Dogmatisierung des päpstlichen Absolutismus

Primat und Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil

Im Rahmen der Veranstaltung "150 Jahre Unfehlbarkeit", 05.05.2020

Im Rahmen der Veranstaltung "150 Jahre Unfehlbarkeit", 20.05.2021

Die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils haben die Ekklesiologie der katholischen Kirche gravierend verändert. In zentralen Fragen blockieren sie die Kirche noch heute. Denn päpstlicher Primat und päpstliche Unfehlbarkeit stellen nicht nur für die heutige Ökumene eine Herausforderung dar; vielmehr beeinflusst das Kirchenverständnis des Ersten Vatikanischen Konzils direkt oder indirekt auch die aktuellen innerkatholischen Debatten um Auftrag und Rolle der Kirche in der Welt von heute. Im Folgenden werde ich einführend einige Worte zur historischen Verortung des Konzils sagen, sodann Verlauf und Ergebnisse des Konzils skizzieren und mit einem kurzen Ausblick auf die bleibende Problematik der 1870 definierten Papstdogmen schließen.

Zur Vorgeschichte des Konzils

Die Idee eines Allgemeinen Konzils – dreihundert Jahre nach Trient – war in der Umgebung Papst Pius‘ IX. seit der Jahrhundertmitte wiederholt thematisiert worden. Von vornherein war klar, dass es der kirchlichen Selbstbehauptung im Zeichen der Autorität und der defensiven Abgrenzung gegen die Moderne dienen sollte, wobei unter Moderne die geistige, gesellschaftliche und politische Welt zu verstehen ist, die sich im 19. Jahrhundert im Gefolge von Aufklärung, Französischer Revolution und der liberalen Freiheits- und Mitbestimmungsrechte des Individuums herausgebildet hat. Tatsächlich hatten sich die Päpste seit 1789 mehr und mehr auf eine Position feindseliger Abwehr gegenüber den geistigen Strömungen der Zeit zurückgezogen, ohne selber positive Ansätze zu deren Überwindung aufzuzeigen. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete am 8. Dezember 1864 die Publikation der Enzyklika Quanta cura, der ein Syllabus angehängt war, eine Auflistung von achtzig sogenannten „modernen Zeitirrtümern“, die verworfen wurden. Darin verurteilte Pius IX. unter anderem auch Religions-, Kultus-, Meinungs- und Pressefreiheit, Demokratie, die Forderung, der Papst solle auf den Kirchenstaat verzichten, und die Forderung, der Papst solle sich „mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden“ (Satz 80).

Zwei Tage vor der Verkündigung der Enzyklika und in engem Zusammenhang mit den darin erfolgten Verwerfungen kam es zu einer ersten vertraulichen Kardinalsbefragung über die Opportunität und die Beratungsgegenstände eines einzuberufenden Konzils. Die definitive Entscheidung für das Konzil fiel Ende Juni 1867 anlässlich der 1800-Jahr-Feier des Martyriums der Apostel Petrus und Paulus. Eine konkrete Themenstellung nannte der Papst bei der Einberufung des Konzils nicht; er äußerte sich nur sehr allgemein, das Konzil habe ein wirksames Heilmittel gegen die vielen Übel zu finden, unter denen die Kirche leide. Das entsprach der Akzentsetzung des Syllabus. Ein Jahr später, am 29. Juni 1868, berief der Papst das Konzil auf den 8. Dezember 1869 nach Rom ein. Über die Aufgaben des Konzils hieß es in der Einberufungsbulle wiederum nur sehr vage, das Konzil werde sich mit allem befassen, was in Lehre und Disziplin in diesen äußerst widrigen Zeiten für das Wohl der Kirche und der Gesellschaft erforderlich sei. Päpstlicher Primat und päpstliche Unfehlbarkeit – die späteren Hauptthemen auf dem Konzil – waren darin nicht genannt.

