Ich könnte Ihnen heute Marion Poschmann biografisch vorstellen: Sie ist 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik, Slawistik und Philosophie und lebt heute in Berlin. Ich könnte Ihre Werke vorstellen: die Romane Baden bei Gewitter (2002), Die Sonnenposition (2013) oder die Kieferninseln von 2017, aus dem sie heute lesen wird. Oder ihre Gedichtbände: Geistersehen (2010), Geliehene Landschaften (2016) oder Nimbus, Gedichte von 2020.
Ich könnte Ihre Auszeichnungen und Preise aufzählen: Es sind nicht wenige. Studienleiter Michael Zachmeier hat bereits darauf hingewiesen. Aber was wüssten Sie dann über sie: etwas, was ihr gar nicht so recht ist. Eine festschreibbare Identität oder gar eine literarische Biografie, die nach geplanter Karriere schmeckt. Ich möchte Marion Poschmann anders vorstellen: mit einer Metapher. Keine positivistische Sprache wird ihr gerecht, sondern eine literarische.
Marion Poschmann ist eine Grenzgängerin. Ihre erste Grenze ist die Grenze durch ihr Kinderzimmer, die Sprachgrenze zwischen rheinländisch und westfälisch. Die Stadt Essen gehört zum Rheinland, Bochum zum Ruhrgebiet. Sehr früh macht sie die Erfahrung von Zweisprachigkeit und Mehrdeutigkeit.
Nicht von ungefähr hat sie neben der Philosophie ein Sprachstudium gewählt: Germanistik und Slawistik. Aber sie ist nicht Lehrerin geworden, sondern Grenzgängerin der Sprachen: Von 1997 bis 2003 hat sie das Fach Deutsch im Rahmen des deutsch-polnischen Grundschulprojekts Spotkanje unterrichtet. Spotkanie heißt Begegnung. An der polnisch-brandenburgischen Grenze lernen seit April 1994 in 60 Grundschulen Kinder ab der dritten Klasse freiwillig die Sprache des Nachbarlandes.
Grenze ist ein Lehnwort aus dem Slawischen: „granica“. Sie beschreibt den Ort, an dem man sich heimisch fühlt, vielleicht aber auch begrenzt und eingeschränkt. Deshalb bedarf es des Grenzgehens: „Ich habe einige Jahre als Grenzgängerin gearbeitet. Ich bin einmal in der Woche von Berlin nach Polen gependelt und habe in zwei kleinen Dorfschulen nahe der Oder Deutschunterricht gegeben.“ Poschmann erfährt dabei eine Identitätsveränderung: Als Frau durfte sie nicht selbst die Tür öffnen, wenn ein Mann in der Nähe war, zudem wurde sie mit Handkuss begrüßt. Auch ihr Äußeres musste sie verändern: Sie musste zur Dame mutieren, denn ihr eher geschlechtsneutrales Äußeres, praktisch und unglamourös, wurde für das pädagogische Arbeiten als unschicklich empfunden.
Für den literarischen Grenzgänger sind drei Eigenschaften nötig: Hingabe, Selbstvergessenheit und Leichtigkeit. Er bringt dadurch auch andere sprachlich über die Grenze. Nicht von ungefähr überschrieb Poschmann ihre Poetikvorlesungen an der Universität Duisburg-Essen 2015 Die Kunst des Überschreitens. Man darf darin das Wort „Transzendieren“ ruhig mithören.
Auch beim Schreiben bringt man sich an eine Grenze: an die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Aufgabe der Schriftstellerin könnte es sein, die Leser/innen über die Grenze zu bringen in eine andere Existenzform hinein mit Hilfe der Sprache, die geformt ist und formbar. Marion Poschmann glaubt an die Schönheit von Sprache. In der Begegnung mit dem Schönen verliert das Ich seine Fassung, die Distanz, den Neutralitätszwang. Ein schöner Roman ist für sie kein Schimpfwort oder ein Klischee mit Kitschverdacht, der schöne Roman ist ein Mordwerkzeug für das satte Ich, das nur an sich selbst glaubt. Der schöne Roman zieht einem den Boden unter den Füßen weg: Er lässt aber nicht fallen, sondern schweben.
