Flagge zeigen!

Zum Selbstverständnis unseres Staates und zum Selbstbewusstsein unserer Gesellschaft

Herzlichen Dank für diese besonders liebenswürdige Begrüßung mit unvollständiger Verlesung meines „Vorstrafenregisters“. Ich bedanke mich sehr für die Einladung, die ich gerne angenommen habe, zumal sie die Gelegenheit bietet, mit Ihnen über ein Thema nachzudenken, das ganz sicher nicht neu ist, aber ebenso sicher nicht überholt ist, und mit dem ich mich selber seit sicher mindestens 20 Jahren beschäftige, in immer wieder neuen und auch immer wieder ähnlichen Konstellationen.

 

I.

In Zeiten von Fußballweltmeisterschaften oder Olympischen Spielen klingt die Aufforderung, Flagge zu zeigen, einigermaßen überflüssig, beinahe übermütig. Aber es ist wahrscheinlich schon mehr als ein schöner Zufall, dass die erste allgemein so wahrgenommene deutsche Bereitschaft, öffentlich Flagge zu zeigen, im Rahmen einer auf deutschem Boden ausgetragenen Fußballweltmeisterschaft, also 2006, und damit mehr als ein halbes Jahrhundert nach Gründung dieser Republik, stattgefunden hat. Ob und welcher Zusammenhang zwischen dem schnellen Einrollen von Flaggen und dem frühzeitigen Ausscheiden des deutschen Teams bei der gerade abgeschlossenen WM besteht, das will ich jetzt nicht weiter vertiefen. Das Risiko, damit den Vormittag zu verderben, ist mir entschieden zu hoch.

Tatsächlich lässt sich schwerlich bestreiten, und im Übrigen ja auch hinreichend gut erklären, dass die Deutschen ein etwas komplizierteres Verhältnis zu ihrem Land und seiner Geschichte haben, und dass es offenkundig noch am leichtesten fällt, sich auf die Verfassung zu einigen, wobei diese schöne Einigung alleine, wenn es denn das Einzige ist, worin sich das Selbstverständnis dieses Landes ausdrücken ließe, zugleich wieder ein Indiz für die Verlegenheit wäre, mit der man mit allem anderen umgeht oder nicht umgeht, was auch mit diesem Land und seiner Geschichte und seiner Gegenwart und übrigens nicht zuletzt auch seinen Zukunftsperspektiven zusammenhängt.

Die Diskussion, ob es, und wenn ja, was es in einer Gesellschaft über die Verfassung hinaus an Gemeinsamkeiten und Verbindlichkeiten gibt, geben soll, vielleicht geben muss, hat in Deutschland zum ersten Mal in einer breiteren Weise in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre stattgefunden, und damit in einem immer noch engen zeitlichen Zusammenhang zur Wiederherstellung der Deutschen Einheit, die dafür ja zweifellos auch einen passenden Anlass geboten hat, einschließlich der schnell zu Ende gebrachten Verfassungsdebatte, aber auch einer ersten größeren Migrationsbewegung, die damals im Zusammenhang mit den Balkankriegen entstanden war, und in deren Folge auch eine für deutsche Verhältnisse in jüngerer Vergangenheit erstmals größere Zahl von Menschen aus einem auch kulturell anders geprägten Herkunftsraum nach Deutschland gekommen sind.

Damals ist zum ersten Mal eine Diskussion entstanden, ob über die rechtliche Verfassung einer Gesellschaft hinaus es auch so etwas wie eine kulturelle Verfassung der Gesellschaft gibt, geben kann, geben muss, und ob sich das, was man mit einer solchen über rechtliche Verpflichtungen und Ansprüche hinausgehende kulturelle Ordnung ausdrückt, formulieren kann. Und es gibt einen bis heute nicht entschiedenen, aber interessanterweise ständig fortgesetzten Streit, ob es in einer modernen liberalen Gesellschaft eigentlich so etwas wie eine Leitkultur geben könne.

