Ein bekannter Text ist neu zu lesen
Guardini hat in seinem Mooshausener „Exil“ (1943–1945) – etwa 27 Jahre nach den Ereignissen – die Bedingungen, unter denen „Vom Geist der Liturgie“ entstanden war, in „Berichte über mein Leben“ festgehalten. Erinnerungen haben nur bedingt historischen Wert. Genretypisch wird manches eingeebnet und so erzählt, dass es sich harmonisch in die Selbstwahrnehmung fügt. Das ließe sich mühelos demonstrieren, wenn man die autobiographischen Aussagen Abt Herwegens und Cunibert Mohlbergs zur gleichen Sache beiziehen wollte.
Doch Guardinis Erinnerungen sind anders gelagert. Sein Bericht gibt, wie sich jetzt zeigt, die Vorgänge historisch verlässlich wieder. Allerdings wählte er – wie es jeder Historiker tut und tun muss – aus, und zwar so, dass man ihm bei aller Zuverlässigkeit eine Art Rücksichtnahme oder sogar verhüllende Rede nachsagen darf.
Es wäre spannend zu hören, wie er selbst den Text gelesen hätte, aber vermutlich existiert kein Tondokument dieser Art. Eine Relecture mit allen bedenkenswerten Akzenten und den nötigen Pausen bricht das in sechs Sätzen Verdichtete auf und verleiht ihm einen fremden Klang, der sich im Druckbild kaum einfangen lässt:
„Als ich dann wieder in Mainz war, //
versuchte ich, für jemand, der mich darum gebeten hatte, in einigen Kapiteln zu sagen, was Liturgie sei. //
Diese Kapitel waren der Grundstock des späteren Buches ,Vom Geist der Liturgie‛. //
Ich zeigte sie dem Maria Laacher Benediktiner Kunibert Mohlberg, der vor einiger Zeit promoviert hatte //
und große liturgiegeschichtliche Pläne hegte. //
Er war davon sehr angetan //
und gab sie dem Hochwürdigsten Herrn Abt von Maria Laach, P. Ildefons Herwegen, //
bei dem sie ebenfalls warmes Interesse fanden. Damals wurde in Laach die Frage einer Reihe allgemein verständlicher Veröffentlichungen über liturgische Dinge erörtert, und es kam zur Gründung der Sammlung ,Ecclesia orans‘. Meine Kapitel aber wurden, als sie die nötige Zahl erreicht und sich zu einem Ganzen abgerundet hatten, als erstes Stück der Reihe genommen und erhielten den oben genannten Titel ,Vom Geist der Liturgie‘.“
Schon beim ersten Lesen fällt auf, dass Guardini keine Jahreszahlen nennt. Die Zeitebenen und zeitlichen Zusammenhänge bleiben vage. Er lässt die Leserin oder den Leser selbst herausfinden, dass er ab 1915 wieder in Mainz war, und Cunibert Mohlberg 1911 promoviert hatte, dessen große liturgiegeschichtliche Pläne aber erst 1918 richtig in Schwung kamen.
Außerdem hebt sich ein Abschnitt, in dem die Handelnden mit Namen vorgestellt werden, ab von Vorgängen, die nicht auf eine bestimmte Person bezogen werden. Damit bleibt offen, wer die Frage einer Reihe allgemein verständlicher Veröffentlichungen über liturgische Dinge erörterte und wer die „Ecclesia orans“ gründete. Sogar wer letztlich für den Buchtitel verantwortlich war, bleibt am Ende offen.
