Einige Schätze der irischen christlichen Tradition

Die Passion Christi im irischen Christentum

I.

 

Ich werde einige Aspekte der irischen spirituellen Tradition unter folgendem Blickwinkel untersuchen: den Blick auf die Passion Christi und auf seinen Tod am Kreuz. Dadurch möge klar werden, wie sich das irische Verständnis dieses Ereignisses über die Jahrhunderte entwickelt hat.

Als ich vor vielen Jahren meine Dissertation begann, besuchte ich einen alten irischen Gelehrten namens Diarmaid Ó Laoghaire und er erzählte mir von der alten irischen Tradition, dass die Kreuzesaufschrift nicht nur in den drei Sprachen Latein, Hebräisch und Griechisch geschrieben war, wie es uns im Neuen Testament erzählt wird, sondern dass zusätzlich auch Irisch auf dem Kreuz stand. Als ich weiter nachforschte, wie das sein könne, erklärte Diarmaid Ó Laoghaire, dass – wenn man auf das Akronym INRI schaut (das für „Jesus von Nazareth, König der Juden“/„Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum“ steht) –, man es auch „IN RI“ aussprechen könne, was im Altirischen „der König“ heißt. Und so haben die Iren Christus als König am Kreuz proklamiert, um wie gewöhnlich keine Gelegenheit auszulassen, einen einzigartigen irischen Beitrag zur Weltgeschichte zu leisten.

Die Vorstellung von Christus als König am Kreuz sollte eine bleibende Anziehungskraft auf die Iren ausüben. Christus wurde oft angerufen als „Rí na hAoine“ oder „König des Freitags“. Uralte irische Gebete, die den Schutz des gekreuzigten Christus anrufen, wurden jahrhundertelang mündlich tradiert, bevor sie niedergeschrieben wurden – unter anderem von Douglas Hyde, der später der erste Präsident von Irland wurde, und zwar in seinem Buch „Die religiösen Lieder von Connacht“ im Jahr 1906. Hyde führte sein Gebet schlicht folgendermaßen ein: „Hier ist ein anderes kleines Gebet von derselben Art, aber ich erinnere mich nicht, von wem ich es habe.“ Und dennoch fassten diese vertrauten Verse auf vielfältige Weise viel von der Kreuzesspiritualität in der irischen Tradition zusammen. Diese Spiritualität war aber nicht statisch – sie entwickelte und veränderte sich mit der Zeit, wobei sie von den Erfahrungen des Volkes und von jahrhundertelanger Reflexion über das Mysterium von Christi Tod und Auferstehung geformt wurde.

Ich habe erwähnt, dass Christus als „König des Freitags“ angesprochen wird. Er ist „König“ an dem Tag, an dem er ausgeliefert und getötet wird wie ein gewöhnlicher Krimineller. Wie weit man seine Vorstellungskraft auch dehnt: wie soll das funktionieren? Was passiert hier eigentlich? Weil wir wahrscheinlich mehr an die Figur des verwundeten und leblosen Christus am Kreuz gewöhnt sind, eines Mannes des Leidens und der Erniedrigung, können wir leicht vergessen, dass in den frühesten Darstellungen des gekreuzigten Christus in der religiösen Kunst – seit dem 5. Jahrhundert – mehr der siegreiche und königliche Christus hervorgehoben wird als das leidende Opfer. Auf vielen der frühesten irischen Darstellungen des gekreuzigten Christus, sei es in frühmittelalterlichen Handschriften oder auf irischen Hochkreuzen, findet man Christus am Kreuz mit weit geöffneten Augen, darauf hinweisend, dass er lebt und nicht tot ist. Und häufig wird er mit Königskrone abgebildet. Worauf damit eindrücklich hingewiesen werden soll, ist, dass Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung das Böse und die Mächte der Dunkelheit besiegt und wahrhaftig den Tod mit Füßen zertreten hat.

Deshalb sehen Sie hier beispielsweise einen bartlosen gekreuzigten Christus am Hochkreuz von St. Muirdach in Monasterboice, County Louth, das vielleicht auf das späte 9. oder 10. Jhd. zurückdatiert. Unter den Füßen Christi sieht man vermutlich einen Phönix, das Symbol der Auferstehung. Gleichzeitig kennen wir auch eine Kreuzigungsplatte in Inishkea Nord, Belmullet, County Mayo, die auch auf das 9. oder 10. Jhd. zurückgeht und Christus mit weit geöffneten Augen und einem breiten Lächeln quer über das Gesicht zeigt. Viele dieser Abbildungen auf irischen Kreuzen wurden von Bildern des gekreuzigten Christus in früheren Insular-Handschriften (Insular=nachrömische Geschichte Irlands und Britanniens) beeinflusst. Die Betonung des Triumphs Christi am Kreuz wird eingefangen in der Lyrik des Dichters Blathmac aus dem 8. Jhd., der in einem Gedicht ausruft: „Sein gekreuzigter Körper war sein Sieg/er erlitt das Vergießen Wein-gleichen Blutes.“ Im Irischen heißt das benutzte Wort „fionfhuil“ und war ein Terminus, der oft adeliges Blut signalisierte; aber im Fall von Christus muss die erweiterte eucharistische Konnotation gewürdigt werden.

 

II.

 

Ich habe über den Einfluss der Darstellungen des gekreuzigten Christus in frühmittelalterlichen Insular-Handschriften gesprochen. Schauen wir uns zwei hierfür relevante Darstellungen an. Die erste, aus dem frühen 9. Jhd. datierenden „Book of Kells“ am Trinity College in Dublin, wurde oft verstanden als Darstellung der Verhaftung Christi. Diese Interpretation ist allerdings fraglich, denn sie erscheint etwa fünf Seiten vor dem relevanten Vers im Matthäus-Evangelium (Mt 26,50). Einige Gelehrte haben damit argumentiert, dass es keine narrative Illustration eines Ereignisses, sondern stattdessen ein monumental priesterliches Bild sei. Es stellt Christus in Oranten- oder Bethaltung dar, zwischen zwei Kreuze gesetzt, die die Kapitelle eines prächtigen Bogens formen, die Kreuzigung heraufbeschwörend. Der Buchstabe Chi, die griechische Initiale des heiligen Titels Christós, wird dargelegt in dem diagonalen Kreuz, das aus den Armen und Beinen Christi geformt ist. Es greift zurück auf Gewohnheiten früherer christlicher Ikonographie in der Spätantike, in der der erhabene Christus, häufig repräsentiert durch das Triumphkreuz oder das Christus-Monogramm, unter einem Ehrenbogen gezeigt wird oder symmetrisch von Begleitfiguren flankiert wird. Einige haben die Gesten der Begleitfiguren interpretiert als Reminiszenzen der liturgischen Zeremonie der „sustentatio“ („Unterstützung“), in der zwei flankierende Diakone die ausgestreckten Arme eines eingekleideten Zelebranten unterstützen, wenn er den Altarraum betritt. Die zwei Säulen, die wiederum diese Figuren flankieren, sind geschmückt mit Weinranken, die aus Kelchen emporwachsen – ein frühchristliches Motiv, das die eucharistische Inkorporation der Gläubigen in Christus repräsentiert (Christus als der wahre Weinstock; Joh 15,1). Und dann gibt es die Worte über den Köpfen: „Et hymno dicto exierunt in montem Oliveti“ (“Und mit einem gesprochenen Hymnus gingen sie hinaus zum Ölberg)“. Mit diesen Worten schließt Matthäus bekanntlich seinen Bericht des Letzten Abendmahls. Deshalb gibt es die Meinung, die Szene zeige nicht die Verhaftung Christi, sondern einen priesterlichen Christus, der in roter Robe die Hohepriester-Geste des Opfers vollzieht. Die Bet- oder Orantenhaltung Christi war nämlich die eines Priesters, der die Eucharistie feierte – eine Referenz, die nicht ausgelassen worden wäre von einem Zelebranten, der während der eucharistischen Liturgie aus dem Evangeliar liest. Deshalb verweilt das Bild auf dem Geheimnis des Leibes Christi, gleichzeitig gekreuzigt, erhöht und sakramental: Christus ist beides, Priester und Opfer (victim bzw. sacrifice). Kein Mönch, der dieses Bild betrachtete, konnte die Haltung Christi sehen, ohne dabei an die allgemeine Gebetshaltung zu denken, die beinhaltete, dass man mit ausgestreckten überkreuzten Armen (Handflächen nach oben) dastand – eine allgemeine Praxis in der reformwilligen irischen Klosterbewegung aus dem 8. Jhd., die man „Céilí Dé“ nennt (oder „Mandanten Gottes“).

