Person und Spiel

Mensch und Liturgie bei Romano Guardini

„Montag, 3.8.53 … Dieser Tage aber kam mir nahe, daß ich wohl darüber denke und spreche, daß die Person nur in seinem Anruf existiert – aber ich vollziehe es nicht. Es kam mir nahe, was es bedeuten müsse, den Blick zu erfahren – leise, fern, wie sonst? –, der auf mir liegt, und selbst hineinschauen zu dürfen. Wäre das nicht der Mittelpunkt von Allem? Schlechthin Allem?“ In dieser Notiz aus dem nachgelassenen Werk Wahrheit des Denkens und Wahrheit des Tuns nimmt Romano Guardini Bezug auf die Mitte seiner Anthropologie, das Existieren der Person aus dem göttlichen Anruf und richtet es als Frage an sich selbst. Das Innewerden der Frage führt ihn in die Ich-Du-Beziehung, hier nicht als Sprachereignis, sondern als wechselseitiges Erblicken und Erblicktwerden. Ein dichter Moment, durch ein Datum biografisch eingebunden.

Doch was heißt das näherhin, Person existiert nur in Gottes Anruf? Und abgesehen von jenem besonderen Augenblick, den er hier ins Wort fasst, wie kann dieses Existieren im Anruf „vollzogen“ werden? Denn wenn es nicht einfach gesetzt ist, sondern vollzogen werden muss, ist dieses Existieren im Anruf auf Realisierung, ja auch ein Wachsen in die Tiefe angelegt. Das kann auf vielfältige Weise geschehen.

Dem gestellten Thema entsprechend suche ich nach einer Realisierung durch das liturgische Handeln. Das Thema verbindet also zwei Schwerpunkte seines Werkes, Anthropologie und Liturgie, jedoch nicht so, dass die anthropologische Dimension der Liturgie herausgearbeitet wird, was sich durch Schriften wie „Vom Geist der Liturgie“ und „Liturgische Bildung“ durchaus nahelegen könnte. Vielmehr führt die Frage nach einem liturgischen Vollzugsort der Existenz aus dem Anruf Gottes ins Zentrum einer Theologie der Liturgie. Guardini selbst erklärte, dass er von seiner ursprünglich einmal geplanten großen Theologie der Liturgie nur einzelnes wie die beiden eben genannten Schriften verwirklicht habe.

Die fokussierte Frage und die gebotene „intensive und ehrliche Relecture“ seiner Schriften vermag bislang nicht beachtete Aspekte seiner Theologie der Liturgie ans Licht zu bringen. Ich beziehe mich dafür auf „Welt und Person“, das anthropologische Hauptwerk, aus dem Jahr 1939 und die im selben Jahr erschienene Besinnung vor der Feier der heiligen Messe, sowie auf das klassische Kapitel über Liturgie als Spiel aus dem nach hundert Jahren besonders gewürdigten Klassiker „Vom Geist der Liturgie“. Dazu lautet meine These: Ein Ort, an dem das Existieren der Person aus dem Anruf Gottes vollzogen werden kann, ist die Liturgie – insbesondere die Eucharistie als „Mittelpunkt und Quelle des christlichen Lebens“ (Besinnung vor der Feier der heiligen Messe). In der Handlungsform des Spiels vollzogen, befreit die Liturgie die Feiernden zum wahren, eigentlichen, wirklichen Leben. Dazu werde ich zuerst Guardinis Personbegriff skizzieren, bevor ich mich dem Vollziehen von Personalität als Ich-Du-Beziehung zu Gott in der Feier der Messe zuwende und das Hinübergehen in die Freiheit der Person theologisch fundiert finde im gott-menschlichen Spiel der Liturgie.