Der bisherige Kronzeuge zur Entstehungsgeschichte von Guardinis erster Schrift bot also einigen Spielraum zur Interpretation. Mittlerweile sind ihm jedoch weit über hundert zeitgenössische Dokumente zur Seite getreten, in der Mehrzahl dem Dunkel der Archive entlockt. Zu den bislang unbekannten Quellen gehört vor allem die Sammlung der Briefe Guardinis an den Laacher Mönch und Gelehrten Cunibert Mohlberg. Die Schreiben aus dem Jahr 1917, ergänzt um die Korrespondenz der Herderschen Verlagshandlung in Freiburg mit Abt Herwegen, erlauben es nun, die Phasen der Buchwerdung jenseits von Erinnerungen quellennah zu rekapitulieren.
Entstehung des Grundstocks (3.06.-25.07.1917)
Damit kann sicher gesagt werden, dass es weder einen „frühen Entwurf“ noch eine „Teil-Entstehung des Buches “ gegeben hat. „Vom Geist der Liturgie“ war eine Gelegenheitsschrift, was Guardini so definierte: „Fast alle meine Schriften waren Gelegenheitsschriften – das Wort so verstanden: … als etwas, das aus dem Zusammenhang des Lebens heraus zur Sprache drängte.“
Inzwischen kennen wir sowohl den konkreten Lebenszusammenhang, aus dem heraus Guardinis schon länger gespeichertes Gedankengut über das Wesen der Liturgie zur Sprache drängte, als auch die Person, die ihn zu sagen bat, was Liturgie ist. Es war Franz Prankraz Fürstweger, ein damals 47-jähriger, wohlhabender Mainzer Bürger, Besitzer einer Billardfabrik und zweiter Vorsitzender des dortigen Schachvereins. Sein Name taucht in der Guardini-Mohlberg-Herwegen-Korrespondenz erstmals am 10. Mai 1917 auf und wird zum letzten Mal am 25. Juli 1917 erwähnt – präzise in dem Brief, mit dem Mohlberg die Zusendung eines umfangreichen liturgischen Skripts angekündigt wurde.
Guardini war zu diesem Zeitpunkt Militärkrankenwärter im Mainzer Festungslazarett und Fürstweger als Lazarettinspektor sein Dienstvorgesetzter. Beide unternahmen am 31. Mai 1917 einen Ausflug in die Benediktinerinnenabtei St. Hildegard bei Eibingen. Der Grund: Fürstweger war ein an gregorianischem Choral sehr interessierter Mann. Cunibert Mohlberg, der sich zu Studienzwecken in der Abtei aufhielt, sorgte durch die Terminwahl zum einen dafür, dass dem Städter ein seltenes Liturgieerlebnis ermöglicht wurde, zum anderen, dass Abt Ildefons Herwegen und Guardini sich erstmals persönlich begegnen konnten, denn der Laacher Abt kam als für Eibingen zuständiger Ordinarius zur Jungfrauenweihe von Thecla Brand in den Rheingau. Dieses mehraktige Drama einer Personenweihe löste die Frage Fürstwegers aus: Was eigentlich ist Liturgie? Schon drei Tage später saß Guardini am Schreibtisch und begann, das berühmteste Kapitel niederzuschreiben. Er meldete Mohlberg:
„Dieser Tage kriegen Sie ein Nachnahme-Paket von 20.- Mk. Erschrecken Sie aber nicht. S’ist nämlich Schwindel. Ich will Ihnen einige comestibilia schicken. […] Es ist drin ein Stück Speck für Ihre Frau Mutter, kostet 1,50 (ca 1 Pfd) Mk. Ebenso ein Fläschchen reines Olivenöl, kostet 0,50 Pf. Dann ist drin für das Kloster Eibingen ein wenig Reis und eine Dose Krankenmehl. Letztere beide Objekte bitte ich Frau Äbtissin als kleine renumeratio für gütig gewährte Gastfreundschaft annehmen zu wollen.