Bevor wir aber diese Zeitperiode verlassen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf ein anderes Kreuzigungsbild einer Insular-Handschrift lenken, nämlich das der Gallus-Evangelien, die aus der Mitte des späten 8. Jhd. stammen. Zu sehen ist erneut keine realistische Darstellung von Christi Leiden und Tod: er hat ein jugendliches, bartloses Gesicht und seine Augen sind weit geöffnet; zusätzlich trägt er ein geschlungenes, mit Bändern gehaltenes armloses Gewand aus rötlichem Purpur. Ungewöhnlich ist das Bild aber deshalb, weil es den Speerträger darstellt, der die linke Seite Christi durchbohrt – also die Seite, wo sein Herz ist. Es war nämlich für westliche und östliche Kreuzigungsszenen weit üblicher, den Speer so darzustellen, wie er die rechte Seite Christi durchbohrt, weil daraus Blut und Wasser fließen (vgl. Joh 19,34). Abgesehen von einer kulturellen Tendenz, die rechte der linken Seite vorzuziehen, gab es aber noch andere Gründe, warum man davon ausging, dass die rechte Seite Christi durchbohrt wurde. Einer davon war ein exegetischer und wahrlich liturgischer Grund: Christus wurde als der neue Tempel identifiziert, prophezeit im Tempel in Jerusalem (Joh 2,19-21); die Passage im Buch Ezechiel (Ez 47, 1-2), die vom heilenden Lebenswasser sprach, das von der rechten Seite des Tempels austritt, wurde in Verbindung gebracht mit dem heilenden, sakramentalen Ausfluss von Blut und Wasser, der aus Christi Seite am Kreuz austrat. Der frühmittelalterliche englische Mönch und Historiker Beda Venerabilis weist darüber hinaus mit seinem Kommentar darauf hin, dass die Tür, die zur aufwärts gewendeten Wendeltreppe im Inneren des Tempels führt, passenderweise an der rechten Seite des Gebäudes angebracht war (1Kön 6,8). Beda identifiziert dann die Wunde, die auf Christi rechter Seite von dem Soldaten „geöffnet“ wurde („aperuit“, vgl. Joh 19,34), mit der Tür der Erlösung – geöffnet, um die Gläubigen durch Taufe und Eucharistie hineinzulassen und weiterzuführen zu ihrem mystischen Aufstieg gen Himmel. Die Seitenwunde Christi behielt ihre mystische Konnotation bei, die im Hoch- und Spätmittelalter in englischen und kontinentalen mystischen Schriften reichlich weiterentwickelt wurde. Gerade diese Interpretationen übten einen tiefen Einfluss auf die Kompositionen irischer Barden aus.

Die Figur, die Christi Seite mit dem Speer durchbohrte, wurde traditionsgemäß Longinus genannt, und die Legende besagt, dass dieser Mann blind war. Als er jedoch die Lanze durch Christi Seite stieß, floss Blut am Schaft der Lanze entlang und fand seinen Weg in Longinus‘ Augen, woraufhin er wieder sehen konnte. Hier in den Gallus-Evangelien können Sie sehen, dass das Blut direkt in Longinus‘ rechtes Auge spritzt, das sich dabei öffnet; das linke Auge, das überhaupt keinen Kontakt zum Blut hatte, bleibt geschlossen. In irischen Sprachquellen war dieser römische Soldat üblicherweise bekannt als „an Dall“ (der blinde Mann). Diarmuid ó Cobhthaigh, ein irischer Barde des 16. Jhd., bemerkte dazu in einem seiner Gedichte: „niemals wurde (das Beibringen) einer Wunde so gut belohnt!“

 

III.

 

Aber was sagten die Textquellen dieser Zeit über den gekreuzigten Christus? Ich möchte mit einem irischen Dichter namens Blathmac aus dem 8. Jhd. beginnen, der es schafft, sowohl den Horror der Erfahrung Christi auf dem Kalvarienberg einzufangen als auch den ultimativen Sieg hervorzuheben. In einem langen, an Maria, die Mutter Jesu, adressierten Gedicht erinnert er sich:

„Deine Leute haben deinen Sohn gefangen; Maria, sie haben ihn ausgepeitscht…

Es war eine abscheuliche Tat…die ihm angetan wurde: dass seine ureigenen Mutter-/Volks-Angehörigen (mother-kin) den Mann kreuzigen sollten, der gekommen war, um sie zu retten.“

Blathmac fährt dann damit fort zu erzählen, wie „jede Gewalttat gegen ihn verübt wurde, und die Gefangennahme vollendet war, und er sein Kreuz auf seine Schultern nahm – und immer weiter geschlagen wurde.“ Einmal am Kreuz hängend, durchbohrt Longinus Christus mit einer Lanze und Wein schwappt aus seinen „schimmernden Seiten“ auf den Weg. Doch dieses fließende Blut vollbringt gleich zwei Großtaten auf einmal: zum ersten, so Blathmac, „taufte das fließende Blut den Kopf von Adam, denn der Schaft des Kreuzes Christi hatte auf seinen Mund gezielt“. Hier bezieht sich Blathmac auf Legenden, die die Geschichte des Kreuzes vor Christus betreffen: darin wächst das für das Kreuz benutzte Holz aus Saaten, die Seth im Paradies erhielt und in den Mund des toten Adam gesetzt wurden. In einer Variante dieser Legende wird Adams Schädel mit den Strömen der Sintflut mitgetragen und strandet auf dem Kalvarienberg; bei der späteren Aufrichtung des Kreuzes wird dann der Kreuzesschaft genau über Adams vergrabenem Schädel in den Boden gehämmert, sodass das Blut Christi, das auf den Boden läuft, ihn „tauft“. Diese Legende erscheint in voller Länge in späteren mittelalterlichen Barden-Gedichten über das Kreuz Christi. Die zweite Großtat ist natürlich die Heilung des blinden Longinus, die wir schon gesehen haben. In Blathmac’s Gedicht beinhalten die unheilvollen Ereignisse, die auf die Kreuzigung Christi folgen, eine Blut-Explosion über die umgebende Landschaft: „Ein Strom von Blut ergießt sich (schweres Übermaß), so dass alle Baumrinden rot waren; es war Blut auf den Brüsten der Welt, in den Baumwipfeln jedes großen Waldes.“

Während Blathmac zugibt, dass „Jesus, geliebter Sohn der reinen Jungfrau, einen puren Sieg errang“, verdammt er dennoch die Juden für ihren Angehörigenmord und versäumt nicht zu bemerken, wie „sein Elend größer war als das irgendeines vornehmen Gefangenen“, dabei ausrufend: „wehe, für jeden, der den Sohn des lebendigen Gottes fest ans Kreuz gestreckt gesehen hat! Wehe, der Leib, der weiseste Würde besessen hat, der ins Blut versenkt wurde!“ Doch von demselben Leib wird einige Verse später gesagt, dass er „eine Beute gerettet hat mit starkem Sieg“ und am Ende der Zeit zurückkehren werde, um Gerechtigkeit von all denen einzufordern, die nicht darauf vorbereitet waren, seinen Tod zu bejammern: Blathmac spricht dahingehend zu Maria vom „wütenden Kommen deines Sohnes mit seinem Kreuz auf den roten Schultern“. Christi Tod am Kreuz wird von Blathmac in der vertrauten patristischen Metaphorik wahrgenommen als Kampf gegen den Teufel, aus dem Christus „siegreich aus dem Kampf“ hervorgeht, in dem die Stärke des Teufels vernichtet wird und „eine große Beute von ihm genommen wird“. Einige Verse später bemerkt er, dass „sein gekreuzigter Leib sein Sieg war“; doch damit die Kampfmetaphorik wahrhaft effektiv wirkt und das Drama gesteigert wird, wird von Christus gesagt, dass er „ein schändliches Elend und einen Kampf in der Hölle erleiden“ musste und „gut gepflegt“ wurde, als er endlich den Himmel erreicht hat.

