Man mag es bedauern, aber Tatsache ist: Die Evangelien des Neuen Testaments beinhalten keine systematische Abhandlung zum Thema „Schöpfung“. Wer demnach in den Evangelien nach einer eigenständigen „Schöpfungstheologie“ Jesu sucht, der sucht vergeblich. Vielmehr erschließen sich Jesu Haltung und Einstellung gegenüber der Schöpfung indirekt aus seiner Lebensgeschichte und seiner Verkündigung. Die Evangelien thematisieren die Schöpfungswahrnehmung Jesu nicht explizit, was freilich noch nichts über die Bedeutsamkeit der Thematik für den historischen Jesus aussagt.
Schöpfung als Sehschule
Zentraler Inhalt der Verkündigung Jesu ist das „Reich Gottes“. So lauten im ältesten Evangelium die ersten Worte Jesu: „Die Zeit ist erfüllt, und nahegekommen ist das Reich Gottes“ (Mk 1,15). Dieses von Gott beschlossene und um sich greifende Reich ist der Dreh- und Angelpunkt des Redens und Wirkens Jesu. Der Inhalt und die Hoffnungsperspektive dieses Reichs gewinnen in den zahlreichen Wundern Jesu Kontur. Er widmet diesem Reich eine eigene Sprachform und entfaltet die Botschaft von der Gottesherrschaft in Bildern und Gleichnissen. Die Ethik der Nachfolgegemeinschaft ergibt sich aus der Erwartung dieses Reichs. Das Reich Gottes stellt gängige Werte auf den Kopf und eröffnet einen vertrauensvollen Blick in die Zukunft.
Integraler Bestandteil der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ist die Wahrnehmung und Anrede Gottes als Abba, als Vater (vgl. Mk 14,36; Mt 5,48; 6,9.14.26.32; 15,13; Lk 11,2.13). Dem Judentum und der paganen Antike war diese Gottesanrede nicht gänzlich unbekannt. Den Urchristen aber prägt sich diese Gottestitulatur als Markenzeichen der Gottesbeziehung und Gottesbeschreibung Jesu ein (Röm 8,15; Gal 4,6). Die Natur und die Schöpfung dienen Jesus zur Illustration dieser Vatersorge. Ein markanter und deutlich von der Schöpfungsmotivik geprägter Text der Jesusüberlieferung lautet: „Sorgt euch nicht um das Leben, was ihr essen sollt, und nicht um den Leib, was ihr anziehen sollt! Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung. Beachtet die Raben, die nicht säen noch ernten, die keine Kammer und keine Scheune haben. Gott ernährt sie. Um wie viel mehr unterscheidet ihr euch von den Vögeln. Wer von euch kann mit all seiner Sorge seine Lebensspanne auch nur um eine Elle verlängern? Wenn ihr nun schon das Geringste nicht könnt, was sorgt ihr euch um das Übrige? Beachtet die Lilien, wie sie wachsen; sie mühen sich nicht ab, sie spinnen nicht. Aber ich sage euch: Selbst Solomon in seiner ganzen Pracht war nicht gekleidet wie eine von diesen. Wenn aber Gott schon das Gras auf dem Acker, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, um wie viel mehr euch, Kleingläubige. Also überlegt nicht, was ihr essen und was ihr trinken sollt; ängstigt euch nicht! Denn nach all dem trachten die Völker der Welt. Euer Vater weiß, dass ihr dies alles braucht. Sucht vielmehr sein Reich, alles andere wird euch hinzugegeben werden“ (Lk 12,22-31).
Das Matthäus- und das Lukasevangelium betten diese Rede in je unterschiedliche Kontexte. Matthäus überliefert sie im Rahmen der Bergpredigt: als Teil der ersten programmatischen Grundsatzlehre Jesu zu den Werten und Verhaltensweisen des Gottesreichs. Lukas verbindet diese Worte – nicht untypisch für das dritte Evangelium – mit einer Warnung vor Habgier und mit der Aufforderung zum Teilen. Die Tradition dürfte aus der mündlichen Überlieferung stammen und die beiden Evangelisten über die Logienquelle erreicht haben.