Es gibt, meine Damen und Herren, Begriffe, die zur Verdeutlichung dessen, worum es geht, nur begrenzt geeignet sind, ohne die möglicherweise die Debatte aber gar nicht entstanden wäre, die wir in jedem Fall dringend führen müssen. Der Begriff Leitkultur gehört für mich in genau diese Kategorie: als unmissverständliche Beschreibung dessen, worum es geht, ist der Begriff nur begrenzt geeignet, aber als Reizwort glänzend geeignet, um eine Debatte zu provozieren, die die einen dringend führen wollen und die anderen auf gar keinen Fall führen wollen, die die einen für dringend nötig und die anderen für scheinbar völlig überflüssig erklären.

 

II.

Nun möchte ich zu Beginn zunächst einmal eine Klarstellung vortragen, die hoffentlich nicht streitig ist, nämlich die Klarstellung, was mit einem solchen Begriff sicher nicht gemeint sein kann. Jede aufgeklärte Kultur wird sich selbst nicht für die einzige, einzig mögliche, allen anderen überlegene halten können. Anders formuliert, man kann die großen Kulturen der Menschheit, ob bei den Phöniziern angefangen oder den Ägyptern, den Griechen, den Römern, über die Mayas, die Inkas, die Chinesen, bis in die Neuzeit, man kann die großen Kulturen der Menschheit relativ leicht in eine zeitliche Reihenfolge bringen. Sie in eine Rangfolge bringen zu wollen, scheint mir ein nicht nur kühnes, sondern ein hoffnungsloses, auch beinahe widersinniges Anliegen zu sein. Wenn es also überhaupt so etwas gibt wie eine leitende, eine Anspruch oder Geltung beanspruchende Kultur in einer Gesellschaft, dann kann das nicht der Anspruch sein, über die eigene Gesellschaft, das eigene Land hinaus überall und für alle in gleicher Weise zu gelten, sondern für die jeweils eigene Gesellschaft, für das jeweils eigene Land. Jede Kultur, die sich ernst nimmt, ist insoweit eine Leitkultur.

Von Adolf Muschg, einem für diese Art von Diskussion relativ unverdächtigen Zeitgenossen, Schweizer, ein paar Jahre Präsident der Akademie der Künste in Berlin, Träger fast aller bedeutender deutscher Literaturpreise, stammt aus einem ähnlichen Diskussionszusammenhang die schöne Bemerkung: Brauchen wir eine Leitkultur? Antwort: Der Westen braucht keine Leitkultur, er ist eine. Ob ein so scharfsinniger und sensibler Beobachter wie Adolf Muschg heute mit Blick auf aktuelle Diskussionen im Westen und seinem mindestens in Teilbereichen erodierenden Selbstverständnis noch zu dieser prägnanten Situationsbeschreibung käme – da bin ich mir nicht so sicher –, gehört zu den Fragen, die jedenfalls eine intensive Beschäftigung lohnen.

Dass Menschen Orientierungen brauchen, welche auch immer, weil sie Halt brauchen, wenn sie sich im Leben behaupten wollen, um mit den Herausforderungen fertig zu werden, die sie oft absehbar, aber eben auch oft nicht absehbar erreichen, um mit Widerständen fertig zu werden, bei denen man sich an irgendetwas festhalten muss, darüber gibt es keinen ernsthaften Streit. Dass auch ganze Gesellschaften Orientierungen brauchen, gemeinsame Überzeugungen, auch Verbindlichkeiten, um die Unterschiede zu ertragen, die es gibt und die man weder aufgeben will noch soll, müsste eigentlich auf dem Hintergrund dieser Lebenserfahrungen sofort einleuchten. Tatsächlich gelingt aber genau diese Übersetzung im gesamtgesellschaftlichen Dialog nicht. Teilweise erklären viele – und gerade die gleichen Leute, die für sich im privaten Umfeld natürlich solche Orientierungen, auch Verbindlichkeiten, für völlig unverzichtbar halten – dieses als Vorgabe für eine Gesellschaft für disponibel, verzichtbar oder überflüssig.