Die Konzilsvorbereitung, die im September 1867 begann, erfolgte unter strikt ultramontan-kurialer Leitung. Stimmen der Seelsorge fehlten ebenso wie Theologen einer nicht auf den Papst fixierten römisch-neuscholastischen Theologie. Die wenigen nachträglich berufenen Berater, die nicht auf ultramontaner Linie lagen, wie der Tübinger Kirchenhistoriker Hefele oder der Münchner Benediktinerabt und Alttestamentler Haneberg, wurden nach eigenem Zeugnis mit Fragen beschäftigt, wo sie nichts bewirken konnten. Hinzu kam, dass die Konzilsvorbereitung rigoroser Geheimhaltung unterlag. All das verstärkte in der Öffentlichkeit und selbst bei Konzilsvätern die Befürchtung, das Konzil sei bereits gemacht.

Dieser Eindruck wurde in der öffentlichen Wahrnehmung noch verschärft durch einen Beitrag, der am 6. Februar 1869 in der Zeitschrift der römischen Jesuiten La Civiltà Cattolica erschien. Er trug die harmlose Überschrift Korrespondenz aus Frankreich und war, wie wir heute wissen, von Kardinalstaatssekretär Antonelli und wohl auch von Pius IX. vorausgehend approbiert worden. Der Artikel enthielt einen Bericht über die Konzilserwartungen der französischen Katholiken. Diese wurden in „liberale Katholiken“ und „Katholiken im eigentlichen Sinne“ unterschieden. Die „liberalen Katholiken“ würden, so hieß es, darauf vertrauen, das Konzil werde den Syllabus korrigieren, auf eine lehramtliche Verkündigung der päpstlichen Unfehlbarkeit verzichten und den Weg zu einer Verständigung der Kirche mit der modernen Kultur freimachen. Die „Katholiken im eigentlichen Sinne“, mit welchen der Bericht sich vorbehaltlos identifizierte, würden hingegen vom Konzil die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit, der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel und des Syllabus erwarten.

Der Artikel schlug wie eine Bombe ein. Er verhärtete im Augenblick die innerkirchliche Polarisierung am Vorabend des Konzils. Waren von offizieller Seite bisher keine Angaben über das konkrete Programm des Konzils bekannt geworden, so schien der Februar-Artikel nicht nur für Ignaz von Döllinger in München oder für Henri Maret in Paris die seit langem umlaufenden Gerüchte über die tatsächlichen Konzilsvorbereitungen zu bestätigen.

 

Eröffnung und Zusammensetzung des Konzils

Die Unfehlbarkeitsfrage spaltete die Konzilsväter schon bei der Eröffnung des Konzils am 8. Dezember 1869 in zwei antagonistische Blöcke: eine Mehrheit von Infallibilisten, also Befürwortern der päpstlichen Unfehlbarkeit, und eine anti-infallibilistische Minderheit. Die Majorität wurde von einer infallibilistischen pressure-group um den konvertierten Erzbischof Edward Manning von Westminster und Bischof Ignaz von Senestrey von Regensburg angeführt. Beide Bischöfe hatten am 28. Juni 1867, zwei Tage nach der Konzilsankündigung, am Petrusgrab und unter der Assistenz des römischen Jesuiten Matteo Liberatore, des Chefredaktors der Civiltà Cattolica, ein Gelübde abgelegt, alles zu unternehmen, koste es, was es wolle, notfalls bis zum Martyrium zu gehen, um auf dem einberufenen Konzil die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit durchzusetzen.

Zum engeren Kreis um Manning-Senestrey zählten der belgische Erzbischof Dechamps von Mecheln, der französische Bischof Pie von Poitiers und der Genfer Weihbischof Mermillod. Diese infallibilistische Kerngruppe erfreute sich während des ganzen Konzils der aktiven Unterstützung des Papstes. Pius IX. seinerseits hielt das Konzil konsequent auf Kurs, um das angestrebte Ziel – die Dogmatisierung von Primat und Unfehlbarkeit des Papstes – zu erreichen.