Die transformative Kraft des Blutvergießens Christi am Kreuz wird von Blathmac ausgedrückt in einem Bild, das ein Echo auf Offenbarung 7,14 ist, wenn er konstatiert, dass es „in seinem Blut ist, in dem jeder Heilige sein schimmerndes Gewand wäscht“. Fortgeführt wird dies in seiner anschaulichen Äußerung, dass „das Blut des Königssohnes einen Lehmklumpen rötet in der Helligkeit des Blutes“, ihn neuerlich glänzend machend. In diesem Gedicht wird dann eine feine Balance gehalten zwischen der Herrlichkeit und dem Horror der Kreuzigung auf dem Kalvarienberg, eine kreative Spannung, die im Herzen des christlichen Mysteriums liegt; dieses Paradox kann auch im berühmten angelsächsischen Gedicht „Der Traum des Kreuzes“ identifiziert werden, in welchem das Kreuz sowohl als über und über bestückt mit Juwelen als auch durchtränkt von Blut dargestellt wird.

In einem anderen Zusammenhang und einige Jahrzehnte nach der wahrscheinlichen Entstehungszeit der Blathmac’schen Gedichte verließ der irische Gelehrte Johannes Scotus Eriugena Irland, um eine Karriere auf dem Kontinent am Hof Karls des Kahlen zu beginnen. Dort übersetzt er – neben seinem eigentlichen Auftrag – wichtige griechische Werke und wurde als Hofdichter gefördert. In seinen lateinischen Gedichten, die um das Jahr 859 entstanden sind, betont Eriugena besonders den Triumph des Kreuzes Christi: Während er in diesem Gesicht den Sieg Christi am Kreuz hervorhebt, sind Eriugenas Zuhörer dennoch aufgefordert, das „Holz des Kreuzes“ zu betrachten und dabei die Erscheinung der Enthüllung des Kreuzes in der fränkischen Karfreitagsliturgie zu reflektieren. Jedoch geht Eriugena noch weiter, indem er, wenn man so sagen will, auf die durchbohrten Hände Christi heranzoomt, auf seine Schultern, Füße und den von Dornen umgebenen Schläfen, was vielleicht als affektive Methode bezeichnet werden kann. Die Referenz zum Holz des Kreuzes, das die Welt mit ihren vier Ecken umfängt – in seiner kosmischen Signifikanz –, erinnert an die Darstellung des Hochkreuzes aus dem 9. Jhd. von St. Muiredach in Monasterboice im County Louth, worauf die gekreuzigte Christusfigur womöglich von einer Gaia – die personifizierte Erde – und von Tellus oder Ozean – dem personifizierten Wasser – zusätzlich zu Sonne und Mond begleitet wird.

In einem anderen Gedicht, das dem Kreuz selbst gewidmet ist, spricht Johannes Scotus Eriugena vom Kreuz als einem Himmelskörper, das sich wie Sonnenstrahlen ausbreitet und das die Verehrung von „allem, das ist, nicht ist und jenseits ist“ anordnet. Michael Herren, der diese Gedichte herausgegeben hat, meint, dass Eriugena hier von den großen irischen Hochkreuzen beeinflusst ist, mit denen er vertraut war, bevor er Irland verließ. Er spricht vom Kreuz, das präfiguriert wurde vom Mosesstab, und erzählt dabei, wie „bekleidet mit einer Schlangenhaut du den Pharao erstaunt hast, als du die anderen verschlangst, die der Zauberer durch List herbeigeführt hatte“ – eine Erinnerung an Ex 7,12, wo es eine Patt- Situation zwischen Moses, Aaron und den Magiern des Pharaos gibt. Eriugena erzählt auch, wie „du“ (das Kreuz) „die marmornen Wellen des Roten Meeres teilst; du schreitest siegreich voran und schlägst einen Pfad für dein Volk“. Das Kreuz als Bronzeschlange „zischt, hoch oben hängend; ihr Gift löscht“. Hier erinnert das Werk Eriugenas in gewisser Weise an Alkuin von York in seinem Carmen figuratum, das für Karl den Großen einige Jahrzehnte früher vollendet wurde (zwischen 780 und 800) und ähnliche Parallelen zieht. Aber noch wichtiger ist, dass sich sein früherer Landsmann Blathmac ebenfalls auf die eherne Schlange als Christusfigur in seiner Lyrik bezieht: „dein Sohn ist die gesegnete Schlange, durch die die perverse alte Schlange getötet wurde“. Eriugena fährt mit dem Ausruf fort „O Christus, Wort Gottes, Stärke, Weisheit des Vaters, die Welle deines Blutes, in dem der Kreuzesaltar getränkt wird, reinigt uns, erlöst uns, lässt uns frei, führt uns ins Leben zurück…“.

Wie ich bereits erwähnt habe, läuft die Argumentation so, dass das Kreuz im Frühmittelalter zuerst eher als Siegeszeichen statt als Folterinstrument betrachtet wird; es symbolisiert Christi Sieg über den Tod, den Teufel und die Unterwelt – und das ist natürlich größtenteils wahr. Eine besonders nützliche Art und Weise zu untersuchen, wie dieser Sieg dann verstanden wurde als Verwirklichung im Leben all derer, die sich vor dem Einfluss des Teufels schützen wollten, ist die Erforschung der Wirksamkeit des Kreuzeszeichens selbst in der mittelalterlichen Literatur. Sich selbst zu bekreuzigen wurde so verstanden, dass man damit, wenn man so will, den Sieg des Kreuzes über die Macht des Bösen auf sich herabzeichnet. In der Lebensbeschreibung von St. Columcille von Adamnán im 7. Jhd. wird der Heilige von einem jungen Mann gebeten, einen Eimer Frischmilch zu segnen, der, als Columcille das Kreuzzeichen darüber schlägt, heftig schwankt, zu Boden fällt und den größeren Teil des Inhalts verschüttet. Der Heilige erklärt dem Jungen, dass ein Dämon am Boden des Gefäßes gelauert hat, der „die Kraft dieses Zeichens nicht ertragen konnte und deshalb aus Furcht schnellstens geflohen ist“.

In der Lebensbeschreibung dieses Heiligen finden wir natürlich auch das, was mutmaßlich die erste literarische Erwähnung des Monsters von Loch Ness darstellt, das auf ähnliche Weise von Columcille erledigt wurde. Nachdem er einen seiner Freunde ermutigt hatte, den See als Köder zu durchschwimmen (was für ein Freund!) und das Monster sofort die Verfolgung aufnahm, erhob Columcille seine heilige Hand, während die übrigen, sowohl Brüder als auch Fremde, vor Entsetzen erstarrten; den Namen Gottes anrufend, zeichnete er das rettende Kreuzzeichen in die Luft und befehligte das grausame Monster, indem er sagte: „Du sollst nicht weiter gehen und auch den Mann nicht berühren; zieh dich in aller Schnelligkeit zurück“. Auf die Stimme des Heiligen hin wurde das Monster in Schrecken versetzt und floh schneller, als wenn man es mit Seilen zurückgezogen hätte.

Um es einfach zu sagen: man dachte, dass das Kreuz alle Arten von Übel in die Flucht schlägt. Kein Wunder also, dass in der Vita des Heiligen Patrick (7. Jhd.) behauptet wurde, dass er das Kreuzzeichen hunderte Male jede Stunde bei Tag und bei Nacht schlug. Die Wichtigkeit, die das Kreuzzeichen in der irischen Spiritualität annahm, kann demzufolge nicht überschätzt werden; ein uraltes irisches Gedicht, das Mugrón – dem Nachfolger von St. Columcille auf Iona im 10. Jahrhundert – zugeschrieben wird, verdeutlicht das. In Form einer lúireach oder Brustplatte ruft es die Macht und den Schutz des Kreuzes an und dabei gleichsam seinen Segen herab.