 

Guardinis Personbegriff – eine Skizze

 

Guardini führt die personale Wirklichkeit in seinem anthropologischen Hauptwerk „Welt und Person“ über eine phänomenologische Annäherung ein: Der Mensch erscheint zunächst als Gestalt, also als eine Einheit, die ihn von anderem Seienden unterscheidet, dann als Individuum, also als ein Lebewesen, das eine Mitte hat, durch die es sich von anderen Lebewesen abgrenzt, und schließlich als geistige Persönlichkeit. Das geistige Vermögen des Menschen zeigt sich darin, dass er sich anders als die tierischen Lebewesen nicht nur auf eine dem Organismus entsprechende Umwelt bezieht, sondern auf Welt. Dieses Vermögen des Geistes besteht in einer inneren Distanz zum eigenen Selbst, die es ermöglicht, das Wahrgenommene nicht nur funktional zu betrachten, sondern es als es selbst zu erfassen, das heißt im Horizont des Ganzen, im Horizont von Welt. Die geistige Persönlichkeit ist so imstande zu erkennen, zu handeln und zu schaffen. Diese zur menschlichen Natur gehörenden Vermögen befähigen und fordern den Menschen, aus einer natürlichen Umwelt eine kulturelle Welt zu bilden, die zum Beispiel in Gestalt der Technik inklusive dem darauf beruhenden Bedrohungspotential etwa durch Waffen.

Mit den Seinsbereichen Gestalt, Individuum und Persönlichkeit ist ein Lebewesen als Mensch bezeichnet, aber noch nicht als Person. Person ist Guardini zufolge nun aber gerade kein weiterer Seinsbereich oder gar eine Eigenschaft, die dem Menschen zukommen oder auch fehlen kann, sondern die formale Weise des Menschseins – und damit jedes Menschen: Als Person gehört der Mensch sich selbst als Gestalt, Individuum und Persönlichkeit. Insofern jeder Mensch sich selbst gehört, steht jeder zu sich in einem Verhältnis, aus dem er nicht verdrängt werden kann und das er auch nicht abgeben kann. Weil Personalität Selbstgehörigkeit ist, die jeden Menschen auszeichnet, ist Person einerseits eine formale Bestimmung, und andererseits das konkreteste Moment menschlicher Existenz überhaupt, denn jede Person weiß, dass sie sie selber ist und nicht eine Andere.

Das Vermögen, von sich selbst Abstand zu nehmen und sich positiv auf das eigene Sein zu beziehen, gründet in ihrer Freiheit. Weil die Person frei ist, ist sie Selbstzweck, das heißt ein Wesen unbedingter Würde. Guardini denkt hier nicht anders als lange vor ihm so unterschiedliche Denker wie Bonaventura und Kant. Insofern Person die formale Tatsache des Stehens in sich selber bezeichnet, die jeder einzelnen Person zukommt, ist Person nicht nur einmalig wie jedes biologische Individuum, sondern einzigartig. Das Verhältnis von Einzigartigkeit der Person und Allgemeinheit des menschlichen Wesens erläutert Guardini mit der auf Johannes Damaszenus zurückgehenden Unterscheidung: Was ist das da? Und: Wer ist Dieser da? Die Was-Frage richtet sich auf die allgemeinen Bestimmungen: Das ist ein lebendiges Individuum, welches geistige Persönlichkeit ist, heißt also, das ist ein Mensch. Die Wer-Frage richtet sich auf genau „Diesen“, der ein Ich ist. Er ist aber „Dieser“ als Mensch und nicht losgelöst davon, sodass Guardini sagen kann: Der Mensch ist Person. Wem die allgemeinen Merkmale des Menschseins zugesprochen werden müssen, dem kann das Personsein nicht abgesprochen werden, denn Personalität ist die formale Weise, wie der Mensch Mensch ist.

Was Person schon ist, muss doch immer aktualisiert werden, denn was Person ist, wirkt sich nicht unwillkürlich-natural aus, sondern wird grundsätzlich frei vollzogen. Diese Aktualisierung geschieht vor allem im Dialog von Ich und Du, in personaler Begegnung. Sie ereignet sich, wenn Menschen nicht nur wie Dinge aufeinanderprallen, wenn sie nicht nur wie Lebewesen in den organisch bedingten Funktionen zueinander stehen, sondern wenn eine Person aus der Subjekt-Objekt-Beziehung heraustritt, die den Anderen immer auf die eigenen Wünsche, Vorstellungen und dergleichen hin funktionalisiert, indem sie – wie Guardini im Bild sehr prägnant sagt – „die Hände wegnimmt“ und so den Anderen als Du freigibt. Sobald eine Person darauf verzichtet, den Anderen zum Objekt im eigenen Dasein zu machen, tritt sie selber als personales Ich hervor. Beantwortet der Andere diese Selbsteröffnung, indem er sich selber als Ich eines Du zu erkennen gibt, so kommt eine Beziehung von Ich und Du als Begegnung zweier personaler Freiheiten zustande, deshalb kann er sagen: „Wer liebt, geht immerfort in die Freiheit hinüber; in die Freiheit von seiner eigentlichen Fessel, nämlich seiner selbst.“

