Reihe tanzte, ist ebenfalls umstritten und gründet sich nur auf die eine Stelle im Jerusalemer Talmud.
Unmittelbar vor die Hawdala, dem Gebet am Sabbatausgang, haben spätere Rabbinen ein singendes Flehen um den Messias eingebaut: „Elijahu, der Prophet; Elijahu der Tischbi, Elijahu, der Giladi, wird schnell zu uns mit dem Messias aus dem Hause Davids kommen.“ Der spanisch-jüdische Denk-Gigant Maimonides („Rambam“; gestorben 1204, Zeitzeuge islamisch-iberisch-nordafrikanischer sowie christlicher Kreuzzugs-Intolerenz) klammerte sich im zwölften seiner dreizehn Glaubenssätze, die gesetzestreue Juden jeden Morgen sprechen, ebenfalls an diese Hoffnung: „Selbst wenn sich das Eintreffen des Messias verzögert, erwarte ich ihn tagtäglich.“ Vielleicht sollte man am besten von messianischen Erwartungszyklen in der Jüdischen Welt sprechen. So oder anders, es fällt auf, dass die Rabbinen dem Messias-Thema gegenüber in der Regel eher zurückhaltend waren und des Volkes Hoffnung dämpften.
Das aber ist nicht unser Thema. Wir schauen wieder auf König David, und der sei – ich wiederhole – aus jüdischer und christlicher Sicht der Messias. Ob Gott, Quasi Gott, Übermensch, Mensch oder Personifizierung von Tugend und Frieden schlechthin – nichts ist schlecht am erschienenen oder noch zu erscheinenden oder wiederzukehrenden Messias. Schlechter sieht es um den Ahnen des Messias aus: um König David. Er kommt, anders als die monarchisch-priesteraristokratische Propaganda in Könige bzw. Chronik 1, die prophetisch-alttestamentliche, talmudische oder auch neutestamentliche Tradition uns einzureden versucht, nicht unbedingt aus bestem Hause. Wer die Samuel-Bücher 1 und 2 sowie den Anfang von Könige 1 liest, wird schwerlich widersprechen können.
Die Schlussfolgerung am Anfang: Dieser David war alles andere als die Personifizierung von Tugend, virtus, oder Menschlichkeit. Die Hebräische Bibel, das „Alte Testament“, huldigt dem mutigen, mächtigen, schönen und erfolgreichen König; dem Reichseiniger und eigentlichen Gründer Alt-Israels; dem guten Freund Jonathans, dem vermeintlich loyalen Diener seines Vaters, König Saul; dem Widerstandskämpfer aus politisch und religiös gerechtfertigten Gründen; dem angeblichen Dichter, Sänger, Komponisten und Solisten schöngeistiger, kluger, gottesfürchtiger, gottliebender, elegischer und hymnischer Psalmen. Doch die Hebräische Bibel erzählt auch, dass jener David ein Räuberhauptmann, Guerilla, Schurke, mindestens zweifacher Ehebrecher und offenbar auch kein einsatzfreudiger Vater war.
Die Verheißung: Der Messias aus dem Hause David
Wenn, wie die christliche Lehre besagt, der Neue (christliche) Bund den Alten (jüdischen) überwindet und zugleich vollendet, ist es logisch sowie theologisch zwingend, dass die Hebräische Bibel – zum Missfallen missmutiger Christen – sozusagen die Ouvertüre zum Neuen Testament ist. Folglich gilt die alttestamentliche Verheißung für die Verwirklichung des Messias, für Jesus als Christus – aus dem Hause David, hebräisch: Maschiach ben david.
Jesaja 11, 1ff: „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reiß hervor…“ Isai, hebräisch Ischai, war der Vater Davids, und er stammt – woher wohl…? – ja, völlig überraschend aus Bethlehem… Das Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert: „Es ist ein Ros entsprungen…, davon Jesaja sagt…“
Auch bei Jeremias 33, 15ff wird man fündig: „In jenen Tag und zu jener Zeit werde ich für David einen gerechten Sproß aufsprießen lassen. Er wird für Recht und Gerechtigkeit sorgen im Land.“ Auch Ezechiel 38, 24: „Mein Knecht David wird ihr König sein“.
Logisch und theologisch zwingend daher die Genealogie im Matthäus-Evangelium 1,1: „Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davis, des Sohnes Abrahams.“
Kein Zweifel: David, der Ahne Jesu, wird als makellose Lichtgestalt einführend vorausgesetzt, seine im Alten Bund erwähnten Schattenseiten bleiben unerwähnt. Das ist ebenso klarer wie theologisch und religionspolitisch verständlicher, weil aus christlicher Sicht notwendiger Bruch mit der jüdischen Tradition. Deren Menschen-, Messias- und Gottesbild war und ist, anders als im Christentum, dialektisch oder mehrdimensional.
Wie Maria bei ihrer Empfängnis bleibt Jesus der christliche Messias – bis auf „zornjüdische Reste“ eindeutig eindimensional unbefleckt bis zu seinem Verhängnis, der Kreuzigung. Die ethischen Flecken seines Ahnen David bleiben, wie übrigens auch bei den jüdischen Propheten, unerwähnt. Vergangen, verdrängt, vergessen.