Das Kreuz wurde im frühen Mittelalter dann routinemäßig betrachtet als ein Symbol von Macht und Sieg, was die irische Mentalität genauso ansprach wie andere Mentalitäten. Selbst nach dem ersten Millennium – im Zeitraum des Hoch- und Spätmittelalters also, das mit seiner gesteigerten ikonographischen Emphase auf den körperlich leidenden und wahrhaftig endgültig toten Christus am Kreuz aufwartete – überdauerte das Bild des Sieges Christi. Und das, wie man durchaus erwarten kann, auf vielerlei Weise; denn das essentielle Paradox, dass Christus sowohl Sieger als auch Opfer ist (victor-victim), ist eine bekannte Konstante in der christlichen Theologie. Sie wird einerseits ausgedrückt im Vexilla Regis Hymnus aus dem 6. Jhd., nämlich in seiner Identifikation des Kreuzes „als Opfer des Ruhmes der Passion, durch dessen Leben dem Tod ein Ende gesetzt wurde, und, durch den Tod, wieder Leben gegeben hat“; andererseits im hochmittelalterlichen Hymnus Victimae Paschali Laudes : „Der Tod rang mit dem Leben, der Kampf hat seltsam geendet, des Lebens eigener Sieger getötet, er lebt aber um zu herrschen.“

Es ist interessant, wie spätere irische Quellen diesen Sieg Christi im Kontext der größeren Geschichte porträtieren, die wir Heilsgeschichte nennen; das ist die Geschichte des Volkes Gottes von der Schöpfung der Menschheit bis zur Wiederkehr Christi. Eine der nützlichsten Quellen in dieser Hinsicht ist ein Lyrikkorpus, der zusammengetragen wurde von Familien von professionellen Dichtern im gälischen Irland über einen Zeitraum von gut 400 Jahren, genauer: vom 13. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts. Von den gut 2000 Gedichten, die noch existieren, sind etwa 20% religiöser Natur. Sie wurden geschrieben auf das Geheiß von Stammesfürsten der einheimischen irischen Aristokratie hin oder, im Fall einiger religiöser Gedichte, beauftragt von wichtigen Kirchenpersonen oder –stiftungen. Einige religiöse Gedichte wurden erst gegen Ende eines Dichterlebens geschrieben, wenn er (und es war unausweichlich ein „er“) sich in ein Kloster zurückzog und seine Gedichte als Bezahlung für Kost und Logis nutzte. Zu anderen Zeiten scheint es so, dass professionelle Dichter Werke einfach nur zur Übung komplexer Metren schrieben, für die die Barden-Lyrik berühmt war. Es ist jedoch klar, dass in den meisten Beispielen die Gedichte direkt auf die Einzelwünsche und Geschmäcker der Mäzene abgestimmt waren. Wenn Gedichte und Dichter datierbar sind, kann das ein wertvoller Indikator für die Entwicklung religiöser Moden sein, denn die Mäzene wünschten üblicherweise ihre Vertrautheit mit den neuesten wichtigen Kulten zu zeigen, die sich auf dem europäischen Kontinent herausbildeten.

Auf der Suche nach einem Verstehen des Mysteriums von Passion und Tod Christi schauten die gälischen Dichter oft auf die Kultur um sich herum und bezogen ihre Inspiration direkt von dort her, wobei sie theologische Porträts in den Farben der gälischen Gesellschaft zeichneten. Beispielsweise sprachen sie vom Teufel, der die Menschheit als Geisel beim Anbruch der Zeit nimmt (womit sie natürlich die Sünde im Garten Eden meinen) und beschreiben ihn als Beschlagnahmer eines Gebiets, das ihm nicht gehört (die Welt). Dann wird die Bühne für Christus bereitet, der Kriegsfürst, der in die Schlacht gegen den Teufel reitet, um sein eigenes Territorium zurückzugewinnen und sein Volk zu befreien. Und sie stellen ihn wirklich als reitend in die Schlacht dar – mit einem Kreuz als Pferd. Sie sprechen davon, dass er viele Wunden davontragen wird inmitten dieser Schlacht am Karfreitag; und davon, dass er eine Herzwunde erleiden wird (womit er eigentlich die Schlacht verloren haben sollte) – die Herzwunde ist natürlich die Wunde in der Seite Christi (die ihm der Soldat nach Christi Tod zufügt). Aber stattdessen – und hier liegt die Ironie – ist genau hier der Punkt, an dem der Teufel besiegt und die Macht der Dunkelheit gebrochen wird. Indem Christus mit dem besten der gälischen Stammesfürsten verglichen wird, kommentiert einer dieser Dichter: „Niemand, der am Herz verwundet wird, könnte so wieder zu Kräften kommen wie Christus – kaum jemand überlebt eine Herzwunde; davor hat man sich immer gefürchtet.“ Viele Barden sehen den Karfreitag und die Kreuzigung Christi als Inaugurationszeremonie als König oder Fürst – wenn er, ziemlich wortwörtlich, über das Volk erhöht wird. Und wie man es von allen neu-inaugurierten gälischen Stammesfürsten erwartete, macht sich auch Christus auf einen feierlichen „creach“ (“Überfall“) oder Raubzug auf ins Feindesgebiet; diesmal zur Unterwelt, wo er das Kreuz als Rammbock verwendet, um die Höllentore zu durchbrechen (das Feindesschloss) und die dort Gefangenen zu befreien, und zwar mit ihnen davonrasend auf dem Kreuz (im Mittelalter war dies bekannt als „das Eggen der Hölle“). Nachdem sie die neu-inaugurierten Muskeln hatten spielen lassen, wurde dann von den gälischen Stammesfürsten erwartet, dass sie ihre Großzügigkeit unter Beweis stellten, indem sie etwa ein großes Bankett gaben, zu dem alle eingeladen werden sollten. Man muss wohl nicht extra darauf hinweisen, dass der himmlische Stammesfürst, also Christus, nun genau das tut: das Nach-Kreuzigungs-, Post-Eggen-der-Hölle-Ereignis ist das Festbankett des Himmels, das im himmlischen Schloss gehalten wird, „das er aus nur drei Nägeln gebaut hat“ und wo – entscheidend! – „der Mundschenk nie scheitert“. Ein mittelalterlicher irischer Dichter bewunderte, dass es diesem Fest an nichts fehlte – außer einem Türsteher.

 

IV.

 

Aber die Vorstellung des Sieges Christi am Kreuz ist noch nicht die vollständige Geschichte. Auf vielerlei Weise betont es die Göttlichkeit Christi, seine Macht und seine Autorität. Aber Christus war auch menschlich – jemand, der wirklich Schmerz fühlen konnte, Durst erleben, und an den äußersten Rand seelischer Ausdauer gedrängt wurde. Und das Kreuz, obwohl es doch für machtvoll gehalten wurde, ragte bedrohlich groß (und tut das immer noch) in den Alltag der Menschen – als unausweichlicher Teil der conditio humana. Besonders im Spätmittelalter – im 14. und 15. Jhd. – wurden die Darstellungen Christi am Kreuz quer durch Europa hindurch viel gegenständlicher in der Darstellung seines menschlichen Leidens und des Ausmaßes der Wunden, die er zu erleiden hatte. Im Großen und Ganzen liegt die Betonung jetzt auf einer Christusfigur, die klar erkennbar tot ist – mit geschlossenen Augen und mit von der Erfahrung der Passion gebrochenem Körper. Das ist ein bei weitem verwundbarerer Christus – ein Christus, mit dem sich Christen leichter identifizieren konnten, für die Leiden und Tod eine tägliche Realität war. Wenn die gälischen Dichter das Leiden betonten, das Christus durch die Menschheit auferlegt wurde – und den dazugehörigen Schrecken bei der Aussicht auf das Gericht Christi am Ende der Zeit, wenn er am Himmel erscheinen würde, sich stützend auf ein „rotes Kreuz“ (überflutet mit Blut) mit frisch blutenden Wunden –, wenn sie also diese Aussicht bedachten, bezogen sie sich darauf oft in der Sprache ihrer eigenen Kultur und Gesellschaft. Beispielsweise wurde vom Töten Christi als einem Akt von „fingal“ (“Verwandtschaftsmord“) gesprochen, als Mord an einem Mitglied der eigenen Familie, was im frühen irischen Recht als besonders abscheulich betrachtet wurde.