Bin an meiner kleinen Studie über die Liturgie als „Spiel“, als zwecklose Lebenshandlung. Sie sollen sie kriegen, sobald es etwas damit geworden ist.“ Ende Juli war etwas daraus geworden und noch mehr: Guardini kündigte am 25. Juli „ein größeres Skriptum“ an, von „50-60 Seiten“. Doch irgendetwas verzögerte den Versand um fast 14 Tage, so dass es am 5. Augugust heißt:
„Hier ist also das Opus. Es kommt in zwei eingeschriebenen Briefen, weil es eingeschriebene Pakete nicht mehr gibt. Vorweg bitte ich Sie, wenn Sie es zurücksenden, es auch eingeschrieben zu schicken. […] Diese liturgischen elucidationes bitte ich also, mit kritischer Feder bewaffnet zu lesen; falls Rmus Zeit hat, wäre mir auch sein Urteil, und vor allem, wertvoll.“
Eine Karte vom 7. August bestätigte den endgültigen Versand. Damit war der „Grundstock“ des späteren Buches fertig.
Überarbeitung und Herausgabe als Broschüre (20.06.-30.11.1917)
Was im Einzelnen dazu gehörte, wird nicht genau gesagt, doch lässt sich dem Brief vom 20. August entnehmen, dass es sich um eine Aufsatzfolge handelte, von denen „Liturgie als Spiel“ einen Teil bildete: „Mit Ihrer Kritik haben Sie sicher das Richtige getroffen. Die philosophischen Deduktionen sind zu lang – besonders für jeden, den folgende Begriffsarbeit nicht interessiert. Will sehen, daß ich sie kürze. Das andere ist schon schwerer, die Definitionen an bewährte Autoritäten anzuschließen. Wo finde ich gerade für diese Sachen solche Leute? Wissen Sie welche? Ich bitte auch den Hochwürdigsten Herrn Abt um offene Kritik, damit ich nicht später am Zeug geflickt kriege. Was die Anordnung angeht, so haben Sie, glaube ich, recht. Das Kapitel über „Spiel …“ gehört erst an den Schluß, es ist der Höhepunkt des ganzen.“
Demnach fanden Mohlbergs kritische Anmerkungen bei Guardini Gehör. Ende August oder im September überarbeitete er die Urfassung und dürfte die neu geordnete Aufsatzfolge am 12. Oktober 1917 oder kurz danach nach Mooshausen geschickt haben, denn am 30. November fragte er beim dortigen Pfarrer, seinem Freund Josef Weiger, an: „Hast du meine litg. Arbeit bekommen?“ und meldete am gleichen Tag Cunibert Mohlberg: „Die große litg. Arbeit (vermehrt um ein Kapitel „Der Primat des Logos über das Ethos“) möchte ich allerdings gern als Broschüre erscheinen lassen.“
Guardinis Entscheidung, seine Liturgieaufsätze nicht aufzuspalten und einer oder mehreren Zeitschriften zur Publikation anzubieten, stellt einen Wendepunkt in der Entstehungsgeschichte des Buches dar. Drei Gründe lassen sich ausmachen, warum Guardini darauf bestand, dass seine Aufsätze monographisch zusammengebunden erscheinen sollten. Erstens: Er betrachtete diese Aufsätze als einen Wurf und als eine gebundene, gedanklich in sich geschlossene Einheit.