Nicht so bei den Autoren, Redaktoren und Kanonisierern der Hebräischen Bibel. Sie hielten an ihrer Kernbotschaft fest: Mehrdimensional ist Gott, ist der Messias, ist der Mensch und war natürlich auch König David der Große, dessen Mängel alles andere als klein waren.
Exkurs 1: Der Messias – Sohn einer Jungfrau oder jungen Frau?
Wir sahen: Die Verheißung des christlichen Messias basiert auf der jüdischen und hat sie doch entscheidend im Sinne eindimensionaler statt dialektischer Ethik verändert. Vergleichbares gilt für die Verheißung der Messias-Geburt.
Jesaja 7, 14: „Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben“, lesen wir in der Einheitsübersetzung. Sie ist in einem entscheidenden Punkt falsch, ja, total und gewiss willentlich sowie wissentlich falsch. Im hebräischen Original ist an dieser Stelle von einer jungen Frau (alma) die Rede, nicht von einer Jungfrau (betula). Einerlei, denn auch hier war – ganz im Sinne neutestamentlicher Kontinuität im Wandel – die Symmetrie zur alttestamentlichen Sarah der Vater des Gedankens. Hier die 90-jährige Altfrau Sarah, die Isaak das Leben schenkt, dort – biologisch undenkbar und theologisch zwingend – die Jungfrau Maria, die Jesus gebiert.
Exkurs 2: Die dialektische Ethik der Hebräischen Bibel
Wieso gilt ausgerechnet so ein „Finsterer Geselle“ als Ahne des Messias? Im Detail spekulieren möchte ich nicht, wohl aber an die fast durchgehende, allgemeine sowie dialektische Ethik der Hebräischen Bibel erinnern. Jeder, alle und alles ist darin dialektisch, also in sich mindestens doppelschichtig, nicht eindimensional, sondern widersprüchlich: Tag und Nacht, gut und böse, neben den Werktagen Sabbat und Feiertage und so weiter und so weiter. Ja, selbst Gott ist nicht eindimensional. Er ist barmherzig und hart, zornig und gütig, liebevoll und rachsüchtig, also „wie du und ich“. Wir Menschen sind halt sein Ebenbild. Was Wunder, dass selbst Noah (der von der Arche… der seinen unschuldigen Enkel Kanaan verfluchte…) und Lot (der, nichtsahnend, seine beiden sonst mannlosen Töchter im Rausch schwängerte) oder auch Stammvater Abraham alles andere als nur tugendhaft und vorbildlich, eher wie ein von der klafftigen Sarah dressierter Mann geschildert wird. Von Stammvater Isaak mit seinem Ödipus-Komplex und Jakob, den Vater und Bruder Esau Hintergehenden, sowie den Stammmüttern Sarah, ihren Mann austricksenden Rebekka, der weinerlichen Lea und der die Götzen ihres Vatters stehlenden Rachel oder dem ersten Hohepriester Aron (der mit dem Goldenen Kalb…) ganz zu schweigen. Auch Arons Bruder, der Prophet und Volksführer Moses, benahm sich in Gottes Augen daneben. Freilich nur einmal. Von wegen „einmal ist kein Mal“: Dieses eine Mal hat den Lieben Gott so erzürnt, dass er, alles andere als „lieb“, den so verdienstvollen Moses das Heilige Land nur von weitem betrachten ließ. Betreten durfte es der größte jüdische Prophet nicht.
Nachgefragt und nachgehakt: Warum also werden die Großen und Größten, selbst Gott oder David – hier sind endlich wir wieder bei ihm – in der Hebräischen Bibel einerseits als Verkörperung aller Tugenden verherrlicht und andererseits mit ihren Schwächen zwar nicht verdammt, doch verdammt menschlich, schwächlich und fehlbar dargestellt? Die Antwort ist ebenso klar wie eindeutig: Weil eben nichts und niemand, nie etwas oder jemand eindeutig, sondern mindestens zweideutig ist. Selbst Gott und, versteht sich, der Ahne des Messias, also David. Das Kommen des Messias wird dann von den Propheten verkündet bzw. verheißen, der Messias selbst aber, versteht sich ebenfalls, nicht beschrieben, weil nicht erschienen. Das geschieht aus christlicher Sicht im Neuen Testament. Versteht sich ebenfalls.
Nicht richtig versteht oder liest das Neue Testament, wer meint, Jesus werde hierin nur als sanft, verständnis- und liebevoll dargestellt. Im Prinzip schon, aber eben nicht überall und immer. Kontinuität im Wandel vom Judentum zum Christentum. Was bezogen auf Jesus gilt, gilt erst recht bezogen auf Petrus: „Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Matthäus 16, 18). Derselbe Petrus hatte in jener verhängnisvollen Nacht Jesus dreimal verleugnet. Genug der beweisenden Beispiele.