Er griff in absolutistischer Manier nicht nur wiederholt in die Konzilsverhandlungen ein, er setzte auch zahlreiche Minoritätsbischöfe massiv unter Druck. Die Mehrheit der Bischöfe verhielt sich zunächst abwartend, was leicht nachvollziehbar ist; sie schwenkte aber unter dem Eindruck der wachsenden Polarisierung in- und außerhalb der Konzilsaula, vor allem aber, weil sie mentalitätsmäßig auf Stärkung des Autoritätsprinzips ausgerichtet war, bis Ende Januar 1870 auf den infallibilistischen Kurs ein.

Die Minderheitsfraktion umfasste rund 20 Prozent, also etwa 140 Konzilsväter, unter ihnen hoch gebildete Theologen und Führungspersönlichkeiten in ihren Diözesen. Zu ihr gehörten mit wenigen Ausnahmen die deutschen und österreichisch-ungarischen Bischöfe mit den Erzbischöfen von Prag, Wien, Köln, München, dem Primas von Ungarn und Bischof Strossmayer von Diakovo im heutigen Kroatien. Hinzu kamen über vierzig Prozent der französischen Bischöfe, angeführt vom Pariser Erzbischof Darboy und Bischof Dupanloup von Orléans, etwa gleich viel nordamerikanische Bischöfe, geschlossen die Melkiten, einige Chaldäer sowie einzelne Bischöfe aus England, Irland, Italien und der Schweiz.

Die Vertreter der Minorität lehnten die päpstliche Unfehlbarkeit ab, mehrheitlich allerdings nur aus opportunistischen Gründen – nämlich aus kirchenpolitischen und ökumenischen Rücksichtnahmen in ihren Ländern; nur wenige, wie nachweislich Darboy, Strossmayer und Hefele, machten jeweils gut begründet auch prinzipielle historische und theologische Gründe geltend. Karl Joseph Hefele war kurz vor Konzilsbeginn zum Bischof von Rottenburg in Württemberg gewählt worden.

Zur Unzufriedenheit der Minorität trugen das ausschließliche Vorschlagsrecht der Konzilspräsidenten bei, das dem Konzil den Zugriff auf die Themen von vornherein entzog, außerdem die Geheimhaltung der vorbereiteten Schemata bis zur jeweiligen Beratung, die schlechte Akustik der Konzilsaula, vor allem aber die den Konzilsvätern von Papst und Konzilsleitung aufoktroyierte Geschäftsordnung. Sie sahen darin einen offenen Bruch mit einer alten konziliaren Tradition, nach welcher Konzilien sich bisher immer selber eine Geschäftsordnung gaben.

 

Änderung der Geschäftsordnung als entscheidende Weichenstellung

Von den 65 vorbereiteten Textentwürfen zu ganz unterschiedlichen Themen kamen auf dem Konzil nur fünf zur Beratung: die Schemata über die Bischöfe und Priester, den geplanten Einheitskatechismus und über die beiden späteren dogmatischen Konstitutionen, welche als einzige verabschiedet wurden. Die dogmatische Konstitution Dei Filius über den katholischen Glauben, auf die hier nicht eingegangen werden kann, wurde am 24. April 1870 einstimmig (mit 667 Stimmen) verabschiedet. Die einstimmige Annahme erfolgte aus taktischen Gründen. Sie beruhte nicht nur, aber vor allem auf der Argumentation von Bischof Karl Joseph Hefele. Er wollte vor der Abstimmung über Primat und Unfehlbarkeit des Papstes jeden Präzedenzfall vermeiden, der eine Verletzung des konziliaren Prinzips des consensus unanimis, des Prinzips also der moralischen Einstimmigkeit, bedeutet hätte – in der naiven Erwartung, dass dieses Prinzip dann auch bei der Abstimmung über Primat und Unfehlbarkeit ­zur Anwendung komme!