Wenn Personalität schon vor ihrer Aktualisierung besteht, stellt sich die Frage nach der Erstkonstitution einer jeden Person. Guardini verweist darauf, dass die Person eine Sinnbedeutung hat, welches ihr Seinsgewicht übersteigt, oder – mit anderen Worten – dass die endliche Person absolute Würde hat. Etwas Endliches, das nicht notwendig ist, sondern nur rein faktisch existiert und ebenso gut nicht existieren könnte, hat ein geringeres Seinsgewicht als etwas Unbedingtes, das notwendig existiert und deshalb absoluten Sinn birgt. Dennoch erkennen Menschen einander als Personen mit absoluter Würde an, wenn sie in der Ich-Du-Beziehung den jeweils Anderen als Mitte von Welt achten und bejahen.

Hier kommt nun die religionsphilosophische Kategorie des Anrufs ins Spiel. Die Erstkonstitution von Person besteht im Anruf der Person durch Gott, der die Würde der Person begründend vorwegnimmt, indem er sich selbst der Person gegenüber zum Du bestimmt. Dieser Akt des Anrufs fundiert das Sein der Person als sie selbst in unhintergehbarer Freiheit. Es ist ein Anruf der göttlichen Freiheit („genitivus subjectivus“), der die menschliche Freiheit hervorruft („genitivus objectivus“). Die Antwort auf diesen metaphysischen Anruf ist die Existenz der Person. Die menschliche Person ist damit schon immer in eine Beziehung gestellt, sie existiert von Gott her und auf Gott hin. Der Mensch „ist Mensch in dem Maße, als er … das Du-Verhältnis zu Gott verwirklicht.“

In einem weiteren Schritt fragt Guardini nach dem christlichen Ich. Paulus ist für ihn der Denker der christlichen Personalität, weil er das Neue der christlichen Person in der so genannten Damaskuserfahrung erlebt und als Sein in Christus in seinen Schriften immer wieder und besonders in dem von Guardini häufig zitierten Wort des Galaterbriefs – „Ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20) – zum Ausdruck gebracht hat. Dabei handelt es sich um eine reale Inexistenz Christi im erlösten Menschen, die pneumatisch ermöglicht ist: „Der Geist allein wirkt echtes Neuwerden, und so, daß er die Würde und Verantwortung der Person nicht antastet. Ein Neuwerden aus Gott …; zugleich aus der personalen Verantwortung des Menschen“ („Welt und Person“). Die Inexistenz Christi ist keine Entfremdung des Menschen von sich selbst. Vielmehr gilt für das christliche Ich: „Der Geist fügt ihn (den Menschen) in Christus ein und ruft ihn so zu seinem eigentlichen Ich-Sein. Er stellt ihn dem Vater gegenüber und befähigt ihn so, das eigentliche ‚Du‘ zu sprechen.“ („Welt und Person“)

Nach dieser skizzenhaften Darstellung von Guardinis Personbegriff mit der zentralen Kategorie des Anrufs, nehme ich die Frage nach dem Vollzug der personalen Existenz im Anruf, wie Guardini sie im eingangs zitierten Tagebucheintrag formulierte, auf und richte den Fokus auf die Liturgie, die wie gesagt nur ein Ort des Vollzugs unter anderen ist. Wie also kann dieses Existieren im Anruf als Realisierung des Ich-Du-Verhältnisses zu Gott „vollzogen“ werden?