Zweitens: Guardini steckte in einer großen Krise. Er produzierte im Sommer 1917 zwar pausenlos liturgische Aufsätze, aber damit war weder auf liturgischem Feld noch für seine berufliche Zukunft viel erreicht. Am 12. Oktober – also kurz nach Abschluss der Überarbeitung des „Grundstocks“ – schrieb er deprimiert an seinen Freund in Mooshausen: „Karl wird Dir erzählt haben, daß ich versetzt wurde, an den Posten in die Militärseelsorge zu [Textlücke]. Das hat sich nun aber zerschlagen, und ich bin auf eine andere Stellung im Lazarett gekommen, die mir kaum Zeit zu eigener Tätigkeit läßt. Der Dienst ist dort sehr anspruchsvoll. Die letzten Zeiten sind schlimme und unerfreuliche. […] Ich bin in den letzten Wochen innerlich und äußerlich über[dreht?] Vor allem drückt mich, daß ich mit meiner wissenschaftlichen Arbeit gar nicht vorankomme. Alles muß liegenbleiben, und dabei werde ich nun schon bald 33 Jahre alt. Ich habe ja einige Hoffnung, daß ich Frühjahr herauskomme, aber bis dahin ist es doch lang, und wer weiß, was alles passiert in der Zwischenzeit.“
Drittens: Das Vorhaben einer Broschürenfolge geisterte schon seit August 1916 in Guardinis Kopf. Damals schrieb er, wiederum an Josef Weiger: „Was sagst Du zu folgendem Plan: Karl und ich möchten einmal eine Broschürenfolge herausgeben, die sich mit der Deutung der konkreten Kulturerscheinungen, besonders in ihrem Verhältnis zur Religion befaßt. Hefte nicht zu groß; etwa 30–40 Seiten. (1.- Mk.) Nicht reine Fachschriften, sondern an ein weiteres Publikum gewendet; aber doch so solid, daß sie wissenschaftlich zitierbar sind, also im Niveau höher als die Mönchen-Gladbacher. Weiter nicht bloß der Analyse der Kulturerscheinungen gewidmet, sondern auch ihrer Deutung, Beurteilung; also schaffend, nicht nur darstellend; andererseits der konkreten Kultur, nicht reinen Prinzipienfragen gewidmet. So hätte ich gern beigesteuert: die religiöse Geisteshaltung der Liturgie. Karl: Geist und Sinn des kanonischen Rechts.“
Abrundung zu einem Ganzen (Januar 1918)
Bis Weihnachten 1917 tat sich nichts mit Guardinis Manuskript – und dann konnte es plötzlich nicht schnell genug gehen. Was war vorgefallen? Eigentlich nichts Besonderes. Beda Kleinschmidt hatte jüngst in der „Theologischen Revue“ einen Beitrag publiziert. Der Titel: „Die Aufgaben der liturgischen Forschung in Deutschland“. Darin forderte der Vorsteher der sächsischen Franziskanerprovinz zur Mitarbeit an einem dreigliedrigen liturgischen Forschungs- und Publikationsunternehmen unter franziskanischer Leitung auf. In diesem Aufruf stieß Guardini auf den Satz: „Es droht eine Zersplitterung der auf dem Gebiete der liturgischen Forschung tätigen und heranwachsenden Kräfte und eine Verzettelung der mühsam in Einzelstudien gewonnenen Resultate und der edierten Handschriften.“
Das war Wasser auf Guardinis Mühlen: Sofort, noch am heiligen Weihnachtsfest, griff er zur Feder und bestürmte Mohlberg: „Carissime“ – so setzt der Brief unvermittelt ein – „Nur kurz zwei Zeilen. Ein Plan, ein schöner Plan! Machen Sie bitte kein entsetztes Gesicht. Es geht sicher. Reden Sie einmal mit dem hochwürdigsten Herrn darüber. Etwas derart muß sein, sonst zersplittern sich die Kräfte und die Arbeiten gehen im Wust der Literatur verloren. Ich glaube, Leute sind zu finden.“
Dann folgt ein ausgefeiltes Programm, wie eine solche Publikationsreihe zu liturgischen Fragen aussehen sollte – recht ähnlich der Broschürenfolge, wie er sie schon 1916 zusammen mit Karl Neundörfer erdacht hatte. Die Sache einer „Reihe allgemein verständlicher Veröffentlichungen über liturgische Dinge“ wurde also – wie Guardini in seinen Lebenserinnerungen schrieb – in Maria Laach erörtert, aber er selbst hatte den Anstoß dazu gegeben und als erster den Plan der „Ecclesia orans“ entfaltet.