Die einmütige Zustimmung zu Dei Filius hatte ihren unmittelbaren konziliaren Hintergrund: nämlich die Änderung der Geschäftsordnung vom 22. Februar 1870, welche angesichts der Stimmenverhältnisse die Durchsetzung von Primat und Unfehlbarkeit auf dem Konzil überhaupt erst möglich machte. Die Zusätze zur Geschäftsordnung sollten die Debattenführung durch Reglementierung der Diskussion straffen, was kaum strittig war; sie ermöglichten es nunmehr aber auch, eine Diskussion auf Antrag von bloß zehn Konzilsvätern zu beenden. Das schränkte die Chancengleichheit bei der Debatte über ein Thema zu Ungunsten der Minorität ein und wurde auf Seite der Minorität als Eingriff in die konziliare Freiheit gewertet.

Vor allem aber – und hier lag der alles entscheidende Punkt! – vor allem sah die geänderte Geschäftsordnung vor, dass für die Annahme eines Konzilsdokuments die einfache Stimmenmehrheit genüge. Insbesondere diese Bestimmung, dass Entscheidungen über Glaubensfragen nicht aufgrund des unanimis consensus patrum, nicht aufgrund moralischer Einstimmigkeit, sondern durch bloßen Mehrheitsbeschluss – durch Aufstehen und Sitzenbleiben, wie Döllinger spottete – gefällt werden sollten, forderte den Widerspruch der Minorität heraus; Bischof Ketteler von Mainz bestritt in der Konzilsaula offen die Gültigkeit eines Konzilsdekrets in Glaubensfragen, das mit Mehrheitsbeschluss zustande komme.

Lord Acton, ein polyglotter katholischer Laie, der als privater Berichterstatter des englischen Premierministers Gladstone in Rom weilte und dort als der eigentlicher Organisator der hoch heterogenen Konzilsminorität fungierte, erkannte im Augenblick die Brisanz der Bestimmung: „Nehmen die Bischöfe das an“, schrieb er an Döllinger „so geben sie das Princip der Kirche selbst auf ewige Zeiten preis. […] wenn sie [die Minoritätsbischöfe] jetzt das Recht der Mehrheit in Dogmenfragen anerkennen, so können sie weder die Entscheidung verhindern, noch dagegen protestiren, wenn sie geschieht.“

Proteste gegen den Mehrheitsbeschluss wurden der Konzilsleitung eingereicht, blieben jedoch wirkungslos. Zu einem Boykott der Konzilsversammlung, bis die fragliche Bestimmung zurückgenommen sei, wäre indes nur Bischof Strossmayer bereit gewesen – in den Augen Lord Actons ein strategischer Fehler, der sich, wie er richtig voraussah, nicht mehr korrigieren ließ, auch nicht durch die einstimmige Zustimmung zur Konstitution Dei Filius.

 

Die Diskussion um Primat und Unfehlbarkeit

Parallel zu den Verhandlungen über die Konstitution Dei Filius hatte Mitte Januar 1870 auch die Diskussion über das Kirchenschema begonnen. Sie stand direkt unter dem Einfluss der Ereignisse auf dem Konzil. Die Manning-Senestrey-Gruppe hatte um die Jahreswende 1869/70 zunächst heimlich, dann offen eine Unterschriftensammlung mit dem Ziel initiiert, die Aufnahme der päpstlichen Unfehlbarkeit in das Konzilsprogramm durch eine Petition zu verlangen – also jene Frage, die bisher nicht auf der Tagesordnung des Konzil stand, die aber von Anfang an das konziliare Klima bestimmte. Die Unterschriftensammlung erbrachte bis Ende Januar über 400 Unterschriften, was rund 60 Prozent der Konzilsväter entsprach. Eine Unterschriftensammlung der Konzilsminorität, die auf historische wie theologische Schwierigkeiten einer solchen Definition verwies und ihre Behandlung auf dem Konzil ausschließen wollte, brachte es auf lediglich 136 Stimmen.