Ich glaube, dass neben den schon spezifisch deutschen Unsicherheiten, die ich zu Beginn erwähnt habe, auch ein allgemeinerer Reflex eine Rolle spielt – das komplizierte Verhältnis von Freiheit und Bindung. Jeder will frei sein, und die Vorstellung, dass es so etwas wie nicht beliebig auflösbare Bindungen gibt, steht einem solchen spontanen Freiheitsverhältnis irgendwo im Wege. Es limitiert Spielräume. Verdrängt wird allerdings regelmäßig, dass Freiheit Bindungen voraussetzt, ohne die sie sich gar nicht entfalten kann. Und da sind wir vielleicht bei einem der hartnäckigsten Missverständnisse in modernen liberalen Gesellschaften, nämlich die weit verbreitete Erwartung, frei sei eine Gesellschaft nur dann, wenn in ihr über den eigenen Willen hinaus nichts unbedingt gilt. Tatsächlich liberal ist eine Gesellschaft aber nur dann, wenn es in ihr die Einsicht gibt und auch durchgesetzt wird, dass es ein Mindestmaß an Verbindlichkeiten für alle gibt und geben muss. Ja, dass dies die Voraussetzung der Möglichkeit von Freiheit ist. Eine meiner zentralen Überzeugungen ist genau diese Erfahrung, dass eine Gesellschaft die Unterschiede, die es in ihr gibt, nur dann erträgt, wenn es ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten gibt.

Vielleicht wird auch das plastischer und plausibler, wenn man von der abstrakten Ebene gesamtgesellschaftlicher Bezüge, wo wieder jeder gemeint ist und keiner sich gemeint fühlt, auf eine sofort nachvollziehbare lebenspraktische Ebene geht. Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und habe selber eine nach heutigen Verhältnissen wieder relativ große Familie. Da ist mir von Kindesbeinen an die Unterschiedlichkeit von Menschen sehr vertraut, einschließlich des Umstandes, dass selbst unter gleichen, beinahe identischen Lebensverhältnissen die Unterschiede zwischen den lebenden Exemplaren nicht weniger bemerkenswert sind als die Gemeinsamkeiten. Und natürlich ist mir wie den meisten von Ihnen auch bewusst, dass es in ein und derselben Familie keineswegs in allem und jedem einheitliche Vorstellungen, einheitliche Gewohnheiten, einheitliche Erwartungen und Absichten geben muss.

Es müssen nicht alle Frühaufsteher sein, es müssen nicht alle gemeinsam frühstücken, es müssen nicht alle Fußballfans sein oder Krimifans, und die Frage, ob abends dieses oder jenes im Fernsehprogramm geschaut wird, lässt sich inzwischen notfalls auch durch Zweit- und Drittgeräte lösen. Man muss auch nicht jedes Jahr gemeinsam in Urlaub fahren, und die Frage, ob, wenn man gemeinsam in den Urlaub fährt, es dann auf jeden Fall in die Berge oder auf jeden Fall an die See gehen muss, über all das kann es in ein und derselben Familie ausgeprägt unterschiedliche Auffassungen geben. Nur eins ist sicher: Wenn nichts von alledem mehr gemeinsam ist, gibt es die Familie nicht mehr. Es gibt sie nur noch als Begriff, aber nicht mehr als Lebenswirklichkeit. Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten hält kein Sozialverband die Unterschiede aus, die es zwischen lebenden Menschen nun einmal gibt, und die das große Versprechen einer liberalen Gesellschaft sind.

 

III.