Dort – in Maria Laach – studierte man natürlich auch den Leitartikel der „Theologischen Revue“ und war alarmiert: Ein Franziskaner machte sich auf einem urbenediktinischen Feld breit. Das schien unerhört. Doch was hatte man dem franziskanischen Plan entgegenzustellen? Cunibert Mohlbergs Edition des fränkischen „Sacramentarium Gelasianum“ in alamannischer Überlieferung, das in der Reihe „Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums“ publiziert werden sollte, war noch nicht druckreif. Herwegen und Mohlberg entschieden nun kurzerhand gleich zwei liturgiegeschichtliche Reihe zu begründen, nämlich die „Liturgiegeschichtlichen Quellen“ und die „Liturgiegeschichtlichen Forschungen“.
Doch das half für den Augenblick nicht viel. Bis der erste Band erscheinen konnte, würden noch ein paar Monate ins Land gehen. Man musste möglichst bald etwas vorzeigen können, um den Vorrang der Benediktiner und das Vordenken der Laacher auf liturgischem Gebiet zu dokumentieren. In dieser prekären Situation kamen Guardinis Aufsätze und seine Vorschläge zu einer Broschürenfolge wie gerufen. Erst jetzt erwärmte sich Herwegen so richtig für Guardinis Aufsätze. Am 7. Januar 1918 schrieb der Abt an Hermann Platz, einen der Pioniere der Liturgischen Bewegung in Deutschland: „Sehr verehrter Herr Doktor! Leider müssen Sie schon wieder so bald ins Feld. […] Es wird Sie aber sicher interessieren, dass ich mich mit Herrn Dr. Guardini dahin geeinigt habe, eine Sammlung von liturgischen Schriften herauszugeben, in die sowohl rein wissenschaftliche wie auch dem Leben dienende liturgische Arbeiten Aufnahme finden sollen. Sobald das Nähere feststeht und ein Verleger gefunden ist, werde ich Ihnen eingehender schreiben.“
In Windeseile überarbeitete Guardini ab den ersten Januartagen 1918 seine Aufsatzserie. Zweifellos auf Wunsch Herwegens baute er zusätzlich ein bereits im April 1917 unter dem Titel „Die Liturgie und die psychologischen Gesetze des gemeinsamen Betens“ publizierten Zeitschriftenbeitrag ein. Außerdem verfasste er noch das fehlende Schlusskapitel „Der Primat des Logos über das Ethos“. Damit war die nötige Zahl an Kapiteln erreicht und die Schrift um den 20. Januar 1918 herum zu einem Ganzen abgerundet. An Mohlberg meldete er: „Mein Manuskript wird gerade abgeschrieben. Ist 4mal durchgenommen worden, dann kriegen Sie es. Ich mag’s bald nicht mehr riechen.“
Der Wandel (1918-1934)
Diese Phase war gleichsam das Unbehagen des Autors angesichts seiner ersten Schrift. Für die Gründung der Reihe und die Aufnahme seiner Aufsätze „als erstes Stück“ – von ihm erdacht und so sehr gewünscht – hatte Guardini einen doppelten Preis zu zahlen. Unter dem Druck Herwegens war es zu einem überstürzten Abschluss des Manuskripts gekommen, sodass Guardini von Anfang an der Gedanke plagte, für die Marke „Ecclesia orans“ nicht das ausgereifte Produkt geliefert zu haben. Bereits am 6. Januar 1918 schrieb er an Mohlberg: „Mit der Arbeit von Herrn Dr. Tippmann sind nun schon zwei. Wissen Sie noch andere? Vielleicht lassen Sie die Tippmannsche zuerst drucken. Dann fängt die Sache solider an.“
Offensichtlich hatte Cunibert Mohlberg binnen weniger Tage schon einen zweiten potenziellen Mitarbeiter an der neuen Reihe angeworben. Mit welchem Thema Guardini dem Essener Pastoraltheologen Tippmann den Vortritt lassen wollte, ist unbekannt.