Wen überrascht‘s? Nur den, der nicht die geistig-geistliche und auch sprachlich-stilistische Kontinuität im Wandel vom Alten Judentum zum Christentum kennt, erkennt und nur widerwillig benennt.
Der schöne Messias-Ahne als Räuberhauptmann, Ehebrecher, Homo und Mordgeselle – Die dialektische Ethik der Hebräischen Bibel
Seltsam, weil offenbar oberflächlich-äußerlich war schon Gottes Auswahlkriterium. „David war blond, hatte schöne Augen und eine schöne Gestalt. Da sagte der Herr (zum Priester Samuel): Auf, salbe ihn, denn er ist es. Samuel nahm das Horn mit dem Öl und salbte David mitten unter seinen Brüdern“ (1Samuel, 16, 12f). David, der blonde – etwa „germanisch“ blauäugige Jüngling? Auch ohne in die NS-Fußstapfen von Hans Friedrich Karl Günther, genannt: „Rasse-Günther“ bzw. „Rasse-Papst“, zu treten, ist man ob der scheinbar völlig belanglosen Erwähnung der Haarfarbe überrascht. Doch selbst ob einer solchen Kleinigkeit ist die Hebräische Bibel mehrdimensional. „Der“ Jude ist eben nicht nur dunkelhaarig, sondern auch blond oder oder oder. Eine auf den Menschen bezogene Variante zum Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“. Das Alte Testament zeichnet eher Realbilder als Ideal- oder Zerrbilder. Angefangen bei Gott, endend im Detail, hier der Haarfarbe.
Davids Vorgänger und zunächst Vorgesetzter bzw. Herr und Herrscher, König Saul, war ebenfalls alles andere als nur ein Bösewicht und Frevler, der David verfolgte. Bisweilen „gewann er ihn sehr lieb“ (1 Samuel, 16, 21). Es „quälte ihn ein böser Geist“ (1 Samuel 16,14). Er war also entweder manisch-depressiv oder schizophren. Wieder „kam über Saul … ein böser Geist, so dass er in seinem Haus in Raserei geriet. David aber spielte wie jeden Tag (die Zither). Saul hatte den Speer in der Hand. Saul dachte: Ich will David an die Wand spießen! Und schleuderte den Speer, aber David wich ihm zweimal aus“ (1 Samuel 18, 10f). Es kommt zum Bürgerkrieg. Hie König Saul mit seinen regulären Truppen, dort David, der Guerillakämpfer „in den schwer zugänglichen Bergen“ (1 Samuel 24, 1). „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Goethe fordert´s (viel später), David ist folgsam. Im Bürgerkrieg erleben wir David als Edelmann, der trotz günstiger Gelegenheiten Saul nicht tötet (1 Samuel 24 und 26).
David der Ehebrecher
Die Hebräische Bibel wäre nicht die Hebräische Bibel, folgte nicht – im Sinne ihrer Dialektischen Ethik – sogleich das Gegenteil. David, der Ehebrecher. Die Geschichte von David und Abigail. Machen wir es kurz, zumal der großartige israelische Schriftsteller Meir Shalev Davids Schurkereien in seinem Buch „Der Sündenfall – ein Glücksfall“ ebenso ausführlich wie wunderbar witzig, kess, ketzerisch und boshaft beschreibt.
Davids (versteht sich … rein defensive) Guerilla-Truppe war im Kampf gegen Sauls Monarchie offensichtlich zu einer marodierenden Räuberbande verkommen, die es auch auf Teile der Aristokratie abgesehen hatte. Der wohlhabende Nabal bekam es zu spüren. Davids Mannen verlangten von ihm, was Mafiosi und ihresgleichen heute als „Schutzgeld“ bezeichnen. Die Bibel formuliert diesen Sachverhalt in 1 Samuel 25, 8 freilich salonfähiger: „…gib deinen Knechten und deinem Sohn David, was du gerade zur Hand hast.“ Diesen „Sohn“ kannte Nabal nicht. „Wer ist denn David?“ fragte er schroff und schickte Davids Boten zum Teufel. O-Ton Bibel: „Die Leute Davids kehrten um“, und David zog mit vierhundert Mann gen Nabal, der übrigens ein Nachfahre Kalebs, also jüdischer Hochadel war. Kaleb? Ja, richtig, einer der zwölf Kundschafter, die Moses ausgesandt hatte, um Land und Leute des von Gott den Juden gelobten Territoriums auszuspionieren. Nur Kaleb und Josua berichteten Erfreuliches, die übrigen zehn packte die Angst.