Marion Poschmann ist auch Grenzgängerin zwischen den Gattungen; immer wieder wird ihr vorgehalten, sie schreibe Lyrik und Prosa. Man könne aber nur eine Gattung wirklich beherrschen. Aber sie will nichts beherrschen, die Sprache literarischer Gattungen schon gleich gar nicht. Für sie ist Literatur – Lyrik genauso wie Prosa – Grenzüberschreitung, Grenzüberschreitung zwischen Innen und Außen: „Meine Texte sind ins Äußere gewendete Innenräume.“ Ästhetische Erfahrung bringt nicht nur den Verstand an seine Grenzen, sondern auch Gattungsgrenzen ins Wanken.
Einen solchen Grenzgang unternimmt Marion Poschmann heute mit uns mit ihrem Roman Die Kieferninseln. Sie ist tief eingetaucht in die japanische Ästhetik bei einem Studienaufenthalt in Kyoto. Sie hat ihrem Roman ein Motto von Matsuo Basho vorangestellt: „Wenn du etwas über Kiefern wissen willst, geh zu den Kiefern“.
Das ganze Zitat lautet: „Geh zur Kiefer, wenn du etwas über Kiefern lernen willst, oder zum Bambus, wenn du etwas über Bambus lernen willst. Und wenn du das tust, musst du von der Beschäftigung mit dir selbst ablassen. Sonst drängst du dich dem Gegenstand auf und lernst nichts. Dein Gedicht entsteht von selbst, wenn du und der Gegenstand eins werden, wenn du tief genug in ihn eingetaucht bist, um darin etwas wie ein verborgenes Schimmern zu sehen. Wie gut dein Gedicht immer formuliert sein mag, wenn dein Gefühl nicht natürlich ist, wenn der Gegenstand und du getrennt bleiben – dann ist dein Gedicht keine wahre Dichtung, sondern nur deine subjektive Fälschung.“
Man wird nicht zu viel behaupten, wenn man feststellt: In diesen Sätzen verbirgt sich das poetologische Credo von Marion Poschmann.
Meine Damen und Herren, schön, dass diese Lesung heute stattfinden kann. Wir mussten sie mehrmals verschieben, Sie kennen die Gründe. Schön, dass diese Lesung in Präsenz stattfinden kann mit der Autorin und mit Ihnen als Publikum. Die Kostbarkeit der Autorenlesung wird uns dadurch neu bewusst: Manche zweifeln ja an der Zeitgemäßheit dieses Formats. Ich kann doch ein Buch auch allein lesen, da brauch ich niemanden anderen dazu.
Licht an – so überschrieb die SZ eine Serie im Lockdown der Adventszeit 2020, die dann weit ins neue Jahr reichte. Besonders beeindruckt hat mich der Text der Schriftstellerin Theresia Walser. Sie fragte: Wie werden sie überleben, die Autoren, die Ensembles, die Musikerinnen und Musiker. „Das digitale Theater tröstet mich kaum. Ich sitze davor, und je mehr ich will, dass es mir gefällt, desto mehr kriege ich den Gedanken nicht los: Ich kann ohne Publikum kein Publikum sein. Als gehöre eben alles dazu: das Gerempel, der Ellenbogen, die Berührung mit fremden Knien, das Schnauben und Schnäuzen, Schlucken, Rascheln. Und jene Stille, die man alleine nie hinkriegt.“
Um diese Stille, um diese Innerlichkeit in einer äußerlichen Veranstaltung geht es. Um die Berührung mit mir selbst – in Kontakt mit anderen. Keine Sorge, wir halten die Hygieneregeln ein bei der heutigen Veranstaltung. Und doch ist es ein Ereignis, wenn wir uns nur „eräugen“ können. Daher kommt das Wort „Ereignis“.
Schön, dass der Zauber der öffentlichen Lesung wieder möglich ist. Wir haben uns dazu eine Zauberin eingeladen.