Am deutlichsten formulierte Guardini die Zweifel an seinem Opus am 24. April 1918, als er gerade die Druckfahnen aus der Hand gelegt hatte: „Also die 1 .Correktur ist fertig. Ich habe ein sehr schlechtes Gewissen, und wäre froh, wenn ich das Ding noch einmal haben konnte. Aber nun ist‘s am Laufen und ich kann nichts mehr ändern. – Hoffentlich hat Rmus gesagt im Vorwort, daß es Kriegsaufsätze ohne besonderen Anspruch sind? Es ist kein guter Anfang für die Sammlung!“ Zwei Worte sind unterstrichen: „sehr“ bei „sehr schlechtes Gewissen“ und „kein“ bei „kein guter Anfang“. Doch schneller als gedacht sollte sich Gelegenheit bieten, „das Ding“ wenigstens etwas aufzubessern.
Überarbeitungen und Erweiterungen (1919-1923)
Bereits im September 1918 war das Kontingent der Erstausgabe so gut wie aufgebraucht. Herder schrieb am 5. des Monats: „Wir freuen uns, Euer Gnaden mitteilen zu können, dass die Sammlung ,Ecclesia orans‘ allerorts eine sehr günstige Aufnahme gefunden hat, so dass der Vorrat des ersten Bändchens: Guardini, Vom Geist der Liturgie, schon vollständig aufgebraucht ist. […,] so möchten wir vorschlagen, alsbald einen möglichst unveränderten Neudruck des ersten Bändchens wieder in dreitausend Exemplaren (dazu die Freiexemplare) als zweite u. dritte Auflage vorzunehmen, um so das erste Bändchen, das der Einführung der ganzen Sammlung dient, möglichst bald wieder liefern zu können.“
Mit der zweiten, noch 1918 erschienenen Ausgabe begann die kurze Etappe von Überarbeitungen. Wie energisch Guardini zunächst wünschte, bei jeder Neuausgabe Feinarbeiten sprachlicher Art vorzunehmen, ist seinem Brief vom 22. September 1919 zu entnehmen. Damals war vom Verlag die „4. u. 5. Auflage in Aussicht genommen“ worden: „Von Herder erhielt ich den beifolgenden Brief. Daß das Büchlein neu aufgelegt werden soll, ist sehr erfreulich. Ich bin bereits mit einer genauen Revision beschäftigt. Sie ist vorwiegend auf das Sprachliche gerichtet. Ich möchte die Fremdwörter möglichst beseitigen und auch Abstrakta zu gunsten von Konkreta, Substantiva zu gunsten von Verben zurückdrängen. Man verdirbt sich durch das wissenschaftliche Reden die ganze Sprache! Was Herder ferner anregt, gefällt mir gar nicht. Durch eine Stereotypierung verliere ich die Möglichkeit, beständig an dem Werkchen feilen zu können. Was meinen Ew. Gnaden dazu? […] Auch bin ich zur Zeit damit beschäftigt, ein Kapitel ‚Liturgischer Ernst‘ zu schreiben. Es soll hinter ‚Die Litg. als Spiel‘, und ist bestimmt, einer aesthetizistischen Auffassung der Liturgie zu begegnen.“
Ob man die sprachlich-stilistischen Änderungen Guardinis in jedem Fall als Verbesserungen betrachten will, sei dahingestellt. Denn mit dem Abschleifen gingen – aus heutiger Sicht – auch Konturen und eine gewisse Ursprünglichkeit und Frische verloren. Andere Varianten belegen ein Umdenken, wenn er zum Beispiel an dem überindividuell-objektiven Charakter der Liturgie festhält: „Hier scheidet sich der katholische Begriff des gemeinsamen Gottesdienstes von der einseitig individualistischen protestantischen Auffassung“ (Erstausgabe S. 4) und 1920 (4. und 5. Auflage) abschwächte: „Hier scheidet sich der katholische Begriff des gemeinsamen Gottesdienstes von der vorwiegend individualistischen protestantischen Auffassung.“ Wie sehr sich im Laufe der Zeit der Sprachduktus verändert und sich teilweise sogar Aussageabsichten verschoben haben, wird erst eine Synopse der Ausgaben von 1918 bis 1934 ans Licht bringen. Die Jahrhundertschrift „Vom Geist der Liturgie“ hat nach 100 Jahren eine solche wissenschaftliche Ausgabe verdient.