Angstfrei und vollbepackt mit Geschenken ritt nun Nabals Frau Abigail auf ihrem Esel David entgegen und sagte nur Nettes über ihren Gatten: „Mein Herr, achte nicht auf diesen üblen Mann.“ David ließ sich erweichen. Abigail kehrte zurück und berichtete ihrem Mann. „Da versagte das Herz in seiner Brust, und er war wie versteinert“ (1 Sam 25, 37). Zehn Tage später war er tot. Für Meir Shalev ein klarer Schierlings-Giftmord durch die, ach, so liebende Ehefrau. „Darauf schickte David (Boten) zu Abigail (mit dem Angebot), er wolle sie zur Frau nehmen“ (1 Sam 25, 39). Sie ließ sich nicht lange bitten, „machte sich… in aller Eile auf… und wurde seine Frau“ (1 Sam 25, 42). Es war Davids zweite, und die nächsten folgten gleich. Wir überspringen die übrigen sechs Ehefrauen Davids und kommen zur achten, zu Batseba (2 Samuel 11). Die Talmudischen Weisen sprechen von 18 Ehefrauen Davids, die „Kebsen“ bzw. Nebenfrauen nicht eingerechnet. Erwähnt sei, dass Gott vor der Batseba- und nach der Nabal-Abigail-Schurkerei David (als Belohnung?) ein weitgehendes Versprechen offenbart: „Dein Haus und dein Königtum sollen durch mich auf ewig bestehen bleiben“ (2 Sam 7, 16). Vier Kapitel später wird der starke König wieder liebesschwach. Vom Flachdach seines Palastes sieht er „eine Frau, die badete. Die Frau war sehr schön anzusehen“ (2 Sam 11, 2). Er erfährt: Sie ist die Frau des Hetiters Urija, eines Fremden also, der im Militär Davids diente. Der König „ließ sie holen, sie kam zu ihm, und er schlief mit ihr“ (2 Sam 11, 4). Sie wurde schwanger. David schickt Urija an die vorderste Front, wo er natürlich den Tod fand. „Sobald die Trauerzeit vorüber war, ließ David (Batseba) zu sich ins Haus holen. Sie wurde seine Frau und gebar ihm einen Sohn“ (2 Sam 11, 27). „Dem Herrn aber missfiel, was David getan hatte“, lesen wir (ebd.). Der Sohn stirbt. David tröstet Batseba, schläft mit ihr. „Und sie gebar einen Sohn, und er gab ihm den Namen Salomo“ (2 Sam 12, 24), hebräisch: Schlomo, was, jedermann versteht´s, etwas mit dem Wort „Schalom“ zu tun hat, Frieden. Und siehe da: „Der Herr liebte Salomo“ (2 Sam 12, 25). Wieder die Dialektische Ethik der Hebräischen Bibel: Verheißung, dann Missfallen inklusive harter Strafen, nämlich Familien- und Bürgerkrieg. David leidet, aber bleibt an der Macht.
Männerliebe?
Längst gilt in unserer Gesellschaft Männerliebe nicht mehr als Frevel. Die Hebräische Bibel ist hier allerdings geradezu grausam strikt. Steinigung war die hierfür vorgesehene Strafe. Aufgeklärten, modernen Juden und Christen ist sowohl das Delikt als Delikt als auch und erst recht die zwingende Bestrafung verständlicherweise eine Horror-Vorstellung. Biblische Wortwörtlichkeit und heutige jüdisch-christliche Fundamentalethik schließen inzwischen – gottlob – einander aus.
Ein zweiter Blick in die Bibeltexte lässt einmal mehr und auch bezogen auf Männerliebe die Dialektische Ethik der Hebräischen Bibel erkennen: „Nach dem Gespräch Davids mit Saul schloss Jonatan David in sein Herz. Und Jonatan liebte David wie sein eigenes Leben… Jonatan schloss mit David einen Bund, weil er ihn wie sein eigenes Leben liebte. Er zog den Mantel, den er anhatte, aus und gab ihn David, ebenso seine Rüstung, sein Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel“ (1 Samuel 18, 1 – 4). „Und Jonatan ließ auch David bei seiner Liebe zu ihm schwören“ (1 Samuel, 20, 17). „… verließ David sein Versteck …, warf sich mit dem Gesicht zur Erde nieder und verbeugte sich dreimal tief (vor Jonatan). Dann küssten sie einander, und beide weinten“ (1 Samuel 20, 41). Davids Klagelied nach dem Tod Jonatans belegt ebenfalls eindeutig seine Bisexualität. Oder nicht? „Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonatan. Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen“ (2 Samuel 1, 26). Viel Phantasie benötigt man, um diesen Worten homoerotische Schwingungen abzusprechen. Übersetzung und hebräisches Original erlauben keinen Zweifel, denn hier ist von „ahavat naschim“ die Rede, also von „Liebe der Frauen“.