Das vorbereitete Kirchenschema (es war vom Jesuiten Clemens Schrader verfasst worden) behandelte in Kapitel 11 den päpstlichen Primat, enthielt aber noch keine Aussage über die päpstliche Unfehlbarkeit! Am 6. März 1870 ließ hierauf Papst Pius IX. diesem Text ein Zusatzkapitel über die päpstliche Unfehlbarkeit hinzufügen – entsprechend der Petition der Manning-Senestrey-Gruppe. Bei einer normalen Durchberatung des Kirchenschemas hätte es allerdings sehr lange gedauert, bis Kapitel 11 zur Behandlung gekommen wäre – nach dem Terminplan wohl erst im Frühjahr 1871. Am 29. April 1870 entschied deshalb der Papst über die Köpfe der Konzilsväter hinweg, das Kapitel über den päpstlichen Primat und die päpstliche Unfehlbarkeit aus dem Kirchenschema herauszulösen und als erste Kirchenkonstitution vorrangig zu behandeln – obschon auch drei der fünf Konzilspräsidenten dies abgelehnt hatten.

Diese neue Vorlage umfasste bereits die vier Kapitel der späteren Konstitution Pastor aeternus, nämlich die Einsetzung des Primats durch Christus, die Fortdauer des Primats in den Bischöfen von Rom, den päpstlichen Jurisdiktionsprimat und die päpstliche Lehrunfehlbarkeit. Die konziliare Diskussion begann Mitte Mai und verlief, wie nicht anders zu erwarten war, turbulent. Anfang Juni wurde sie vorzeitig abgebrochen. Die Kritik am päpstlichen Jurisdiktionsprimat richtete sich vor allem auf den Punkt, dass dieser die bischöfliche Gewalt aushöhle.

Obschon vorauszusehen war, dass der Primat für die innerkirchliche Entwicklung weit bedeutsamere Konsequenzen zeitigen sollte, wurde die Diskussion um den Primat von jener über die päpstliche Unfehlbarkeit überlagert, die seit Februar 1869 die katholische Welt polarisierte. Die wichtigsten Argumente der Minorität lauteten, die Unfehlbarkeit des Papstes sei weder durch die Heilige Schrift bezeugt, noch in der Tradition der Kirche des ersten Jahrtausends belegt.

Bischof Hefele verwies in der Konzilsaula überdies auf den Fall des Papstes Honorius (625–638), der im Streit um die zwei Willen Christi nachweislich häretisch gelehrt habe. Er sei hierfür vom sechsten Ökumenischen Konzil 680/81 verurteilt worden. Als Konzilienhistoriker wusste Hefele auch noch, dass alle frühmittelalterlichen Päpste bis in das 11. Jahrhundert bei ihrem Amtsantritt diese Verurteilung bei der Ablegung des Glaubensbekenntnisses wiederholen mussten. Die Minoritätsbischöfe sahen im Irrtum des Honorius einen sicheren Beweis für die Fehlbarkeit eines Papstes, vermochten mit der historischen Argumentation die Mehrheit aber nicht zu überzeugen.

Insgesamt kreiste die konziliare Diskussion in der Hauptsache um das Für und Wider einer klaren Einbettung der päpstlichen Unfehlbarkeit in den Konsens der Gesamtkirche, brachte aber keine Annäherung der Standpunkte. Vermittlungsversuche, wie sie prominent vom Dominikanerkardinal und Bologneser Erzbischof Filippo Maria Guidi (1815–1879) unternommen wurden, scheiterten. Als Guidi, der selber einen infallibilistischen Standpunkt vertrat, die Minderheit zu gewinnen suchte, indem er klarstellte, dass der Papst nicht unabhängig von den Bischöfen und der kirchlichen Tradition unfehlbar sprechen könne, rief ihn der Papst am gleichen Abend zu sich. Pius IX. erteilte ihm zornig einen scharfen Verweis und widersprach mit den bekannten Worten: „Io, io sono la tradizione, io, io sono la Chiesa!” (ich bin die Tradition, ich bin die Kirche). Deutlicher hätte der Papst sein absolutistisches Selbstverständnis nicht ausdrücken können; auch nicht, wie er selber die Unfehlbarkeit verstand, nämlich maximal ­­
und als persönliche.