Aber wie konnte Christus in diesem Zusammenhang als ein Verwandter betrachtet werden? Nun, ganz einfach: wir wurden ihm mütterlicherseits verwandt gemacht. Und wenn Christus nun zum Gericht wiederkommen würde, um Wiedergutmachung für das Verbrechen an ihm zu suchen, dann hieße der Terminus für diese Wiedergutmachung „éiric“ (“Blutschuld“) – eine Kompensation im frühen irischen Recht, die für den ungerechten Mord an einem Anderen fällig war.

Im Spätmittelalter wurden der Figur des gekreuzigten Christus einige „Requisiten“ der Passionsgeschichte beigefügt, wenn man so will: Elemente, die unter dem Namen „arma Christi“ oder „Leidenswerkzeuge“ bekannt wurden. Da Christus oft als heroischer Kriegsritter angesehen wurde, waren diese verschiedenen Passionsobjekte sein „Wappen“. Das früheste irische ikonographische Beispiel der Leidenswerkzeuge als Christi eigenes „Wappen“ findet sich auf einem kleinen Schutzschild auf einem Kastenschrein mit der Bezeichnung „Domnach Airgid“, datiert auf den Zeitraum zwischen1340 und1350 (Abb. 4), das zur Aufbewahrung von Reliquien genutzt wurde – mitunter von den Heiligen Aposteln, vom Haar Mariens, vom Kreuz unseres Herrn und von seinem Grab (gemäß eines Berichts aus dem 14. Jahrhundert). Der Schild zeigt ein Kreuz, Dornenkrone, Nägel und eine Geißel. Direkt unter dem kleinen Schild ist ein Kristall angebracht, der Fragmente des wahren Kreuzes umschließt. Das Auftreten einer Anzahl von Leidenswerkzeugen zusätzlich zum Kreuz wurde in der irischen Ikonographie durch das 14. und 15. Jhd. hindurch immer regelmäßiger; aber mit einer wachsenden Betonung der körperlichen Leiden Christi wurde es schwieriger, das Bild des siegreichen Eroberers mit immer drastischeren Darstellungen seines gefolterten und ausgemergelten Körpers in Einklang zu bringen.

Die Transformation des „Kriegs-Christus“ in den „Liebesritter“, wie es Rosemary Woolf in einem englischen Kontext diskutiert, in welcher die „Schlacht“ Christi auf dem Kalvarienberg nun motiviert war von einer intensiven Liebe zu seinem Volk, beeinflusste natürlich das Verständnis der „Rüstung“ Christi oder seiner Schlachtwerkzeuge. Zuvor auf seine Feinde hin ausgerichtet (den Teufel oder Sünder), wurde die Rüstung Christi nun gegen ihn selbst gerichtet, wodurch sein Körper nur noch blutiger und gebrochener dargestellt wurde. Das Bild, mit dem sich spätmittelalterliche Christen in Irland nun konfrontiert sahen, war das eines „Schmerzensmannes“, umgeben von den Leidenswerkzeugen – oft als Schmuck auf einer Standarte und somit als Einladung an diejenigen, die die Leidenswerkzeuge halten, reumütig zu Christi Herz zurückzukehren. Gerade solche Bilder, auf denen Christus dem Betrachter seine fünf Wunden zeigt, während er von den Leidenssymbolen umgeben ist, erfreuten sich großer Beliebtheit – besonders um der enormen Ablässe willen, die damit verbunden waren, nachdem sich diese von Italien nach Frankreich und von dort nach England und Irland im 14. und 15. Jhd. verbreitet hatten.

 

V.

 

Bevor wir die Diskussion um die „arma Christi“ bzw. Leidenswerkzeuge weiterführen, lohnt sich vielleicht eine kleine Pause, um eine Bestandsaufnahme der Entwicklung des Motivs von Christus am Kreuz als Menschheitsliebender vorzunehmen (manchmal auch dargestellt als verschmähter Liebender) – ein Bild, das eng verbunden war mit den mystischen Schriften auf dem Kontinent im 13. und 14. Jhd., oft inspiriert von der Hohelied-Tradition in der Bibel. Hierbei ist Christus der Liebhaber der Seele; die Metaphorik, die diese Texte begleitet, ist dabei häufig fleischlich und sogar erotisiert. Die Seitenwunde Christi (von der wir vorhin bei Beda Venerabilis gehört haben, nämlich die Tür zum mystischen Aufstieg und zur Erlösung) spielte hierbei eine besonders wichtige Rolle. Muirchertach Ó Cobhthaigh, ein Dichter des 16. Jhd., spricht davon, dass seine Körpervenen ihn foltern und die Tür seines Herzens für sein Volk öffnen. Ein anderer Dichter, Tadhg Ó Dálaigh, identifiziert den Soldaten Longinus als eine Art Platzanweiser der Menschheit: „Gott will nicht, dass wir außerhalb seines Herzens bleiben; die Lanze in Seiner Brust zeigt uns den Weg; niemand wurde davon ausgeschlossen, obwohl die Menschen ihre Feinde schon immer auf Abstand halten wollten.“ Von der Lanze selbst wurde manchmal im Sinne einer Messlatte dieser Liebe gesprochen (nur um überschritten zu werden), wie im Beispiel des anonymen Barden-Gedichts Leigheas an bheatha bás Dé :

 

Deep as the spear was plunged in thy breast,

Deeper still, deeper than those gory points in the heart,         [gory=blutig]

Went thy excessive love for me;

’tis not hard for me, therefore [to be saved].

 

Die Brustwunde Christi wurde auch angesehen als Platz der Zuflucht für die Menschheit (so früh wie es schon Gregor der Große im 6. Jhd. tat und später von Bernhard von Clairvaux und Bonaventura übernommen wurde), wobei die „Risse im Fels“, eine Referenz an Hohelied 2,14, mit den Wunden Christi assoziiert wurden. Diarmuid Ó Cobhthaigh begreift die Brustwunde Christi als „den einzigen Schiffshafen für Evas Rasse…worin er uns beschützt hat…der Reichtum dieses Hafens, sein Herz, sollte Evas Rasse dazu veranlassen, hierhin zurückzukehren“. Barden des 16. Jhd. stellten Christus gerne entflammt vor Liebe zur Menschheit am Kreuz dar, sodass dadurch sein Tod ausgelöst wird: „Die Hitze seiner Liebe war so entzündet, dass sie ihn tötete, den dritten der drei Äste.“ Diarmuid Ó Cobhthaigh spricht vom „Sohn, der in der Umsetzung der Liebe starb“; in einem anderen Gedicht stellt er Christus (hier „Vater“ genannt) sterbend dar, und zwar wortwörtlich an einem Liebes-Herzinfarkt am Kreuz:

 

The death of their Father, Lord and Judge of the world,

Caused His children’s salvation;

Their father died as he could not keep (within his heart)

His love for his race.

 

Die mystische Verbindung mit einem verweiblichten Christus am Kreuz wird reichlich dargestellt und resultiert in der Neuschöpfung der erlösten Menschheit: Ó Cobhthaigh spricht gar vom fließenden Blut Christi, das das neue Leben der menschlichen Rasse fortsetzt:

 

The blood rain of Thy Son’s wounds is the shower that made our seed grow. It was a blessing for the children for whom His side was pierced; the heavier the rain the brighter the sunshine after it!