Mordauftrag auf dem Sterbebett
Zum dritten Fall der Dialektischen Ethik in der Geschichte des Messias-Ahnen David: der Ermordung des, wie Meir Shalev ihn im „Sündenfall“ nennt, „Braven Soldaten Joab“. Joab war mehr als nur Soldat. Er war Davids lebenslang treuer, loyaler, also wirklich „braver“ Generalstabschef-Soldat und zugleich sein Neffe, nämlich der Sohn von Davids Schwester Zeruya. Seiner Zeit um Jahrtausende voraus hielt sich General Joab strikt ans Primat der Politik. Nur einmal, während David im Sterben lag, „wagte“ Joab, eine eigene politische Meinung kundzutun. Als Nachfolger des Königs bevorzugte Joab, dem üblichen Senioritätsprinzip entsprechend, Adonia, den Sohn der Chagit, und nicht Salomon, Batsebas Sohn. Das sollte ihm nicht gut bekommen. Auf dem Sterbebett erteilt David Salomon letzte Anordnungen und versteigt sich zu einer unglaublich dreisten Lüge: „Du weißt selbst, was Joab, der Sohn der Zeruya, mir angetan hat“ (1 Könige 2, 5). Salomon wusste, die Bibelredakteure wussten, wir wissen: Joab hatte nichts gegen, wohl aber alles für den König getan. Es kommt noch schlimmer. O-Ton David zu Salomon: „ Lass dich von deiner Weisheit leiten und sorge dafür, dass (Joabs) graues Haupt nicht unbehelligt in die Unterwelt kommt… Schick sein graues Haupt blutig in die Unterwelt“ (1 Könige 2, 6- 9). Gesagt, getan, gefrevelt.
David stirbt versöhnt mit Gott und Gott mit ihm, denn zu Davids letzten Worten gehörte dieser Satz: „Der Geist des Herrn sprach durch mich“ (2 Sam 23, 3). David wurde zum Mythos. Ethik – „hier wird´s Ereignis“. Auch im Talmud finden wir sie.
Der geschönte David – Alttestamentliche, Talmudische, Christliche und Islamische Kosmetik
Jenseits der Bücher 1 und 2 Samuel sowie 1 Könige wird David schon im Alten Testament ein Instrument moralischer Aus- und Aufrüstung der Tempel- bzw. Priesteraristokratie.
Die theologische Reinwaschung oder Kosmetik Davids beginnt bereits, wie erwähnt, in Könige bzw. Chronik 1, dann bei den sonst ethisch eher rigoristischen Propheten und endet gesamtbiblisch im Neuen Testament. Fortsetzung folgt: In Teil 1 des Talmud, der Mischna, sowie in Teil 2, der Gemarah. Von der christlichen Glorifizierung des Hauses David ganz zu schweigen.
David in der Mischna sei beispielhaft anhand der „Sprüche der Väter“ (Pirkei Avot) vorgestellt. Hier ist viermal von ihm die Rede, in der restlichen Mischna etwa ebenso oft. Dreifach wird er gepriesen: Erstens als Vorbereiter des Tempels. Zweitens als eifriger Student der Torah, also des Pentateuch, der Fünf Bücher Mose, und drittens als Psalmen-Dichter.
Der Lobpreisung im Talmud, besonders in dessen Teil 2, der Gemara, kein Ende. David der Weise; der Dichter, Komponist und Sänger der Psalmen. „Eine Geige hing über seinem Bett. Um Mitternacht umwehte ihn Nordwind und musiziert über ihm. Sofort stand er auf und befasste sich mit der Torah bis zum Morgengrauen.“ David, der Gottesfürchtige. David, der Mann, der alle Gebote ganz genau einhält. David, der überall und jederzeit brav betet. David, der Gerechte. David, der sein eigenes Geld Bedürftigen spendet und niemandem etwas wegschnappt. David, der Prediger und Tröster. David, melech israel chai, chai wekajam – David, König Israels, lebt ewig. Rabbi Jehuda hanassi, der tannaitische Patriarch – also der „Präsident“ des Sanhedrins, der obersten religiösen, politischen sowie rechtlichen Instanz der unter Rom autonomen Juden Palästinas, Rabbi Jehuda, der Kanonisierer der Mischnah (er lebte um 200 n. Chr.) – verfasste diese wenigen David-melech-israel-chaj-wekajam-Worte als Kommunikationscode. Heute sind sie ein allgemeinjüdischer und besonders israelischer Gassenhauer.
König David, David, David der Große, der Größte, der Allergrößte. Ganz anders, nämlich vielschichtig oder dialektisch-ethisch beschreiben ihn 1 und 2 Samuel sowie der Anfang von 1 König bzw. Chronik der Hebräischen Bibel.
Im agadischen (also erzählend-interpretierenden) Teil der Gemarra beschäftigen sich die Weisen eingehend mit Davids Sünden – und waschen ihn weitgehend rein. So auch den faktischen Auftragsmord an Urija, Batsebas Gatten. Oft emanzipieren sich die Talmudischen Weisen in ihren Kommentaren der biblischen Geschichten auch ethisch geradezu bravourös von der Wortwörtlichkeit des Originaltextes, indem sie aus der Geschichte A eine Geschichte B zaubern und suggerieren, es wäre doch die Geschichte A. So auch im Traktat Sabbat. „Rabbi Schmuel ben Nachmani sagte im Namen Rabbi Jonathans: Wer da glaubt, David habe gesündigt, irrt sich nur. Denn es heißt (in 1 Sam 18,4): David war in allen seinen Wegen erfolgreich, und der Herr war mit ihm. Wäre es denn möglich, dass die Göttlichkeit mit ihm war, wenn er eine Sünde begangen hätte?“ Das Urteil: „Nicht strafbar“, weil Urija „Majestätsverbrecher war, denn er sagte (1 Sam 11, 11) in (Davids) Gegenwart: Mein Herr Joab und die Knechte meines Herren lagern auf dem Feld“. Tatsächlich hatte Urija das gesagt, aber ganz anders gemeint als von Rabbi Nachmani, nämlich seinen Joab, Kameraden und auch David gegenüber rücksichtsvoll.