Generell spiegelt sich im Text eine ganz grundsätzliche Bejahung der Schöpfung. Wohlwollend und liebevoll wird von Vögeln und Pflanzen gesprochen. Mehr noch: Die Schöpfung dient Jesus sogar als Erkenntnismedium! Von der Schöpfung kann man lernen: Beachtet die Raben, betrachtet die Lilien, schaut euch das Gras auf dem Acker an… Jesus zieht Schlüsse „a minore ad maius“, vom Kleinen zum Großen. Was sich am Kleinen ablesen lässt (an den Raben, an den Lilien oder am Gras), das gilt doch – umso mehr und erst recht – für das Große, für den Menschen. Der Blick in die Schöpfung untermauert das Vertrauen in die Vatersorge Gottes. Die Schöpfung ist Spiegel und Offenbarungsmedium des Schöpfers.
Immer wieder greift Jesus auf die Schöpfung zurück, um die Botschaft vom Reich Gottes zu veranschaulichen. Das Senfkorn (Mk 4,31-32) illustriert – trotz des kleinen und unscheinbaren Anfangs – das unaufhaltsame Wachstum des Gottesreichs. Am Unkraut auf dem Weizenfeld (Mt 13,24-30) lässt sich die Geduld Gottes bis zur Ernte erkennen. Die Aufnahmebereitschaft der Menschen wird mit unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten (Mk 4,3-9) – mit einem steinigen Weg oder mit fruchtbarer Humuserde – verglichen. Wie die Saat so bringt auch das Wort Gottes gestaffelten Ertrag: dreißig-, sechzig- oder hundertfach.
Die Art, wie Jesus von der Natur spricht und wie er auf sie als Erkenntnismedium zurückgreift, zeugt von einer enormen Achtung vor der Schöpfung und von der einzigartigen Würde, die er ihr zumisst.
Der Mensch als Geschöpf
Die Schöpfung erzählt von der umfassenden Güte und Vatersorge Gottes. Jesus verkündet einen Gott, der seiner Schöpfung zugewandt ist, der wachsen lässt und Nahrung gibt. Was für die unbelebte Natur gilt, darf umso mehr für jedes Lebewesen und insbesondere den Menschen angenommen werden. Gott weiß um den Menschen. Er schaut auf ihn und sorgt für ihn.
Zugleich heißt das aber auch, dass der Mensch nicht sein eigener Herr, sondern ein bedürftiges und abhängiges Geschöpf ist: „Wer von euch kann mit all seiner Sorge seine Lebensspanne auch nur um eine Elle verlängern?“ (Lk 12,25) Der Mensch ist nicht allmächtig und nicht autark. Er lebt von Dingen, die er nicht selbst schafft oder schaffen kann. Er ist und bleibt ein Geschöpf Gottes.
Die Gebrochenheit der Schöpfung
Eine allzu schwärmerische Naturromantik liegt Jesus fern. Die Schöpfung ist – trotz all ihrer Schönheit – gebrochen und vorläufig. Allein die Tatsache, dass Jesus das Reich Gottes ankündigt, sagt doch: Welt und Schöpfung, wie sie jetzt sind, sind noch nicht der Himmel. Der Mensch lebt im „Vorletzten“, nicht im „Letzten“. Der Mensch und die Schöpfung bedürfen der Befreiung und Erlösung.
In diesem Sinn lassen sich auch die zahlreichen Wunder Jesu als Heilszeichen verstehen. Sie eröffnen eine Aussicht auf das Kommende. Krankenheilungen und Exorzismen sind in einer Welt voller Leid und Schmerz Hoffnungszeichen. Sie stehen gegen den Tod und all seine Trabanten. Sie verweisen auf eine neue und heilvolle Welt. Für einen Moment zumindest scheint im Wirken Jesu die neue Schöpfung des Gottesreichs auf: eine Welt ohne Krankheit, Leid und Schmerz.
Die Wunder Jesu vermitteln aber auch eine Vorstellung, von welcher Art die Erlösung sein wird. Sie ist nicht nur etwas für den Kopf und nicht einmal nur physisch zu verstehen. Sie betrifft auch die Gemeinschaft und das Selbstverständnis der Menschen, die Gottesbeziehung und das Verhältnis zur Natur. Die Wunder Jesu sind – im besten Sinne des Wortes – ganzheitliche Zeichen. Sie lassen auf eine umfassende Erlösung des Lebens und der Schöpfung hoffen.