Verfassungen definieren solche Verbindlichkeiten, die der Staat gegenüber der Gesellschaft durchzusetzen hat. Deswegen ist es auf der einen Seite tröstlich, aber, wie wir sehen werden, eben doch nicht ausreichend, sich jedenfalls auf die Verfassung gemeinsam zu beziehen. Bei genauem Hinsehen bringt jede relevante Rechtsnorm eine kulturell gewachsene und begründete Überzeugung zum Ausdruck, der sie nicht ihre Geltung, wohl aber ihre Plausibilität verdankt. Es gibt keine Rechtsnormen, die vom Himmel fallen. Rechte und Pflichten, da, wo sie kodifiziert werden, in Form von Gesetzen oder gar in Form einer Verfassung, sind, logisch betrachtet, willkürliche Prioritäten, was in einer Gesellschaft erlaubt sein soll und was verboten sein soll, und die Begründung für die Erlaubnis wie für das Verbot ist immer kulturell.

Deswegen hat der Begriff des Verfassungspatriotismus eine ebenso sympathische wie, bei genauem Hinsehen, fragwürdige Dimension. Verfassungspatriotismus ist der scheinbar geniale Ausweg einer selbstreferentiellen Identifikation, die Selbstverständigung über eine Verfassung, die sich aus sich selbst versteht. Verfassungen verstehen sich aber nie aus sich selbst. Sie sind kein Ersatz, sondern immer Ausdruck der Kultur eines Landes. Sie sind Ausdruck der Erfahrungen, die ein Land mit sich selbst gemacht hat, der Einsichten, die aus diesen Erfahrungen entstanden sind oder eben nicht entstanden sind, der Überzeugungen, die in einer Gesellschaft über Generationen, manchmal über Jahrhunderte gewachsen sind, der Prinzipien und Regeln, die sich aus solchen Überzeugungen und Orientierungen ergeben haben, und von denen die große Mehrheit einer Gesellschaft gemeinsam glaubt, dass sie gelten sollen: es handelt sich um die Kultur.

Dies ist zugleich eine hinreichende Erklärung dafür, warum auf diesem Globus unter rund 200 existierenden Staaten keine zwei identische Verfassungen haben. Eine übrigens auch hinreichende Erklärung dafür, warum nach dem komplettesten Zusammenbruch, den es jedenfalls in der deutschen Geschichte, vielleicht überhaupt in der Menschheitsgeschichte, gegeben hat, nämlich einem gleichzeitigen politischen, militärischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Niedergang, die Verfassungsväter und Verfassungsmütter vor 70 Jahren, nachdem sie die Möglichkeit hatten, die vorläufigen Rahmenbedingungen eines provisorischen westdeutschen Staates zu formulieren, nicht gesagt haben, jetzt kopieren wir mal die beste existierende Verfassung der Welt, sondern sich mit einem allerdings bewundernswerten Geschick darum bemüht haben, unter Berücksichtigung der Erfahrungen anderer Länder Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen zu ziehen, die dieses Land mit sich selbst gemacht hat. Und es gibt vielleicht auch keine zweite Verfassung der Welt, in der dieser Zusammenhang zwischen den konkreten Erfahrungen eines konkreten Landes, den zugrundeliegenden Überzeugungen, auch in der Formulierung so demonstrativ auffällt und ausfällt wie im Grundgesetz.

Es beginnt schon mit der Präambel: „Im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen …“. So etwas muss nicht in einer Verfassung stehen; in den meisten steht es auch nicht. Und übrigens mal nur nachrichtlich: Als wir den Versuch unternommen haben, vor gut zehn Jahren, eine europäische Verfassung zu schreiben, und sie nicht nur zu schreiben, sondern anschließend auch zu beschließen, was jämmerlich gescheitert ist, ist ja schon der Versuch gescheitert, eine ähnliche Anrufung Gottes in die Präambel zu schreiben. Und das in Europa „im christlichen Abendland“! Und der erste, vielzitierte Satz unseres Grundgesetzes ist ein, als gelernter Sozialwissenschaftler würde ich sagen, hochideologischer Satz und vielleicht, weniger provokativ, ein zutiefst kulturell geprägter Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Das ist das genaue Gegenteil einer empirischen Tatsachenfeststellung. Hätte unser Grundgesetz den Anspruch, das, was wir sicher wissen, jenseits aller kulturellen Prägungen und Überzeugungen möglichst unmissverständlich zu formulieren, müsste der erste Satz unserer Verfassung lauten: Die Würde des Menschen ist antastbar. Nirgendwo ist der Nachweis gründlicher geführt worden als auf deutschem Boden. Und weil wir diese Erfahrung gemacht haben, weil dieses Land diese Erfahrung gemacht hat, beginnt unsere Verfassung mit einem zentralen kulturellen Bekenntnis, das auch nicht mal ebenso als Obersatz, nachrichtlich und folgenlos, sondern als unmittelbar geltendes Recht fixiert wird, und an dem sich übrigens auch durch Mehrheitsentscheidungen legitim zustande gekommene andere Verbindlichkeiten, Gesetze messen lassen müssen, bis hin zu der keineswegs nur theoretischen Möglichkeit, demokratisch korrekt zustande gekommene rechtliche Bindungen aufzulösen, weil sie mit diesem Obersatz nicht übereinstimmen.