Kein Geringerer als Rav widersprach Rabbi Schmuuel. Rav, der Rav, nicht irgendeiner der vielen talmudischen oder gar neuzeitlichen Rabbis. Rabbi Aba bar Ivo bzw. Aba Aricha, der Gründer der Jeschiwa (Talmud-Thora-Schule) von Sura, dem heutigen Nadschaf im heutigen Irak. Er war so etwas wie der Rabbiner-„Papst“ nicht nur seiner Zeit, 175 bis 247 n. Chr., und gilt als eher strikter Gesetzes- und Textinterpret.
Raw sagte: „Wenn du über David nachdenkst, so findest du an ihm nichts weiter als die Angelegenheit mit Urija“. „Angelegenheit“ und „nichts weiter“? Das ist doch wohl geschönt. Der rabbinische Disput geht weiter. Am Ende einigen sich diese beiden sowie spätere Talmudisten ganz allgemein auf diese Formel: David sei die paradigmatische Personifizierung eines „Baal Tschuwa“, eines Menschen, der Umkehr („tschuwa“) leistet. Im Garten Eden sitze er (genderpolitisch skandalös) neben den Stammvätern und Propheten, ja, sogar an ihrer Spitze. Bei dieser talmudischen Geschichten- und Ethik-Kosmetik kommen noch deftige Salomon-Prisen in die David-Mischung, zum Beispiel unübertreffliche Weisheit sowie übermenschliche oder überzeitliche Richter-Qualtitäten.
Diese David-plus-Salomon-plus-Talmud-Mischung, ergänzt um eine Prise Propheten, finden wir dann auch in der islamischen David-Tradition, besonders in Sure 38, 17 bis 30:
Und denke an unseren kraftvollen Knecht David.
Siehe, er war bereit zur Buße.
….
Und stärkten seine Herrschaft und gaben ihm Weisheit und Urteilskraft.
Kam zu dir die Kunde der Streitenden?
…
David! Siehe, wir haben dich zum Nachfolger im Lande gemacht.
…
Ein Buch voll Segen (den Koran), wir sandten es zu dir herab,
auf dass sie seine Verse recht bedenken
und die Einsichtsvollen sich mahnen lassen.
Wir schenkten David Salomo. Welch guter Knecht!
Jene Geschichten- und Ethik-Kosmetik, diese Mélange bzw. Mischung, haben freilich weder der Islam noch die Talmudisten erfunden. Diese Kosmetik lässt sich leicht aus der dialektischen Ethik der Hebräischen Bibel ableiten.
In 2 Samuel 7, 16 verheißt der Prophet Nathan im Namen Gottes dem Schier-endlos-Sieger David: „Dein Haus und dein Königtum sollen durch mich ewig bestehen bleiben; dein Thron soll auf ewig Bestand haben.“ Auch daraus wiederum folgte logisch und theologisch zwingend fürs Christentum die Stammbaum-Herleitung Jesu´ aus dem Hause David – INRI, Jesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Nur aus dem Hause David konnte ein und erst recht „der“ Judenkönig stammen. Ethisch ist das überraschend, wenn man bedenkt, wie nachteilig und vorwurfsvoll die nachdavidischen Könige seiner Dynastie in den biblischen Büchern Könige 1 und 2 dargestellt werden. Fast alle waren regelrechte Schufte, Mörder oder Götzendiener. Der David-Mythos lebte und lebt weiter – über die Kabala, die jüdisch-mittelalterlich-frühneuzeitliche Mystik, Moses Maimonides, den „Rambam“ (gestorben 1204) bis zur politischen Instrumentalisierung im modernen Israel seit 1948.
Doch Vorsicht. Die – boshaft interpretiert – verzerrende Instrumentalisierung Davids oder – wohlwollend interpretiert – die Zentralität Davids ist eben keine exklusiv jüdische Erfindung. Das Christentum braucht sie ebenso wie der Islam. Jede der drei monotheistischen Religionen braucht David für je ihre eigene und doch auf dem alttestamentlichen Judentum aufbauende Theologie und, ja, Politik.
Denkmalsturz, Renaissance, Relativierung und Politisierung: Modernes Judentum Israel
Denkmalsturz
Die jüdische Moderne kratzt am Denkmal oder stürzt es. Heinrich Heine zum Beispiel in seinem Gedicht „König David“
Lächelnd scheidet der Despot,
Denn er weiß, nach seinem Tod
Wechselt Willkür nur die Hände,
Und die Knechtschaft hat kein Ende.
Armes Volk! wie Pferd und Farr’n
Bleibt es angeschirrt am Karr’n,
Und der Nacken wird gebrochen,
Der sich nicht bequemt den Jochen.