Eine tiefe Solidarität
So sehr Jesus in Israel wirkt und sein Wirken auf Israel konzentriert, der Blick auf die Schöpfung und den Menschen als Geschöpf Gottes weitet die Perspektive. Jesus heilt Menschen auch außerhalb Israels (vgl. Mk 7,24-30) und begründet dies nicht durch den religiösen Hintergrund, sondern mit der Geschöpflichkeit des Menschen: „Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit werden dürfen?“ (Lk 13,16) Leid und Not verbinden und fordern – über religiöse und soziale Grenzen hinweg – zum Handeln und zur Solidarität auf.
Jesus spricht von einem Gott, der „seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und der regnen lässt über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Der Blick auf den Schöpfer und die Wahrnehmung des Menschen als Geschöpf führt zu neuen Wertmaßstäben und Verhaltensmustern. Es gilt, an Gott selbst Maß zu nehmen und die Feinde zu lieben und für die Verfolger zu beten (vgl. Mt 5,44). Die Anerkennung des Schöpfers dehnt die Reichweite des Liebesgebots universal aus. Unter den Augen Gottes, der die Welt und alle Menschen ins Dasein gerufen hat, entsteht kein exklusiver Zirkel, sondern eine universale Menschheitsfamilie. Als Geschöpf Gottes kommen jedem Menschen – ganz unabhängig von Klasse, Rasse oder Macht – unbedingte Achtung und Würde zu. Die Menschen sind in ihrer kreatürlichen Bedürftigkeit miteinander verbunden, aufeinander verwiesen und zu einer tiefen Solidarität aufgerufen.
Besonders aussagekräftig ist in dieser Hinsicht der Schluss der öffentlichen Rede Jesu im Matthäusevangelium (Mt 25,31-47). Not – egal in welcher Form – fordert heraus. Die Nationalität oder Religiosität des leidenden Mitmenschen spielen keinerlei Rolle. Der Menschensohn identifiziert sich mit dem Menschen an und für sich: dem Hungrigen, Durstigen, Nackten oder Gefangenen. Die bloße Bedürftigkeit des Menschen ist Grund genug, um sich dem Menschen als Gottes geliebtem Geschöpf barmherzig zuzuwenden.
Ein Mehrwert im Leben
Trotz aller Bedürftigkeit warnt Jesus den Menschen vor einer nur oberflächlichen Bedürfnisbefriedigung: „Ist nicht das Leben wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung?“ (Mt 6,25) Dem reichen Kornbauern wird die Sinnlosigkeit seiner rein materiellen Pläne deutlich vor Augen geführt: „Gott aber sprach zu ihm: Du Tor! In dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Was du aber bereitet hast, für wen wird es sein?“ (Lk 12,20) Der Sinn des Lebens besteht nicht im bloßen Vegetieren oder in der bloßen Aufrechterhaltung der Existenz. Das Vertrauen in die Vatersorge Gottes soll vielmehr befreiend wirken. Der Mensch ist aufgerufen, die Gottesherrschaft zu suchen und zu verwirklichen und insofern am Schöpfungsplan Gottes teilzunehmen. Im Licht der Gottesherrschaft wird die Schöpfung zum Handlungsfeld und Einsatzort des Menschen.
In zahlreichen Bildern und Gleichnissen erläutert Jesus die lebenspraktischen Konsequenzen jener Aussicht auf die neue Schöpfung. Er spricht vom Gastmahl und einer umfassenden Gemeinschaft (Lk 13,29-30), vom Überwinden trennender Grenzen und von neuen Verhaltensmaßstäben (Mt 5,21-48). In der Nachfolge Jesu antizipieren die Jünger schon die gläubig erhoffte Zukunft und die neue Logik des Gottesreichs. Aber stehen wir hier nicht schon nah bei dem, was Paulus eine „neue Schöpfung“ nennt? „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2 Kor 5,17). Mitten in dieser bedrängten und erlösungsbedürftigen Welt scheint im Lebensweg Jesu und – hoffentlich – in der Nachfolge der Jüngerinnen und Jünger schon etwas von der Zukunft auf: von einer neuen und verwandelten Schöpfung.