 

Die Ich-Du-Beziehung zu Gott in der Eucharistiefeier

 

Die erste Antwort auf diese Frage möchte ich durch den Blick in jene Bücher geben, die den Titel Besinnung vor der „Feier der heiligen Messe“ tragen, da es sich ursprünglich um kurze, mystagogische Ansprachen vor der Messe handelt. Geht es im ersten Band um die persönliche Haltung, die den Vollzug der Messe ermöglicht und trägt, so im zweiten um das eucharistische Tun zu seinem Gedächtnis und zwar als Erkenntnis, die sich aus dem liturgischen Handeln ergibt. Guardini fragt in seinen Ansprachen unter anderem nach tragenden „Grundgestalten“ der Eucharistie. Grundgestalten geben seinem Verständnis nach „dem betreffenden Vorgang seinen besonderen Sinn, unterscheiden ihn von anderen und machen, daß Auge und Gefühl auf ihn ansprechen.“ Sie sind konkrete Handlungsformen. Als Grundgestalten der Eucharistie als Gedächtnis identifiziert er Mahl und Begegnung – und mit dem Stichwort Begegnung deutet sich das Ich-Du-Verhältnis bereits an. Doch schauen wir genauer die beiden Grundgestalten an, wobei der Akzent zunächst auf der zweiten, der Begegnung liegt.

Ausdruck für die Grundgestalt (des eucharistischen) Mahls ist der Leib und das Blut Christi als Nahrung für das tägliche Leben. Der Ausdruck für die Grundgestalt Begegnung besteht darin, dass Christus in der Messe kommt, unter die Menschen tritt, bei ihnen ist, sich den Menschen in Liebe zuneigt, sich ihnen schenkt, in ihnen wohnt und sich mit ihnen vereinigt. Es geht bei der Eucharistie nicht um ein Habhaftwerden, vielmehr um sein Kommen und das lebendige Ich-Du-Verhältnis. An dieser Stelle bringt Guardini nun den liturgietheologischen Topos des Gedenkens ins Spiel. Gedenken, so sagt er, ist immer bezogen auf eine Person, während Ereignisse erinnert werden. Das Gedenken einer Person setzt eine lebendige Beziehung voraus, Person wird also nicht zum „Gegenstand“. So kann er sagen: „Das echte Gedenken ist eine Fortsetzung des Ich-Du-Verhältnisses.“ Für das liturgische Gedenken gilt dementsprechend, dass es nicht nur die Erinnerung an ein Ereignis ist, sondern der Vollzug einer Beziehung und zwar die Beziehung jedes einzelnen Glaubenden zu Christus, was das Kommen Christi, heute, in die Zeit im Modus liturgischen Feiern voraussetzt.

Wie stehen nun die beiden Grundgestalten Mahl und Begegnung zueinander? Sie tragen sich gegenseitig und sorgen dafür, dass keine von ihnen einseitig wird. Sie bilden also einen Gegensatz im Sinne seiner Gegensatzphilosophie. Die Bedeutung der Grundgestalt Begegnung für die Grundgestalt des Mahls liegt im personalen Charakter der Begegnung: „Das Bild des Kommens mahnt an die Würde der Person und bewahrt die Vorstellung des Mahles vor allem Unehrerbietigen und Unziemlichen. Es erinnert daran, dass Gemeinschaft nicht wie das Haben eines Dinges ist, sondern wie das Aug‘ in Auge von Ich und Du.“ Komplementär dazu versichert die Grundgestalt des Mahles darin, dass hier geschieht, was in keiner zwischenmenschlichen Begegnung möglich ist, das restlose Ankommen und Dasein einer Person bei der anderen, eine Nähe, die zu wirklicher Einheit wird. Für das Leben aus diesem Geheimnis verweist Guardini wieder mit Gal 2,20 auf die Inexistenz Christi im Glaubenden.

Das liturgische Gedächtnis, die Anamnese, denkt Guardini zutiefst dialogisch-personal: „Im Gedächtnis des Herrn geht es um die Gemeinschaft schlechthin. … Das Verhältnis zum Herrn ist das reine Ich-Du des durch den Erlöser zur Freiheit der Kinder Gottes gerufenen Menschen. Dieser Erlöser kommt in einer besonderen, ausdrücklichen Weise, und alles wird möglich, was im Aufeinander-Zugehen und Ineinander-Aufgehen von Person zu Person möglich ist.“ Dieser dialogisch-personale Ansatz erscheint mir innerhalb des liturgischen Diskurses über Anamnese singulär – und man mag bedauern, dass Guardini seine Theologie der Liturgie nur in einigen wenigen Schriften niedergeschrieben hat.