 

IV.

Diejenigen von Ihnen, die gelegentlich oder regelmäßig „Spiegel“ lesen, haben vielleicht vor 14 Tagen oder drei Wochen in interessantes Interview mit David Miller gelesen, einem amerikanischen Professor für politische Theorie in Oxford, wo es nicht nur, aber auch um Migration und damit verbundene kulturelle Herausforderungen geht. Auf eine entsprechende Frage sagt David Miller: „Ich glaube, dass ein Land das Recht hat, seine historisch gewachsene Mehrheitskultur zu schützen. Mit der nationalen Identität gehen ein Vertrauen und eine Art Solidarität einher, die fehlen, wenn man nur auf ökonomische, rechtliche und politische Beziehungen blickt. Der in Deutschland von Jürgen Habermas popularisierte Begriff des Verfassungspatriotismus erscheint mir zu dürftig.“ Zu dürftig heißt eben nicht falsch; nein. Aber er verkürzt Zusammenhänge auf einen Text, auch nicht auf irgendeinen Text, sondern auf den wichtigsten einzelnen Text, der die Verbindlichkeiten dieser Gesellschaft regelt, aber als Begriff ausklammert, dass diese Verbindlichkeiten Voraussetzungen haben, die sich vor dem Text ergeben. Oder anders formuliert: Wenn ich diese Voraussetzungen, auf denen eine Verfassung beruht, für dispositionsfähig erkläre, erodiert perspektivisch jede Verfassungsordnung. Denn wenn in dieser Gesellschaft die Orientierungen, die Überzeugungen, die Erfahrungen verloren gehen oder für gegenstandslos, für überholt erklärt werden, dann zieht man gewissermaßen der Verfassung den Boden weg, auf dem sie steht, und dann wird sie nicht länger stabil bleiben können.

Nun gibt es ein weiteres Missverständnis, das sich manchmal zufällig, gelegentlich vielleicht auch mit Absicht, in diesen Diskussionen immer wieder beobachten lässt und als Argument gegen Verbindlichkeiten und den Versuch ihrer Formulierung und ihrer Festschreibung vorgetragen wird, nämlich die Vermutung, da habe mal irgendwann eine mehr oder weniger zufällige, eher kleine als größere Gruppe von Personen von dem Privileg rücksichtslos Gebrauch gemacht, für spätere Generationen festzulegen, was „per omnia saecula saeculorum“ gelten soll. Auch diese Vermutung erweist sich bei genauem Hinsehen als nicht wirklich tragfähig, denn der virtuelle Kanon von gemeinsamen Erfahrungen, Überzeugungen, Orientierungen, Traditionen einer Gesellschaft ist eben nicht ein für alle Mal fixiert; er wird ständig fortgeschrieben. An dieser Fortschreibung mitzuwirken, sind alle eingeladen, die in diesem Land leben und bleiben wollen. Das, was in diesem Land Geltung beansprucht, ist eben nicht ein für alle Mal und unveränderlich in ehernen Lettern gegossen, sondern es kann sich in einer mal mehr und mal weniger auffälligen Weise verändern.