 

Für Ó Cobhthaigh wurde dieses neue Leben von der Lanze oder dem Speer vorbereitet, die die Grundlage des Fleisches Christi als Wachstum der Menschheit bereitete, wie es in dieser Stanze des „Fiú a bheatha bás tiarna“ heißt („Der Tod des Herrn ist so wertvoll wie sein Leben war“): „Mit dem Speer, der seine Brust durchstieß, pflügte er das Feld, woher er eine reiche Ernte der Menschheit einfuhr.“ Aber durch die Geburt einer erlösten Menschheit aus der offenen Seitenwunde würde es manchmal in schwierigen Zeiten für die Menschheit notwendig sein, wieder Zuflucht in den Spalten der Herzkammer Christi zu suchen oder in den – wenn man so will – Schoß zurückzukehren. Die Möglichkeit, die Wunden Christi wiederzubetreten, kommentiert Susannah Biernoff dahingehend, „dass der Opferleib sich selbst entleert in einem ewigen Blutfluss, dass er aber auch ein Schoß ist, den man wiederbetreten kann. Jesus gebärt als Mutter durch seine Seite und umhüllt seine Kinder wieder in den tiefen Falten seines Fleisches.“

In ihrem Kommentar zur Metaphorik, die man bei Julian von Norwich (1342 – 1416) findet, fasst Caroline Bynum dasselbe Anliegen auf, wenn sie bemerkt, dass „für Julian das Blut, das aus einer Gottmutter fließt, Beiklänge von Gebärmutter- und Geburtsblut hat, obwohl es bedeutsam ist, dass Julian Christen als eingeschmiegt in einen Gott sieht, aus dem sie niemals herauskommen sollen.“ Christus wurde in der mittelalterlichen Kunst dahingehend oft dargestellt als Beschützer von Menschen in seiner Herzwunde (Abb. 5); und tatsächlich bittet das bekannte „Anima Christi“-Gebet aus dem 16. Jhd. Christus darum: „verbirg mich in deinen Wunden“.

 

VI.

 

Nachdem wir nun diese sehr wirkmächtige Metaphorik der mystischen Liebe behandelt haben, möchte ich nun zu den „arma Christi“ (Leidenswerkzeuge) zurückkehren. Hauptsächlich im Irland des 15. Jhd. begannen die „arma Christi“ auf der Grabesikonographie zu erscheinen und wurden insofern vermehrt assoziiert mit verwandter Metaphorik wie der des Schmerzensmannes oder der Messe des Hl. Gregor. Die immer größer werdende Bandbreite der Leidenswerkzeuge Christi fungierten auch als Sehhilfen, um Betrachter an die Passionsgeschichte zu erinnern (sowohl kanonische als auch apokryphe), bei denen sie grundlegende „Requisiten“ waren. In verschiedener Weise bestanden sie aus dem Kreuz, dem Speer oder der Lanze des Longinus, den Geißeln, den Kneifern, Nägeln, Hammer, Leiter, Dornenkrone, nahtloses Gewand, Würfel, Geißelsäule, ein Schwamm auf einem Ysop-Stecken oder Kelch und Pfahl, die Kreuzesinschrift (titulus board) INRI, die Gesichter derjenigen, die Christus anspucken, die dreißig Silberlinge des Judas, der Krug und das Becken, mit denen sich Pilatus die Hände wusch, der Hahn (oder Hahn und Topf), das Tuch oder Schweißtuch (mandylion) der Veronika und das Ohr des Hohepriesterdieners Malchus. So stellt das Grab von Richard Butler (Burggraf/Viscount Mountgarrett (1571)) in der St. Canice’s Cathedral in Kilkenny einen Schild dar mit dem Butler-Wappen samt klar definierter Leidenswerkzeuge wie die Säule, nahtloses Gewand, Geißeln, Leiter, Kelch auf Pfahl, Hammer, Kneifer, und ein Herz umgeben von Dornen, das von zwei Dolchen durchstoßen wird. Oft resultierte die wachsende Beliebtheit der „arma Christi“ in der Darstellung von Schilden, die dann mit Symbolen so überfrachtet wurden, dass sich das visuelle Narrativ meist auf der Außenseite fortsetzte.

Bis in das Jahr 1645 wurde noch zum Meditieren der Passion Christi aufgefordert, wie ein irisches Franziskaner-Gebetbuch, „Parrthas an Anma“ von Antoin Gearnon, das auf dem Kontinent in der Druckerpresse des St. Anthony’s College in Leuven produziert wurde, bezeugt. In einem Teil dieses Handbuchs wird der Leser durch verschiedene Teile des Tages mitgenommen und dazu angeleitet, wie man verschiedene Momente in der Zeit vergeistigt. Wenn man sich beispielsweise am Morgen anzieht, wird den Lesern geraten, die Leidenswerkzeuge Christi zu meditieren. Diese Vergeistigung der täglichen Routine war ziemlich detailliert: beim Anziehen der Schuhe lag der Fokus etwa auf den Nägeln an den Füßen Christi und auf der Dornenkrone auf seinem Kopf; beim Schließen der Kleiderknöpfe wiederum auf der Geißelung Christi und dem purpurfarbenen Gewand, das er trug – und so weiter.

Im Verlauf des 17. und 18. Jhd. verschoben sich die „arma Christi“ auf kleinere Gegenstände, die an der eigenen Person getragen werden konnten, wie die sogenannten „penal crosses“ (“Strafkreuze“), die besonders mit der Pilgerfahrt zum St. Patrick’s Purgatory im County Donegal verbunden wurden, wo sie in großem Umfang verkauft wurden; des Weiteren gab es „penal rosaries“ (“Strafrosenkränze“), die einige „arma Christi“ um ihr Kruzifix herum zeigen. Mit der Ankunft des „penal cross“ schaffte es nur eine Auswahl der „arma Christi“ von der ausgedehnteren spätmittelalterlichen Ansammlung auf dieses Kreuz – hauptsächlich aus Platzgründen, aber vielleicht auch wegen der Beliebtheit oder Tauglichkeit. Nur die folgenden Symbole finden sich auf „penal crosses“: Sonne und Mond, Krug, Schnüre, Geißeln, Schilf, Tuch oder Schweißtuch (mandylion) der Veronika, Leiter, Speer, Hammer, Kneifer, Nägel, Würfel, Schädel und gekreuzte Knochen und natürlich Hahn und Topf. Hahn und Topf waren besonders wichtig in der irischen spirituellen Tradition. Während man beides in der mittelalterlichen europäischen Bandbreite der Leidenswerkzeuge üblicherweise nicht findet, sind sie dennoch ein beliebtes Merkmal in irischen Beispielen seit dem 15. Jahrhundert. Das Merkmal stammt letztlich von einer Erzählung im sogenannten „Nikodemus-Evangelium“ des frühen 5. Jhd., worin erzählt wird, wie Judas nach Christi Tod nach Hause kommt, um ein Seil anzubringen, mit dem er sich erhängen will. Dabei findet er seine Frau dabei vor, einen Hahn auf Kohlenfeuer zu braten. Er bittet sie darum, ein Seil für ihn zu finden, und erklärt, dass er Jesus verraten hat, der mit Sicherheit wiederauferstehen wird – woraufhin der ängstliche Judas sich von seiner Frau damit konfrontiert sieht, dass sie seine Bedenken beiseite wischt und kundtut, dass Jesu Auferstehung von den Toten ebenso wahrscheinlich sei wie der Fall, dass der bratende Hahn zu krähen beginne. Und natürlich geschieht das Unausweichliche: der Hahn kräht dreimal kräftig und Judas verlässt fluchtartig das Haus, um sich das Leben zu nehmen. In irischen Volkserzählungen kräht der Hahn deshalb nicht „Cock-a-doodle-do“, sondern „Mac na hóighe slán“ („der Sohn der Jungfrau ist sicher und wohlauf“), das einer onomatopoetischen Version des Vorherigen entspricht.

 

VII.

 

Wie wir schon gesehen haben, wurde die irische Passionsverehrung das ganze Mittelalter hindurch von englischen und kontinentalen Trends beeinflusst. Ein bemerkenswertes Beispiel ist eine mittelenglische Allegorie des 14. Jahrhundert, bekannt als „Charter of Christ“ bzw. “Charta Christi“, die seit dem 15. Jahrhundert in irischer religiöser Barden-Lyrik auftaucht. Hier wird der Christus dargestellt, der der Menschheit eine „Charta“ verleiht (manche Beispiele stellen das als eine Land-Charta dar, d.h. den Himmel; andere sehen es als Verleihung von Friedensbestimmungen und ein Beenden der Feindschaft zwischen Gott und seiner Schöpfung). Diese Charta wird auf dem Kreuz verliehen und ist nicht etwa auf Pergament geschrieben, sondern auf der Haut Christi. Die Schreibwerkzeuge sind die Lanze und die Nägel, die den Leib Christi durchstoßen, und die Tinte ist sein Blut (seine Herz- oder Seitenwunde dient als Tintenfass, in das der Lanzenfüller getaucht wird). Um das „Pergament“ auf das Schreiben vorzubereiten, wir der Leib Christi auf den Rahmen des Kreuzes gestreckt. Zuletzt enthalten die Wunden Christi eben die Worte dieses Friedensdokuments; seine Herzwunde wird dabei als Siegel betrachtet.