Doch kommen wir auf die im Anschluss an den Tagebucheintrag von 1953 formulierte Frage zurück: Wie kann das Existieren im Anruf als Realisierung des Ich-Du-Verhältnisses zu Gott „vollzogen“ werden? Eine Antwort von den eucharistischen Grundgestalten Begegnung und Mahl her könnte lauten: In der Offenheit für den in jeder Messe im Mysterium kommenden Christus empfängt sich jede Person durch die eucharistische Communio in Christus neu als sie selbst. Dass die Kategorie des Anrufs der Person tatsächlich hinter diesem Verständnis steht, wird im Zusammenhang von Messe und Bundesschluss deutlich. Wenn man den Bundesgedanken stärker beachten würde, so Guardini, wäre sie als Gedächtnis des neuen Bundes „die immer neue Vergegenwärtigung der Tatsache, daß jeder von uns in jenem Raum, den Christi Opfertod geöffnet hat, von Gott angerufen worden ist. Daß zwischen uns und ihm ein Einverständnis besteht, … aus Gnade und Freiheit, durch Anruf und Antwort, von Person zu Person, als Treue zu Treue. Die heilige Messe ist der Augenblick, in welchem wir uns diese Tatsache immer wieder vergegenwärtigen, sie bejahen und uns in sie stellen.“

Man wird daraus auch eine Folgerung für das Verhältnis von Mensch und Liturgie ziehen dürfen: Wenn der Mensch in dem Maße Mensch ist, als er das Du-Verhältnis zu Gott verwirklicht, dann ist die Eucharistiefeier in den Grundgestalten von Mahl und Begegnung, vollzogen als Gedenken des personalen Bundes Christi mit den Menschen, ein Beitrag zur Menschwerdung des Menschen.

 

Das Hinübergehen in die Freiheit im Modus des liturgischen Spiels

 

Für die zweite Antwort auf die Frage, wie das Existieren im Anruf als Realisierung des Ich-Du-Verhältnisses zu Gott „vollzogen“ werden kann, greife ich zurück auf das Spielkapitel aus „Vom Geist der Liturgie“, wähle als Ansatzpunkt jetzt aber die Kategorie der Freiheit und erinnere an das oben bereits angeführte Zitat aus Welt und Person: „Wer liebt, geht immerfort in die Freiheit hinüber; in die Freiheit von seiner eigentlichen Fessel, nämlich seiner selbst.“ Auf die Liturgie übertragen heißt das als Arbeitsthese: Wer sich im Spiel der Liturgie verliert, wird von dem befreit, was ihn von sich selbst entfremdet, und verwandelt in den Menschen, der er wahrhaftig ist. Welche Bedeutung hat also das liturgische Spiel bei Guardini und wie trägt die Liturgie damit zur Freiheit des Menschen bei?

Im Spielkapitel geht es zunächst ganz allgemein um Grundformen menschlichen Handelns. Handlungen werden einerseits vollzogen um eines bestimmen Zweckes willen, das Gewicht liegt also beim Endzustand oder Produkt. Das charakterisiert insbesondere das ökonomische Denken. Aber es gibt auch Handlungen, die um ihrer selbst willen vollzogen werden, in sich Bestand haben und sinnvoll sind. Beide haben ihre Berechtigung und beide finden sich auch im kirchlichen Handeln. Das liturgische Handeln erfolgt nur am Rande um bestimmter Zwecke willen. Es ist sinnvoll, aber zweckfrei. „Der Sinn der Liturgie ist der, daß die Seele vor Gott sei, sich vor ihm ausströme, daß sie in seinem Leben, in der heiligen Welt göttlicher Wirklichkeiten, Wahrheiten, Geheimnisse und Zeichen lebe, und zwar ihr wahres, eigentliches, wirkliches Leben habe.“ Das Sein vor Gott als Vollzug wahren, eigentlichen und wirklichen Lebens, also nicht entfremdet von sich selbst – ist das schon Liturgie als Spiel?

