Ist es verwerflich, reich zu sein?

Philosophischer Meisterkurs

Im Rahmen der Veranstaltung "Ist es verwerflich reich zu sein?", 18.02.2020

shutterstock

Nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichteten sich alle europäischen Länder, den Wohlstand und die Chancengleichheit für alle zu erhöhen, wobei niemand zurückbleiben sollte. In der Folge wurde eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen umgesetzt, die die Ungleichheiten in der Bevölkerung reduzierten. Anfang der Achtziger veränderten sich die Dinge jedoch zunehmend, ohne dass es den meisten von uns auffiel. Nach und nach wurde die gemischte Wirtschaftsform durch ein viel weniger reguliertes Modell des Kapitalismus ersetzt. Die Spitzensteuersätze sanken, die Erbschaftssteuer wurde in vielen Ländern abgeschafft. Gleichzeitig nahmen die Möglichkeiten für vermögende Personen zu, Schlupflöcher zu finden und weniger Steuern zu zahlen.

Infolgedessen sind die Ungleichheiten nun, im Jahr 2020, sehr groß geworden. Das amerikanische Magazin Forbes veröffentlicht jedes Jahr eine Liste der reichsten Menschen der Welt und führt auf, wer der weltweit reichste Milliardär ist. Auf dessen Website wird täglich darüber berichtet, wie es um sein Vermögen bestellt ist. Jeff Bezos, der Gründer und CEO von Amazon, ist etwa 130 Milliarden Dollar schwer. Die ersten Deutschen tauchen auf Platz 28 der Liste auf: Beate Heister und Karl Albrecht jr., die Erben des Aldi-Einzelhandelsvermögens, besitzen rund 32 Milliarden Dollar.

Viel besorgniserregender als die Vermögenskonzentration bei ein oder zwei Personen sind die Gesamtzahlen und Schätzungen. In Deutschland besitzen zehn Prozent der reichsten Haushalte schätzungsweise 66 Prozent des nationalen Vermögens; die übrigen 90 Prozent der Einwohner des Landes haben zusammen 34 Prozent des Reichtums. Am oberen Ende ist die Konzentration noch stärker, denn gerade einmal ein Prozent der reichsten Haushalte besitzt nicht weniger als 34 Prozent. (Quelle: Bach, Thiemann und Zucco 2019, S. 1247).

Es gibt zwei mögliche Standardreaktionen, wenn einem eine Person erzählt, sie verdiene zehn Millionen Euro im Jahr bzw. habe Eigentum im Wert von einigen Milliarden Euro.

Die erste ist: Das ist richtig so! Sie haben sicherlich hart gearbeitet, und deshalb verdienen sie es. Darüber hinaus sollten wir, als Rest der Gesellschaft, dankbar sein, denn die monetär erfolgreichsten Menschen sind der Motor der Wirtschaft, und ihr Reichtum kommt uns letztlich allen zugute, weil er sich nach unten verteilt. Das ist das trickle-down principle. Kurz gesagt: eine Reaktion des Lobes und der Bewunderung.

Die zweite Art der Antwort unterscheidet sich davon erheblich, indem gesagt wird: Niemand verdient es, so reich zu sein. Es mag in Ordnung sein, wenn einige etwas mehr verdienen als andere, weil sie härter arbeiten oder mehr Risiken eingehen, aber es gibt Grenzen dafür, wie viel Ungleichheit eine Gesellschaft verträgt. Niemand sollte so übermäßig reich sein, und daher ist es eine moralische und politische Frage, dass Reichtum zum Gegenstand einer demokratischen Debatte gemacht wird.

In meinem Vortrag werde ich nun argumentieren, dass die zweite Art von Reaktion richtig ist. Ich werde sieben Argumente dafür anführen, warum es Grenzen geben sollte, wie viel wir haben können, wobei ich einräume, dass einige Ungleichheiten gerechtfertigt sein können.