Die Unzufriedenheit des Autors mit seinem Büchlein hatte aber noch einen anderen Grund. Der Zeitdruck, unter dem es publiziert wurde, hatte in den Hintergrund treten lassen, was viel schwerer wog als mögliche sprachliche Mängel und die Frage, ob damit die Reihe auf die bestmögliche Weise eröffnet wurde.
Wenn Herwegen „Liturgie“ sagte, meinte er etwas anderes als wenn Guardini „Liturgie“ sagte, und wenn Guardini es unternahm, dem modernen konkreten Menschen etwas vom Geist der Liturgie zu erschließen, war das etwas grundlegend anderes als den „alten, verborgenen Geist, aus dem die Erstlingskirche, ihre Märtyrerliebe zu Christus geschöpft hat, wieder zu beleben“, so Herwegen im letzten Satz seiner Einführung in die „Ecclesia orans“. Guardini lieferte also bald eine – nennen wir es – Klarstellung. Spätestens seit Ende 1918 plante er, „Vom Geist der Liturgie“ durch den „Kreuzweg unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus“ fortzuführen. Das neue Büchlein erschien im Dezember 1919 und löste vor allem durch den nahezu polemisch anmutenden Vorspann einen nach außen nur mühsam verborgenen Dissens mit dem Gönner und Fürsprecher Herwegen aus. Als „zweiten Teil zum Geist der Liturgie“ verstand Guardini dann seine „Liturgische Bildung“ von 1923. Schon seit 1921 im Entstehen, sollte das Buch ursprünglich auch innerhalb der „Ecclesia orans“ publiziert werden.
Damit sind die beiden wichtigsten externen Fortschreibungen von „Vom Geist der Liturgie“ genannt. Die interne Erweiterung durch das Kapitel „Der Ernst der Liturgie“ wurde oben schon am Rande erwähnt. Bislang fehlt ein Hinweis darauf, Guardini habe dieses Kapitel auf den Einspruch von Bischöfen hin vorgenommen.
Ausdruck einer überholten Phase der Liturgischen Bewegung
1922 erschien die 8.-12. Auflage. Damit war ein Vorrat angelegt, der zehn Jahre hinreichen sollte. Es handelte sich nur noch um eine „durchgesehene“ Ausgabe, denn inzwischen war Guardinis Eifer, die Schrift immer neu zu überarbeiten, aus drei Gründen erlahmt: Zum einen wollte und brauchte er, was er auf liturgischem Gebiet zu sagen hatte, nicht länger in sein erstes Büchlein hineinzuzwängen. Zum andern hatte er eine entscheidende Lebenswende vollzogen. Im August 1920 hatte er auf Burg Rothenfels in der Begegnung mit den Quickbornern – wie er gegenüber Mohlberg bekannte – „seinen innersten Beruf gefunden“. Fast gleichzeitig gab er den Plan auf, sich mit einem liturgietheologischen Thema zu habilitieren. Guardinis liturgiewissenschaftliche Schaffensphase kam damit ein für alle Mal ans Ende. Fortan verstand er sich in liturgischen Dingen als Mystagoge.