Sterbend spricht zu Salomo
König David: »Apropos,
Dass ich Joab dir empfehle,
Einen meiner Generäle.
Dieser tapfre General
Ist seit Jahren mir fatal,
Doch ich wagte den Verhassten
Niemals ernstlich anzutasten.
Du, mein Sohn, bist fromm und klug,
Gottesfürchtig, stark genug,
Und es wird dir leicht gelingen,
Jenen Joab umzubringen.«
Renaissance und „Auferstehung“
Auf dem Weg zu einem neuen Jüdischen Staat und zu dessen Festigung, also für Zionismus und Staat Israel, wurde David quasi unverzichtbar, auch wenn in der Zionistischen Bewegung niemand ernsthaft an eine Monarchie gedacht hatte. David war zwar nicht der erste, aber doch der eigentliche Staatsgründer in der Jüdischen Antike. Keine Nation, kein Staat ohne Mythen. Das mag gefallen oder nicht, so ist es. Christopher Clark hat es, bezogen auf die deutsche Geschichte, jüngst kenntnis- und gedankenreich in seinem Buch „Von Zeit und Macht“ beschrieben.
Folglich brauchten, brauchen (oder missbrauchen…?) Zionismus und Staat Israel vor, für sowie unmittelbar nach der Staatsgründung die Jüdische Vergangenheit als Argument oder Waffe für Gegenwart und Zukunft. Das war (lange nach dem Michelangelo-Florenz-Renaissance-David) Ursache und Anstoß der jüdischen David-Renaissance.
Politisierung 1 – gesamtstaatlich
Was für ein trefflicher Zufall (oder vielleicht doch Vorsehung…?), dass auch Neu-Israels Staatsgründer David hieß – David Ben Gurion, der Chef der israelischen Sozialdemokratie. Wie König David ebenfalls ein scheinbar allmächtiges Über-Ich.
„David, melech israel, chai wekajam“ (David, König Israels, lebt ewig) – dieser knapp zweitausend Jahre alte Textcode aus dem Babylonischen Talmud, wurde 1954 von Mordechai Zeyra umfunktioniert, sprich: in ein neu komponiertes, total primitives Fünf-Wörter-Lied mit Dauer-Refrain integriert. Inzwischen ist es ein sozusagen israelisch-gesamtjüdischer „Klassiker“, obwohl oder gerade weil ein „Brüller“ im doppelten Wortsinn. Erstens wird das Lied meistens mehr gebrüllt als gesungen, und zweitens ist es im Sinne von „Hit“ ein echter Brüller. Ob Mordechai Zeyra mit diesem Ohrwurm (s)einen Beitrag zum demokratisch abgefederten Personenkult um Ben Gurion liefern wollte, weiß ich nicht. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, weil er zunächst die Nähe der Linkssozialisten vom „Haschomer Hazair“ suchte und sich erst allmählich sozialdemokratisierte. Wahrscheinlich waren Text und Musik als gesamtstaatlich-autosuggestiv-historisch-politische Selbstvergewisserung gedacht. Tenor: Staatsgründung einst – Staatsgründung heute, David als „Beweis“-Brücke jüdischer Kontinuität und Legitimität im Heiligen, „Gelobten“ Land.
Politisierung 2 – Israels gesamtstaatliches Image
Damals: David war klein, widerstand dem Riesen Goliath und obsiegte kraft seines Verstandes.
1948 bis heute: Israel ist klein, steht der riesigen Arabisch-Islamischen Welt gegenüber – und obsiegt kraft seines Verstandes.
Das zweite Wortbild mag einen Sturm der Entrüstung wegen des und gegen das zweite Wortbild auslösen, doch die geografischen, demografischen und ökonomischen Fakten plus Proportionen lassen sich nicht wirklich bestreiten – wenn man die Wirklichkeit der Wirklichkeit beachtet.
Politisierung 3 – parteipolitisch rechts
Vor allem seit dem Wahlkampf 1981 hat Israels politische Rechte jenen David-Song quasi für sich vereinnahmt, genauer: für die eigenen Führungspersönlichkeiten Begin, Scharon, Netanjahu. Man tausche den Namen David gegen Begin, Arik (Scharon) oder Bibi (Benjamin Netanjahu): Begin oder Arik oder Bibi „melech israel“… So verleiht man, in die weit zurückliegende Vergangenheit springend, dem eigenen Gegenwartsidol das David-Charisma für die Zukunft der eigenen Ideologie und Partei.
Politisierung 4 – territorialpolitisch
Sowohl Israels Linke als auch Rechte und (National-)Religiöse können David als politisches Argument oder Instrument nutzen. Rechte und (National-)Religiöse können, sich auf David berufend, ein noch größeres Groß-Israel als Israel plus Westjordanland plus Gaza plus Golan fordern. Linke und Pazifisten können, sich ebenfalls auf David beziehend und ihre ethisch-territorialpolitische Noblesse selbst betonend, darauf hinweisen, dass sie trotz und nach David auf sein territorialpolitisches übergroßisraelisches Erbe verzichten – „um des lieben Friedens willen“. Der Harfe spielende David ist ihnen ganz allgemein sowie erst recht selbstdarstellerisch näher als der Waffen tragende.