 

  1. Der erste Grund, um gegen extrem hohen Reichtum Einspruch zu erheben, ist, dass manches Vermögen nur auf illegale Art oder eindeutig unmoralischen Wegen, einschließlich Korruption, erworben werden konnte. Steuerhinterziehung ist Teil dieses Problems.

 

  1. Der zweite Grund besteht darin, dass Superreiche in der Lage sind, demokratische Werte, insbesondere politische Gleichheit, durch den Einsatz ihres Vermögens zu untergraben. Ihr Geld kann dazu verwendet werden, direkt und indirekt Wahlen und die Politikgestaltung zu beeinflussen.

 

  1. Ein dritter Grund ist darin zu finden, dass alle Gesellschaften mit den existenziellen und unerfüllten Bedürfnissen wie Armut, Obdachlosigkeit und kollektiven Problemen der Menschen konfrontiert sind. Diese Bedürfnisse könnten durch das Vermögen erfüllt werden, das die Superreichen nicht für die Deckung ihrer eigenen Lebenshaltung brauchen. Tatsächlich müssen die Superreichen einen Großteil ihres Geldes nicht wirklich zur Erhöhung ihres eigenen Lebensstandards verwenden. So sollten Superreiche ihr Geld entweder für Zwecke spenden, um diese existenziellen, unerfüllten Bedürfnisse zu befriedigen, oder es sollte versteuert werden.

 

  1. Viertens bezieht sich auf den weltweiten Kampf gegen den Klimawandel als eines dieser unerfüllten existenziellen Bedürfnisse. Es gibt starke Bedenken, ob die Eingriffe, die zur Eindämmung des Klimawandels erforderlich sind, nicht für den normalen Bürger zu teuer sind. Ebenso müssen wir uns für den nicht mehr zu vermeidenden Klimawandel rüsten und haben damit die Pflicht, Menschen in armen Ländern, die kaum zum Klimawandel beigetragen haben, aber am meisten unter seinen Folgen leiden werden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So haben wir gute Gründe, von den Superreichen zu verlangen, dass sie den größten Teil der Ausgaben bezahlen, die für den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel benötigt werden.

 

  1. Fünftens: Wenn die Ungleichheiten im Besitz von Ressourcen zu groß werden, besteht die Gefahr, dass die Schere zu weit aufgeht und die soziale Segregation zunimmt, was die Gemeinschaft im Gesamten schwächt. Die Reichen haben die Möglichkeit, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen, und selbst für höherwertige Dienstleistungen und Einrichtungen zu zahlen, so dass sie sich nicht mehr um die Allgemeinheit kümmern müssen. Wir können dies am Beispiel der lateinamerikanischen Länder beobachten, wo die Reichen nur hinter verschlossenen Türen außerhalb der Gemeinschaft sicher sind.

 

  1. Sechstens: Die Prozesse, die zu der zunehmenden Vermögenskonzentration führen, ziehen auch eine größere Unsicherheit und Verwundbarkeit der Mittelschicht und der Armen nach sich. Es werden in diesen Bevölkerungsschichten zunehmende Ressentiments gegen das politische Establishment sichtbar, das als Elitenversorger gilt. Gleichzeitig wird der Sozialstaat abgebaut, der früher eine bessere Zukunft für alle ermöglicht hat. Diese Ressentiments schaffen einen Nährboden für die Sündenböcke, die gerade in Gruppen gefunden werden, die als Außenseiter gelten. In den letzten Jahren wurden mehr und mehr die Migranten, Muslime oder Juden diese Sündenböcke. Politiker*innen, die einen autoritären Führungsstil bevorzugen, haben so die Gelegenheit, ihre Macht zu vergrößern.

 

  1. Wenn die vorhergehenden sechs Gründe nicht ausreichen, gibt es schließlich einen letzten Grund, nämlich, dass es nur sehr wenige Beweise dafür gibt, dass Superreiche glücklicher sind oder eine höhere Lebensqualität genießen als andere Menschen. Tatsächlich deuten die verfügbaren Informationen eher auf das Gegenteil hin und legen sogar nahe, dass die Kinder der Superreichen unter der Tatsache leiden können, dass sie superreiche Eltern haben.