Zum Dritten war die Zeit schlicht weitergegangen, und die Situation, in die das Buch hineingeschrieben war, gab es so nicht mehr. 1922 leitete er im „Literarischen Handweiser“ seinen Beitrag über „Liturgische Bewegung und liturgisches Schrifttum“ mit den Sätzen ein: „Die liturgische Bewegung ist an einem Abschnitt angelangt. Die Zeit, da es galt der liturgischen Frömmigkeit überhaupt die Anerkennung zu erringen, ist vorüber.“ Da Guardini seine erste Schrift in die Anfänge der Liturgischen Bewegung in Deutschland hineingesprochen wusste, fiel es ihm mit wachsendem zeitlichem Abstand immer schwerer, seine Aufsätze für zeitgemäß zu halten.
Am 14. März 1930 schrieb er von Berlin aus an Herwegen: „Ew. Gnaden, hochwürdigster Vater Abt, dass der ,Geist der Liturgie‛ nun auch ins Holländische übersetzt wird, freut mich sehr. In Deutschland hat das Buch seine Zeit hinter sich. Umso schöner, dass es nun im Ausland seinen Dienst tun kann.“ Doch drei Jahre später drängte Herder zu einer Neuausgabe, und Guardini schrieb wieder an den Laacher Oberen: „Mit herzlichem Danke bestätige ich den Eingang von Ew. Gnaden Ansicht über das Büchlein vom Geist der Liturgie. Ich bin gern damit einverstanden und möchte es Ihnen, hochwürdigster Vater Abt noch anheimgeben, ob der alte Text unverändert gedruckt werden, oder ob ich eine Überarbeitung vornehmen soll. An sich wäre eine solche nötig, da eine ganze Reihe von sprachlichen und gedanklichen Einzelheiten im Buche sind, die ich nicht mehr recht verantworten kann.“
Doch mit der 13.-14. Auflage kam es 1934 weder zu einem unveränderten Nachdruck noch zu einer gründlichen Überarbeitung. Guardini beschränkte sich vielmehr darauf, Hinweise auf eigene neuere Publikationen einzustreuen, die sein Weiterdenken in der Sache nachvollziehbar machten. Gleichzeitig wurden fast alle Bezüge zur Entstehungszeit getilgt. Solchermaßen „entkonkretisiert“ ist „Vom Geist der Liturgie“ zu dem scheinbar zeitlosen Denkmal geworden, wie man es heute kennt. Die 13.-14. Auflage wurde zur Mutter aller späteren Nachdrucke. Das ist eine nicht geringe Hypothek im Umgang mit der Jahrhundertschrift, denn Guardini hatte das Ergebnis der letzten Revision nicht überzeugt, wie wiederum einem Schreiben an den Laacher Abt vom April 1934 zu entnehmen ist: „In der Osterwoche ist die Durcharbeitung vom ,Geist der Liturgie‘ an den Verlag abgegangen, und ich vermute, daß die Korrektur mich bei meiner Rückkehr nach Berlin dort erwarten wird. Ich habe das Manuskript mit einigem Widerstreben aus der Hand gegeben. Eigentlich geht es heute nicht mehr an, diese Dinge in dieser Weise zu behandeln. Ich habe mich selbst mit der Überlegung bewogen, daß es auch heute Solche gibt, die aus den Voraussetzungen heraus lesen, aus denen das Büchlein geschrieben ist.“
Guardinis Erstling hatte als Fanal der Liturgischen Bewegung gewirkt. Wer nach 100 Jahren von der Aktualität dieses Werkes spricht, hat es im Sinne Guardinis mit größerem Bedacht und unter dem Vorzeichen zu tun, dass die Schrift in eine bestimmte historische Situation hineingesprochen war. Damit wird nicht bezweifelt, dass „Vom Geist der Liturgie“ Fundamentales und die Kontexte von 1917/18 weit Überragendes herausgehoben hat und bleibend anregt. Das Buch und sein Autor wollen uns aber nicht von der Aufgabe entbinden, den Menschen von heute „aus der Tiefe des religiösen Lebens [zu] sagen, was Liturgie ist“ (Guardini 1966).