Politisierung 5 – Multikulti? Zum jüdischen Charakter des Jüdischen Staates
Jüdische Staatlichkeit, Staat der Juden, Jüdischer Staat, Einheit der Juden – für all´ das gilt König David als gedankliche und gefühlsgeprägte Chiffre. Doch Vorsicht. Auch hier haben die Autoren und Redaktoren der Hebräischen Bibel ethisch, ethnisch und religiös jüdischen Partikularisten ein ausgeklügeltes Schnippchen geschlagen. Man könnte auch hier in gewisser Weise von „Dialektik“ sprechen.
So „rein jüdisch“, wie Davids Herkunft, Lebensumfeld und Reich scheinen, waren sie bei genauer Bibellektüre keineswegs. Ruth, Davids Großmutter, war keine Jüdin. Hilachisch, also religionsgesetzlich jüdisch, wäre David demnach auch kein Jude. Mindestens eine seiner acht namentlich bekannten Hauptfrauen, nämlich Maacha, Tochter des Aramäer-Königs von Gschur am Golan, war keine Jüdin. Sie gebar David zwei Kinder: Tamar und Absalom, dessen Rebellion David um ein Haar vom Thron gestoßen hätte. À propos Haar: Sein langes Haar wurde ihm zum Verhängnis, als sich auf der Flucht vor Davids Soldaten sein langes Haar in einem Baum verfing. Davids Offizier Urija, der gehörnte Ehemann Batsebas, war Hethiter. Der Ismaelit Obil war als Minister für die wertvollen (echten) Kamele zuständig (und nicht für die Menschen, die von ihren Gegnern Kamel genannt wurden). Der arabische Hagarit Jasis führte das Ressort der Schafe. Weil Davids Sohn und Nachfolger zahlreiche nichtjüdische Haupt- oder Nebenfrauen erfreute (oder sie ihn) und ihren Götzendienst amtlicherseits gestattete, wurde das Davidisch-Salominische Reich, so die biblische Begründung, geteilt. Hier das größere Israel mit der Hauptstadt Samaria, dort das kleine Judäa mit Jerusalem als Hauptstadt.
Relativierung und Revidierung – in Literatur und Wissenschaft
Der Schriftsteller Meir Shalev (Jahrgang 1948) gehört generationell und ideologisch zu den desillusionierten oder resignativen oder realistischen oder an Denkmalen kratzenden oder diese gar umstürzenden Israelis. Er ist nicht der Einzige, er stehe für die David-Relativierer, also für diejenigen, die jedem Personenkult und nicht zuletzt dem David-Kult abhold sind. Es würde zu weit führen, die David-Relativierer aus Literatur und ganz allgemein Kultur aufzuzählen oder gar im Detail zu kommentieren.
Die Wissenschaft der Archäologie hat ihrerseits den David-Mythos, nicht zuletzt den großisraelisch-territorialpolitischen, vollkommen relativiert, ja, revidiert. Hier seien die Arbeiten von Finkelstein und Silberman hervorgehoben. Wenn man zum Beispiel ihr Buch „David und Salomo, Archäologen entschlüsseln einen Mythos“ liest, erfährt man, dass von einem davidischen Großreich historisch-faktisch keine Rede sein könne. Sein Reich sei winzig gewesen. Einer ihrer Kernbefunde: „Aus archäologischer und historischer Sicht können wir davon ausgehen, dass das erste richtige Königreich Israel im frühen 9. Jahrhundert vor Christus entstand“ und nicht ums Jahr 1.000, wie israelischen, diasporajüdischen und weltweit Kindern in der Schule erzählt wurde. „Doch dieses vereinigte Königreich“, so beide Archäologen weiter, „wurde nicht von den Omriden und nicht von den Daviden regiert, und seine Hauptstadt war Samaria, nicht Jerusalem.“ Eine „umfassendere Bautätigkeit“ lasse sich in Jerusalem erst „aus dem 9. Jahrhundert v. Chr.“ feststellen, also 150 bis 200 Jahre nach David. Die „biblische Geschichte von David und Salomo“ sei, so ihr revisionistisches Fazit, „ein raffiniertes Propagandawerk“. Die „biblische Idee von einem davidisch-salomonischen Großreich stammt aus dem 7. Jahrhundert, hat also keine historische Basis“, bilanziert der Münchener Alttestamentler Eckart Otto. Konkret meint er damit die Ära des judäischen Königs Josia.
Re-Glorifizierung
Ein „raffiniertes Propagandawerk“. Dieser Befund, diese Total-Widerlegung der biblischen Kunde, scheint eindeutig. Ist sie es wirklich? Bei, trotz und gegen Empirie und Wissenschaft sind diese ebenso wie andere biblischen Geschichten aus meiner Sicht literarisch und ethisch geradezu überirdisch so genial und – soll ich sagen? – „göttlich“, dass man trotz aller Zweifel schon wieder gläubig wird.