 

Die dogmatische Konstitution Pastor aeternus

Bei der vorläufigen Schlussabstimmung am 13. Juli 1870 stimmten 88 von 601 anwesenden Konzilsvätern mit „Non placet“ (451 Ja, 62 „Placet juxta modum“). Eine beachtliche Zahl von Bischöfen – darunter Inhaber von bedeutenden Bischofssitzen – brachte damit einen klaren Dissens zum Ausdruck. Sie glaubten, der Papst werde über einen solch beachtlichen Widerstand nicht hinweggehen. Das Ergebnis bewirkte jedoch eine weitere Verhärtung bei Pius IX. Er befahl am folgenden Tag, einen verschärfenden Zusatz in die Unfehlbarkeitsformel einzufügen. Dieser Zusatz präzisierte den bisherigen Satz, dass Definitionen des Papstes ex sese (aus sich selbst) unwiderruflich seien, mit der Formulierung non autem ex consensu ecclesiae (nicht mit Zustimmung der Kirche).

Die Ergänzung richtete sich gegen die französisch-gallikanische Theologie, wonach päpstliche Entscheidungen in Glaubensfragen möglich sind, ihre Gültigkeit aber erst erlangen, wenn die Kirche als ganze zustimme. Ein letzter Vorstoß der Minorität bei Pius IX. am 15. Juli, bei dem Bischof Ketteler den Papst auf den Knien und mit Tränen in den Augen gebeten haben soll, auf die Unfehlbarkeitserklärung zu verzichten, blieb ergebnislos. Rund 60 Minoritätsbischöfe bestätigten und erneuerten hierauf am Vortag der feierlichen Abstimmung ihre Nichtzustimmung. Sie taten dies in einer schriftlichen Erklärung, da sie ihre Neinstimme, wie sie anführten, aus Taktgründen nicht in Gegenwart des Papstes abgeben wollten. Dann reisten sie vorzeitig aus Rom ab oder blieben der Schlussabstimmung fern.

Am 18. Juli 1870 verabschiedete die Konzilsversammlung hierauf mit 533 Ja- und zwei Neinstimmen (die sich sofort der Konzilsentscheidung unterwarfen) die dogmatische Konstitution Pastor aeternus. Sie bekräftige die Lehre, dass der Primat des römischen Bischofs durch Christus eingesetzt sei und dieser in den römischen Bischöfen fortdauere. Es folgten neu die Aussagen über den päpstlichen Primat und die päpstliche Unfehlbarkeit, die lehramtlich verbindlich festgeschrieben und zugleich als geoffenbarte Wahrheiten deklariert wurden.

„Der heilige Apostolische Stuhl und der römische Bischof“, so heißt es, „hat über den gesamten Erdkreis den Primat inne. […] Demnach lehren und erklären wir, dass die römische Kirche auf Anordnung des Herrn über alle anderen Kirchen den Vorrang der ordentlichen Gewalt besitzt, und dass diese Jurisdiktionsgewalt des römischen Bischofs, die wirklich bischöflich ist, unmittelbar sei. Ihr gegenüber sind die Hirten und Gläubigen unabhängig von Ritus und Rang, je einzeln oder in ihrer Gesamtheit, zur hierarchischen Unterordnung und zu echtem ­Gehorsam verpflichtet.“ Das gilt „nicht nur in Fragen des Glaubens und der Sitten, sondern auch in Disziplinar- und Leitungsfragen“.

In die Primatslehre eingebaut ist die päpstliche Lehrunfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitte: Wenn er „ex cathedra spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, eine Glaubens- oder Sittenlehre sei von der gesamten Kirche festzuhalten, dann vermag er dies durch göttlichen Beistand, der ihm im seligen Petrus verheißen ist, mit jener Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte. Und deshalb sind solche Definitionen des römischen Bischofs aus sich, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich.“