Aber wenn die Iren auch nicht abgeneigt waren, englische und kontinentale Texte und Verehrungsweisen aufzunehmen und zu übernehmen, so waren sie doch auch recht frei darin, sie so abzuändern, dass sie in den jeweiligen kulturellen Kontext passten, der sie empfing. Eines der auffälligsten Beispiele dafür ist ein lateinischer Andachtstext zur Passion Christi aus dem 13. Jhd., das „Liber de passione Christi“ (“Buch über die Passion Christi“), das in umgangssprachliches Irisch im 15. Jhd. übersetzt wurde. Bemerkenswerterweise ist der irischen Version jedoch etwas Überraschendes hinzugefügt: wenn der Leib Christi vom Kreuz heruntergenommen und in Marias Schoß gelegt wird (die Szene der Pietà), erzählt die Jungfrau Maria, was sie als nächstes tat: „Ich führte Seinen Kopf und Seine Hände an meine Brust und mein Herz und machte mich daran, das Blut des Heilands zu küssen und zu trinken, und Joseph und Nikodemus nahmen mir den Leichnam weg und erlaubten mir nicht meine Sättigung oder die Befriedigung meines Verlangens.“

Was passiert hier, und warum wird dieser spezielle Text hinzugefügt? Im Wesentlichen folgt Maria einer vertrauten Praxis – die man sowohl in mittelalterlicher irischer Profanliteratur findet als auch von einer Reihe von Autoren historisch bestätigt wird –, bei der eine jammernde (oder wehklagende) Mutter oder Ehefrau, die den gewaltsam getöteten Körper ihres Sohnes oder Ehemannes betrauert, als Teil dieses Wehklage- oder Jammer-Rituals anfängt, das Blut aus den Wunden ihrer Geliebten aufzusaugen. In diesem Fall wird die Jungfrau Maria also als gälisch-irische wehklagende oder jammernde Frau porträtiert, um sich leichter mit ihr identifizieren zu können. Übrigens wird in einem faszinierenden religiösen Barden-Gedicht, das aus Anlass des Festes des Kreuzestriumphs geschrieben und im Heiligengrab der Holycross Abbey im County Tipperary aufgeführt wurde (wo eine Reliquie des Wahren Kreuzes aufbewahrt wurde), das Kreuz vom Dichter als Frau personifiziert und angeredet als „lady-leech“ (“Marien-Egel“) oder Marien-Arzt (das irische Wort für Arzt war zu dieser Zeit liaigh); und im Verlauf des Gedichts bezieht er sich dann auf das Marien-Kreuz, das das Blut des Königs trinkt und dadurch selbst zum „süßen Schluck“ wird – als Heilmittel für Sünder.

Die Assoziation zwischen der Jungfrau Maria und gälisch-irischen Klageweibern sollte zu einer ganzen Tradition von caointe (Klageliedern) der Jungfrau Maria führen, wie das „Seacht nDólás na Maighdine Muire“, die in mündlicher Überlieferung zirkulierten.

Schon im 8. Jhd. bat der Dichter Blathmac darum, dass man ihm erlaube, die Erfahrung des Schmerzes der Jungfrau zu teilen und die Wehklage in ihrer Gesellschaft zu vollführen: „Come to me, loving Mary, that I may keen with you your very dear one; alas that your son should go to the cross – he was a beautiful hero.“ Die Klage der drei Marien (oder Caoineadh na dtrí Muire) – die Jungfrau Maria, Maria, die Frau des Klopas und Maria Magdalena – sollten in ihren verschiedenen Versionen in den folgenden Jahrhunderten noch einen wichtigen Aufführungsteil von Totenwachen, Begräbnissen und in der Fastenzeit darstellen. Eine Version dieser Wehklage, die man in Galway gefunden hat, beginnt damit, dass Maria, die Mutter Jesu, den Hl. Petrus fragt, wohin Er gegangen sei (A Pheadair a aspail an bhfaca tú mo ghrá geal? Peter, apostle, have you seen my bright darling-love?). Dieser Text wird in regelmäßigen Abständen unterbrochen mit dem Ausruf „M’ochón agus m’ochón ó“, das in sich selbst jenseits jeglicher Übersetzung liegt. Während sich das Gedicht nun weiter fortentwickelt, beginnt ein Dialog zwischen Maria, der Mutter Jesu, und ihrem Sohn am Kreuz. Wenn er fragt, ob Maria ihn erkennt, antwortet sie: „An é sin an maicín a d’iomchar mé trí ráithe?” (is that the little son that I carried for three seasons?”) nó an é sin an maicín a rugadh sa stábla? – is that the little babe who was born in a stable in Bethlehem? M’ochón agus m’ochón ó …

Die einfache, aber dennoch brennend bewegende Natur des Dialogs ist charakteristisch für die einheimische irische spirituelle Tradition.

Wir verfügen über einen großartigen Sammlungsbestand von traditionellen gälischen Gebeten, die in einfachem, umgangssprachlichem Stil gehalten und so angelegt sind, dass man sie einfach behalten kann. Eben diese Gebete sind eng verwoben mit der irischen Sprache selbst – so sehr, dass man sie nur inadäquat ins Englische übersetzen kann. Mit dem Niedergang der irischen Sprache im 19. Jhd. und seinem Verschwinden aus dem täglichen Gebrauch verschwanden auch allmählich diese Volksgebete und hinterließen eine klaffende Lücke in unserem spirituellen Leben, die nie wieder angemessen aufgefüllt wurde. Dieser Abbruch der irischen Sprache hat uns von viel spirituellem Erbe abgeschnitten, selbst wenn viele Spuren dieses Erbes verlockend um uns herum bleiben, etwa in den Wörtern und Ausdrücken, die wir in der angenommenen Sprache nutzen. Ich denke hier an die alte irische Frau aus dem Westen Irlands, die, als sie vor der neunten Kreuzwegstation meditierte, ausrief: „Ah, Jesus, Du bist wieder unten.“ Der irische Andächtige tendiert dazu, nicht auf Formen zu bestehen, wenn man Gott anruft, sondern strömt eine angeborene Vertrautheit mit Christus aus.

Tiefgründigkeit muss sich aber nicht auf extravagante Worte verlassen: das Werk eines zeitgenössischen irischen Sprachdichters, Seán Leocháin, ist dafür ein typisches Beispiel. In seinem Gedicht „An Chéad Aoine“ oder „The First Friday“ erzählt er, wie der Priester zum Haus seines entkräfteten Vaters hinauffuhr, um ihm die Kommunion zu bringen – und er erlaubt sich, sich darüber zu wundern, dass „Críost a theacht i gcarr athláimhe a cheannaigh an sagart ó fhear i RosComáin” („that Christ would come in a second-hand car that the priest had bought from a man in Roscommon”/“dass Christus in einem Second-Hand-Auto kommen würde, das der Priester von einem Mann in Roscommon gekauft hatte“). Die schöne Schlichtheit, aber dennoch wunderbare Tiefe dieses Ereignisses fängt viel von dem ein, was die irischsprachige spirituelle Tradition ausmacht.