Die damaligen Verfassungsväter und Verfassungsmütter wären wahrscheinlich hochgradig erstaunt, was wir heute für unser Familienverständnis halten, und in einer wie nachhaltigen Weise wir die rechtlichen Rahmenbedingungen – als Alt-68er darf ich das erstmal so salopp sagen – für “Beziehungskisten“ und die verschiedensten Arten der Organisation von Lebensverhältnissen inzwischen für möglich und angemessen halten. Hier wird deutlich, dass eine Gesellschaft natürlich keine Skulptur ist, sondern ein lebender Organismus, und wo sich aus dem Gespräch einer Gesellschaft mit sich selbst, der Generationen untereinander, auch Fortschreibungen ergeben, die mit mal mehr und mal weniger großem zeitlichem Verzug ihren Niederschlag auch in der Rechtsordnung einer Gesellschaft finden.

Fast schon witzig ist, dass ein beachtlicher Teil derjenigen, die die Vorstellung einer Leitkultur für völlig absonderlich halten, in bestimmten Bereichen, bleiben wir mal hier beim Thema Familienverständnis, auf der rechtlichen Fixierung veränderter Vorstellungen mit Nachdruck bestehen und es keineswegs für ausreichend halten, dass es auch etwas anderes gibt, sondern das, was es anderes gibt, auch Ausdruck im rechtlichen Selbstverständnis einer Gesellschaft finden müsse.

Nochmal, unabhängig von spontanen Reflexen und Sympathien: Die Freiheitsfähigkeit einer Gesellschaft hängt entgegen weitverbreiteter Vermutungen auch und gerade von ihrer Bindungsbereitschaft ab. Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten ist der Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht aufrecht zu erhalten.

Die Frage, ob in einer Gesellschaft mit all ihren unterschiedlichen Interessen und Anlagen und Bedürfnissen in Konfliktsituationen prinzipiell ein Vorrang von Männern gegenüber Frauen gelten soll: keine erfundene Fragestellung, sondern eine durch die Kulturgeschichte der Menschheit Jahrtausende virulente Frage, ist ja alles andere als theoretisch. Und klar ist: In ein und derselben Gesellschaft kann nicht beides gleichzeitig gelten. Es kann nicht gleichzeitig der Anspruch auf Vorrang des Mannes und der Gleichberechtigung von Frau und Mann gelten. Völlig ausgeschlossen!

Die Frage, ob die letzten Verhaltensdispositionen mit Durchsetzungsanspruch von Religionen zu formulieren seien oder von der staatlichen Ordnung, ist eine über Jahrtausende die Gesellschaftsgeschichte, die Menschheitsgeschichte quälende, beschäftigende Grundsatzfrage gewesen. Auch das sogenannte christliche Abendland hat beinahe 2000 Jahre gebraucht, bis es diese Frage für sich zugunsten des Vorrangs staatlicher vor religiösen Regeln entschieden hat. Und unabhängig von der Frage, ob man das unter jedem Gesichtspunkt für einen Fortschritt der Menschheit halten soll und muss, ist jedenfalls klar: In ein und derselben Gesellschaft kann nicht beides gleichzeitig gelten: der Vorrang religiöser Normen und/oder der Vorrang staatlicher Normen. Es muss klar sein, was gilt. Ohne Verbindlichkeit erträgt eine Gesellschaft Unterschiede nicht. In diesem konkreten Zusammenhang: Die Durchsetzung dieser Verbindlichkeit ist die Voraussetzung für Religionsfreiheit. Würde es einen Vorrang religiöser Überzeugungen vor staatlichen Setzungen geben, könnte es logisch zwingend nicht Religionsfreiheit geben, jedenfalls dann nicht mehr, wenn man unter Religionsfreiheit nicht die Freiheit für eine gegen alle Religionen versteht, sondern die Freiheit, sich frei für eine Religion zu entscheiden, einschließlich der Freiheit, sich für keine bzw. gegen alle zu entscheiden.

 

V.