Genau diesen Unfehlbarkeitsanspruch hatte Pius IX. bei der Dogmatisierung der Immaculata Coneptio 1854 bereits für sich in Anspruch genommen. Wer diesen päpstlichen Prärogativen nicht zustimmt, so heißt es am Ende aller vier Kapitel der Konstitution, für den gelte das Anathem, das heißt, er ist exkommuniziert. Wer auch die Einleitung von Pastor aeternus liest, stellt allerdings fest, dass nicht das Konzil definierte, sondern der Papst der aktiv Handelnde ist, wenn es explizit heißt: „sacro approbante concilio […] docemus et declaramus – mit Billigung des Konzils […] lehren und erklären wir.“

Unmittelbar nach der Schlussabstimmung wurde das Konzil bis zum 11. November 1870 beurlaubt. Tags darauf brach zwischen Frankreich und Deutschland der Krieg aus. Nach dem Abzug der französischen Truppen erfolgten am 20. September die Einnahme der Stadt Rom und die Kapitulation des päpstlichen Heeres. Das Ende des Kirchenstaats war gekommen. Einen Monat später, am 20. Oktober 1870, vertagte Pius IX. das I. Vatikanische Konzil auf unbestimmte Zeit.

Nach dem 18. Juli 1870 war vorerst nicht klar, wie die über 60 Bischöfe sich verhalten würden, die Rom im Protest verlassen hatten, ohne ein Wort der Zustimmung zu leisten. Sie waren mehrheitlich zunächst überzeugt, dass die Papstdogmen bei der Fortsetzung des Konzils im November1870 wenn nicht neu verhandelt, so doch im Sinne der Minorität interpretiert und jedenfalls die definierte Lehre im Kontext der weiteren Beratung des Kirchenschemas ergänzt werden müsse. Vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Kriegs, der Vertagung des Konzils, dem Entscheidungsdruck, dem Bischöfe in vielen Diözesen durch ultramontane Klerus- und Laienkreise ausgesetzt waren, sowie abschwächender Interpretationen der Papstdogmen, unterwarfen sich die oppositionellen Bischöfe nach und nach – als letzter 1881 Bischof Strossmayer.

 

Ein kurzes Wort zum Schluss

Die Primatslehre des Konzils ging in den Codex Iuris Canonici von 1917 ein und unverändert in seine Neufassung von 1983. Bei alledem sind die Papstdogmen von 1870 im größeren Zusammenhang einer jahrhundertelangen, bis ins 11. Jahrhundert, im Anspruch bis ins 5. Jahrhundert zurückreichenden Entwicklungsgeschichte zu sehen. Vor allem aber sind die Papstdogmen Ergebnis einer 70-jährigen Vorgeschichte, weil überhaupt erst nach dem Wegfall der zentrifugalen kirchlichen Gegengewichte im Zug der Französischen Revolution in dieser Form möglich geworden. Vatikan I hat das jahrhundertealte Ringen des Papsttums mit Konziliarismus, Gallikanismus und Episkopalismus über die oberste Leitungsgewalt in der Kirche in extremer Einseitigkeit zugunsten des Papsttums entschieden.

Zeitgleich mit dem definitiven Wegfall des Kirchenstaats war der Bischof von Rom zum absoluten Monarchen erhoben worden, dessen absolutistische Zentralgewalt von keiner anderen Gewalt, auch nicht von einem Allgemeinen Konzil kontrolliert oder gar rechtlich begrenzt werden kann – und diese Neupolung der Kirchenverfassung mit geoffenbarter Wahrheit theologisch legitimiert.

Das Konzil blieb ein Torso: Die katholische Kirche erhielt eine isolierte Lehre vom Papstamt aufgrund vorverlegter Beschlussfassung und ohne die Einfügung in eine ganzheitliche Lehre von der Kirche, wie dies ursprünglich vorgesehen war. Die weitere Klärung des Verhältnisses von Papst und Bischöfen – insbesondere die unterlassene klare Umschreibung von Stellung und Funktion der Bischöfe – sowie das Problem der Majorisierung einer Minderheit in Glaubensfragen, blieben als theologische Aufgaben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat, wie wir wissen, theologisch hier angesetzt – doch fehlt seiner Lehre bisher die Umsetzung, wie die seitherige primatiale Praxis und insbesondere die Kirchenregierung der Pontifikate Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. gezeigt haben.

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