 

Exkurs: Irische Folklore

 

Geschichten des Leidens und des Todes Christi am Kreuz sind weit verbreitet in irischer Folklore, wie wir von einem reichen Geschichtenschatz wissen, der von Volkskundlern im frühen 20. Jhd. gesammelt wurde, dessen Ursprünge aber viel, viel weiter zurückreichen. Diese beliebten Geschichten können vielleicht angesehen werden als Domestizierung der Passionsgeschichte für die Iren, um sie ihnen damit immer zu vergegenwärtigen. So wurde zum Beispiel in einer Geschichte die Schöpfung von „robin redbreast“ (“Rotkehlchen“) folgendermaßen erklärt: „Es wird gesagt, dass das Blut unseres Herrn auf es [das Rotkehlchen] fiel, als es über dem Kreuz schwebte. Im County Down wird die Legende weiter angereichert durch die Überlieferung, dass bis zu diesem Moment das Rotkehlchen nur ein Spatz war, bis dieses mirakulöse Ereignis eintrat. Auf alle Fälle wird er als ‚lucky bird‘ betrachtet.“ Von der Lerche wird unterdessen erzählt, dass sie die Nägel aus den Händen Christi am Kreuz gezogen hat. In der Zwischenzeit begann eine vorbeikommende Kuh, das Blut zu trinken, das aus Christus herausfloss; und laut einer irischen Überlieferung ist das der Grund, warum man am Freitag kein Fleisch essen sollte. Der Grund, warum der Myrtenbusch so kleinwüchsig ist, wurde der Überlieferung zugeschrieben, dass die Geißeln, mit denen Christus gemartert wurde, aus Myrte gemacht waren, „der bis zu diesem Zeitpunkt ein Baum war“.

Zudem gab es die Geschichten, die einige andere Charaktere der Passionsgeschichte betreffen, zum Beispiel diese: „Die Jungfrau Maria und das Jesuskind machten einen Spaziergang draußen und sie kamen an einen wilden Naturwald. Im Wald kamen sie zu einer Hütte, in der eine Frau mit einem Jungen saß. Die Frau erwärmte gerade einen Topf mit Milch für ihr Kind. Sie gab ihrem Kind etwas Milch aus dem Topf zu trinken. Dann nahm sie den Topf und gab den Rest dem Jesuskind. Die Jungfrau dankte ihr und sie gingen weiter. Als unser Heiland ans Kreuz gehängt wurde, hingen zwei Diebe neben ihm, jeder auf einer Seite. Zufällig war derjenige auf der rechten Seite das Kind, mit dem er die Milch geteilt hatte. ‚O Herr‘, sagte der Dieb auf der rechten Seite, ‚du bist unschuldig, aber ich bin schuldig. Erinnere dich an mich, wenn du ins Reich deines Vaters eingehst‘. ‚Morgen wirst du mit mir im Paradies sein‘, sagte unser Heiland. Er wurde gerettet und war mit ihm im Paradies am nächsten Tag.“

Mein absoluter Favorit jedoch ist eine Geschichte, die nicht in Verbindung mit der Passionsgeschichte Christi steht, sondern eher mit seiner Auferstehung, und es geht ausgerechnet um den Ursprung des Tabaks. Vielleicht ist es nach der ganzen Rede über das Leiden und den Tod Christi passend, mit einer Geschichte zu schließen, die sich um seine Auferstehung dreht, da nun gerade auch Osterzeit ist. Die folgende Geschichte wurde im County Antrim gesammelt: „Ich habe diese Geschichte von meiner eigenen Mutter gehört und sie glaubte in großem Stil an Tabak als großartiges Heilmittel für alle möglichen Dinge. Sie sagte also für gewöhnlich, dass niemand jemals Anstoß an Tabak nehmen solle, denn die selige Jungfrau Maria war selbst die erste Person auf Erden, die ihn rauchte.

Denn es geschah, dass, nachdem unser Herr vom Kreuz genommen und ins Grab gelegt wurde, keiner der Jünger anwesend war, aus dem schlichten Grund, dass sie Angst hatten oder Ähnliches.

Doch am Ostermorgen ging dennoch einer der Jünger zum Grab, um seinem Herrn und Meister Achtung zu erweisen. Zufällig traf er die selige Jungfrau Maria und – wer hätte das gedacht? – hatte sie da nicht irgendetwas im Mund, und ging vom Mund nicht Rauch aus?

Und so erzählte die selige Jungfrau Maria dem Jünger, dass der Herr von den Toten auferstanden sei, wie er versprochen hatte, am dritten Tage nach seinem Tod am Kreuz. Aber der Jünger fragte sie, warum sie am Mund rauche und sie antwortete, sie habe im Inneren des Grabes unseres Herrn ein Gras gefunden und dass ein Engel dort gewesen sei, und dieser Engel habe ihr gesagt, dass sie es rollen, anzünden und paffen müsse, denn es würde ihr helfen.

So gehorchte sie dem Engel und das war der Grund, warum sie rauchte. Und der Jünger fragte sie, was der Name davon sei und sie sagte, es sei ‚tomb-bacco‘ (‚Grab-Gras‘), nur weil es zuerst gefunden wurde, als es im Grab unseres Herrn wuchs, und es sollte niemals ‚tobacco‘ genannt werden, sondern immer ‚tomb-bacco‘.“

Die Gegenstände der irischen Folkloretradition sind unsagbar vielfältig, und leider haben wir auch nicht die Zeit, sie im Vorbeigehen zu erwähnen. Sie wurden natürlich unterstützt von einer Schar einfacher, beliebter Gebete für alle Arten täglicher Aktivitäten – Gebete, die die Passion Christi ins Gedächtnis riefen an verschiedenen Zeiten des Tages, denn die verschiedenen Elemente waren in eben diese Ausdrucksweisen der Gebete selbst hineingewoben.

In der irischen Tradition wurde Christus dann auch als sehr nahestehend angesehen; schnell bei der Hand; der irische Spruch „is gaire cabhair Dé ná an doras“ („Gottes Hilfe ist näher als die Tür“) fängt etwas davon ein. Es wird auch in den alten Worten eingefangen, in denen die Gegenwart Christi angerufen wird, mit und um die Person, hinter und vor ihr, über und unter ihr. Am besten wird dies deutlich in der Formulierung „Criost liom“ – „Christus, sei mit mir“.

Weitere Medien vom Autor / Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

I.   Ich werde einige Aspekte der irischen spirituellen Tradition unter folgendem Blickwinkel untersuchen: den Blick auf die Passion Christi und auf seinen Tod am Kreuz. Dadurch möge klar werden, wie sich das irische Verständnis dieses Ereignisses über die Jahrhunderte entwickelt hat. Als ich vor vielen Jahren meine Dissertation begann, besuchte ich einen alten irischen…
Hinführung   Das Thema, das mir die Katholische Akademie gestellt hat, ist sehr umfassend und ich hoffe sehr, dass Sie keine vollständige Antwort erwarten. Dennoch: gerade angesichts der rasanten Umbrüche, die uns teils orientierungslos zurücklassen, erscheint es sinnvoll, den Versuch zu unternehmen, unterschiedliche politische und wirtschaftliche Entwicklungen zusammen zu denken und einer sozialethischen Bewertung zu…
Es liegt schon etliche Jahre zurück, dass ein Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 30. Januar 2003 mit Valery Giscard d’Estaing, dem damaligen Präsidenten des Europäischen Verfassungskonventes und ehemaligen französischen Staatspräsidenten für Schlagzeilen sorgte und eine europaweite Diskussion auslöste. Es ging um die Frage, ob ein Bezug auf Gott in eine künftige Europäische Verfassung…
Unterschiedlich klingen die Aussagen über die geistlichen Ämter in den Anfangszeiten der Kirche. Da haben wir im paulinischen Umfeld Begriffe wie Steuermann (kybernaetaes: 1 Kor 12,28), Bischof (episkopos: 1 Tim 3,2; Tit 1,7), Lehrer (didaskalos: 1 Kor 12,28), Prophet (prophaetaes: 1 Kor 12,10-28). Im lukanischen Umfeld wird gesprochen von Presbytern (presbytereu), Diakone (diakoneu) – auch…

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Transformation theologisch gedeutet
Montag, 24.11. - Mittwoch, 26.11.2025
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob I
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 12.01.2026
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob II
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 19.01.2026
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob III
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 26.01.2026
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob IV
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 02.02.2026
Bild: KI-generiert mit Canva
Vernetzung unplugged
Community Building, Einsamkeit und echte Begegnung im Spannungsfeld
Donnerstag, 05.03. - Freitag, 06.03.2026