Wenn ich unter diesem Gesichtspunkt unterschiedliche Gesellschaften und ihre jeweilige historische Entwicklung auf das Verhältnis von Freiheiten und Bindungen, von Dispositionen und Verbindlichkeiten untersuche, dann bleibt ein Spezifikum des Westens, der westlichen Demokratien, die sich im Übrigen ja auch erst sehr, sehr spät aus einer jahrhundertelangen Entwicklung heraus etabliert haben, die überragende Bedeutung von Vernunft und Glauben als zentralen Orientierungen westlicher Gesellschaften. Dieser Zusammenhang ist nirgendwo früher, nirgendwo klarer formuliert worden als hier, in dem denkwürdigen Dialog von zwei Geistesgrößen, die sich überhaupt hier zum ersten Mal persönlich begegnet sind, nämlich dem damaligen Präfekten der Römischen Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, und Jürgen Habermas.

Von dem Dialog, der ja glücklicherweise dokumentiert ist und nach wie vor zugänglich ist, haben sich wiederum nach meiner Beobachtung die beiden jeweiligen Fan-Clubs bis heute nicht richtig erholt, denn das, was die sich in diesem Gespräch gewissermaßen wechselseitig an Überzeugungen und Relativierungen zugespielt oder aus der Perspektive der Fan-Clubs zugemutet haben, ging offenkundig über das Vorstellungsvermögen hinaus, was man bei beengter Betrachtungsweise für naheliegend hielt. Diese Verbindung, diese wechselseitige Begründung, ihre Widersprüche und die Relativierung des einen durch das andere, die Relativierung der Vernunft, also einer instrumentellen Vernunft durch Glaubensüberzeugung, oder allgemeiner formuliert, kulturell gewachsene Orientierung, sowie umgekehrt die Relativierung von Glaubensüberzeugung durch Vernunftkalküle, und das ständige Suchen nach einer neuen Balance zwischen dem einen und dem anderen, beispielsweise mit Blick auf Gentechnologie, auf die Möglichkeiten moderner Biomedizin, die Möglichkeiten der Manipulierbarkeit des Entstehens und Beendens menschlichen Lebens, wo man weder alleine mit instrumenteller Vernunft noch gewiss allein mit religiösen Überzeugungen zu Rande kommt: das ist ein herausragendes Merkmal des Westens, sollte es jedenfalls sein und nach meiner Überzeugung bleiben. Es macht übrigens unsere Kultur nicht notwendigerweise besser als andere, aber jedenfalls anders als andere.

Vorletzte Bemerkung: Zweifel sind nicht nur erlaubt, sondern geboten. Sie sind ein unverzichtbares Merkmal der westlichen Zivilisation, gewissermaßen die eingebaute Unruhe einer unverwüstlichen Uhr, die uns durch die Zeiten begleitet, seit der Aufklärung – das ist aber jetzt auch erst 250 Jahre her. Daran haben wir alle aber keine so lebhafte Erinnerung mehr. Deswegen muss es gelegentlich eben wieder ins Bewusstsein gehoben werden. Seit der Aufklärung also steht hinter jeder Behauptung nicht mehr ein Punkt, sondern ein Fragezeichen. Auch das ist eine kulturell gewachsene Tradition unserer Kultur.

Nun die letzte Bemerkung: Und wie nennt man das jetzt? Leitkultur? Die klügste Antwort zu dieser Frage stammt von Richard Schröder, der sie nicht beantwortet hat, aber für eine ähnlich komplizierte, auch ähnlich emotional aufgeladene Frage eine Empfehlung gegeben hat, der ich mich sofort anschließen könnte und möchte. In der damaligen Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, und ob man sie, wenn sie es denn war, auch tatsächlich so nennen dürfe, hat Richard Schröder damals in einem Interview die kluge Empfehlung gegeben: Nennt es wie ihr wollt, aber vergesst nicht, wie es war. Das ist meine Empfehlung auch für dieses Thema: Nennt es wie ihr wollt, aber vergesst die Zusammenhänge nicht, um die es geht.

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