 

Was soll also nun passieren? Man könnte auf vorhersehbare Art antworten: Steuern. Wie sich das auswirken würde, wäre von Land zu Land unterschiedlich. Aber im Allgemeinen sollte die Besteuerung von Kapital erhöht werden, wobei alle Länder einen internationalen Gipfel abhalten sollten, in dem sie beschließen, die Aktivitäten von Steueroasen zu kriminalisieren. So gäbe es viel mehr Spielraum für Unternehmen, ihren gerechten Anteil an Steuern zu zahlen. Und wir sollten die Debatte darüber wiedereröffnen, was die Erbschaftsbesteuerung fair oder ungerecht macht.

Eine strukturelle Lösung erfordert jedoch mehr als nur mehr Umverteilungssteuern; sie erfordert ein Wirtschaftssystem, das sich von dem heutigen Kasino-Kapitalismus unterscheidet. Der Kapitalismus hat großen Wohlstand, aber auch große Ungleichheit mit sich gebracht. Zudem ist er mit verantwortlich, dass der Planet, auf dem wir leben, zerstört wird. In den Worten der klassischen politischen Ökonomie: Die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital produzieren zusammen den Reichtum einer Nation, aber die Verteilung des Kuchens ist ungleich und wird immer ungleicher. Die Anschlussfrage sollte daher lauten: Wie sieht ein Wirtschaftssystem aus, das sowohl innovativ als auch ökologisch nachhaltig ist, das die Menschen moralisch gleichberechtigt behandelt, und das die Versorgung der Schwächsten sowie eine hohe Lebensqualität für alle ermöglicht? Abgesehen von der ökologischen Nachhaltigkeit, haben wir nicht in der Blütezeit des Wohlfahrtsstaates besser gelebt als heute?

Doch vielleicht ist das allererste, was wir brauchen, das Bewusstsein einer viel breiteren Menge in der Gesellschaft, wir über Fragen des Reichtums, der Ungleichheit und des Gesellschaftsvertrags sprechen. Wir müssen darüber reden, dass es nicht nur um die Wirtschaft geht, sondern auch um Politik und insbesondere um Moral. Wir müssen uns nicht als Opfer eines Wirtschaftssystems und einer Reihe von sozialen Institutionen betrachten, und letztlich Ungleichheit verstärken. Wir sollten vielmehr diskutieren, welche Art von Sozialvertrag wir wollen: Welches Wirtschaftssystem wollen wir, welche moralischen Grundsätze sollten uns bei demokratischen Entscheidungen leiten, und wie wollen wir unsere Mitbürger*innen und Mitmenschen behandeln?

Übersetzung: Rebecca Gutwald

Weitere Medien vom Autor / Thema: Philosophie | Humanwissenschaften

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Philosophie | Humanwissenschaften

Heinrich-Böll-Stiftung Berlin / Wikimedia Commons
Vom Großen und Ganzen
Der Podcast der Katholischen Akademie in Bayern und der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“
Freitag, 25.04. - Mittwoch, 31.12.2025
Zukunftsverantwortung für Gesellschaft, Politik und Land-Wirtschaft
Dienstag, 13.05.2025
© Islandoftrees, Wikimedia CC 4.0 International
Habemus Papam I
Gespräch mit P. Dr. Andreas R. Batlogg SJ und Bischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Mittwoch, 14.05.2025
Zeichnungen von Alf Lechner (1925-2017) anlässlich seines 100. Geburtstags
Montag, 19.05.2025
Eine Denkwerkstatt
Montag, 26.05.2025
Bernhard Neuhoff im Gespräch mit Sir Simon Rattle
Dienstag, 27.05.2025
EBEN European Business Ethics Network Annual Conference 2025
Donnerstag, 29.05. - Samstag, 31.05.2025
happymore/shutterstock
Wenn das Wachstum endet
Neue Perspektiven für Religion, Wirtschaft und Gesellschaftlichkeit
Dienstag, 01.07.2025