Tatsächlich hat Guardini an diesem Punkt des Kapitels den Spielbegriff noch nicht eingeführt. Das erfolgt unmittelbar danach durch zwei biblische Stellen, von denen er sagt, dass sie in der Frage des Sinns der Liturgie „das befreiende Wort sprechen“. Es handelt sich um die Schilderung der Cherubim in Ez 1, wo vom Spiel freilich nicht die Rede ist, und um Spr 8,30-31a: „‘Ich war bei ihm, alles ordnend, und zwar in Entzücken Tag um Tag, spielend vor ihm allzeit, spielend auf dem Erdkreis …‘ Das ist das entscheidende Wort!“ Der Hinweis auf dieses Wort aus dem Buch der Sprüche ist geradezu emphatisch, doch Guardini zitiert zunächst nur den ersten Teil von Vers 31, ich werde darauf noch zurückkommen. Mit einer bis in die Patristik zurückreichenden Tradition bezieht er die Weisheit auf den Sohn, der „ohne allen ‚Zweck‘ … aber voll endgültigen Sinnes … ‚spielt‘ vor ihm“, also dem Vater.

Mit der spielenden Weisheit beziehungsweise dem spielenden Logos sind wir jedoch noch nicht bei der Liturgie als Spiel. Über Zweckfreiheit und Sinn bereitet er das in mehreren Schritten weiter vor: vom zwecklosen Spiel der Engel vor Gott, über das zweckfreie und sinnvolle Spiel des Kindes und das zweckfreie Schaffen des Künstlers im Versuch, eine Einheit zu schaffen zwischen Sein und Sollen, seiner inneren Wahrheit und der im Kunstwerk sichtbaren äußeren Gestalt. Den Aspekt der Kunst nimmt er nächsten Schritt auf und bestimmt die Liturgie als von der Gnade ermöglichte Verwirklichung des der göttlichen Bestimmung gemäßen eigenen Wesenssinns. Schließlich greift er den Spielbegriff wieder auf: „Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie.“

Dann folgt die Fortsetzung des Zitats aus dem Buch der Sprüche, als Zitat gekennzeichnet, jedoch ohne Angabe der Bibelstelle, und zwar am Ende einer als bedeutsam eingeführten Aussage: „Ja, wenn wir an den letzten Grund dieses Geheimnisses [das heilige Spiel der Liturgie, das die Seele vor Gott treibt] rühren wollen: der Heilige Geist, der Geist der Glut und der heiligen Zucht, ‚der da Macht hat über das Wort‘ [Zitat nicht ausgewiesen], ist es, welcher das Spiel geordnet hat, das die ewige Weisheit in der Kirche, ihrem Reich auf Erden, vor dem himmlischen Vater vollbringt. ‚Und ihre Wonne ist es‘, solchermaßen ‚unter den Menschenkindern zu sein‘ (Spr 8,31b).“ Wenn die Weisheit bei der Einführung des Spielbegriffs mit dem Sohn identifiziert wird, der vor dem Vater spielt, hier nun von der ewigen Weisheit die Rede ist, die das Spiel vor dem Vater vollbringt, wird man wieder an den Sohn denken müssen. Das Spiel der Liturgie wird somit im letzten Grund des Geheimnisses trinitarisch situiert: Der Heilige Geist ordnet das Spiel, das der Sohn (in der Kirche) vor dem Vater vollbringt. Die Freude des Sohnes ist es im heiligen Spiel der Liturgie unter den Menschenkindern zu sein, zugleich aber vor dem Vater. Zieht man diese Linie über Guardinis Spielkapitel hinaus weiter, dann erscheint die Liturgie als Spiel als Teilgabe und Teilhabe: Der Sohn als Mittler zwischen Gott und den Menschen führt die Feiernden in ihr wahres, eigentliches und wirkliches Leben vor Gott, er führt sie in die Freiheit.

Damit kann nun eine zweite Antwort auf die Frage gegeben werden, wie das Existieren im Anruf als Realisierung des Ich-Du-Verhältnisses zu Gott vollzogen werden kann: Wer sich im heiligen Spiel der Liturgie verliert, wird – in Christus existierend (vgl. Gal 2,20) – von dem befreit, was ihn von sich selbst entfremdet und verwandelt in den Menschen, der er wahrhaftig ist. In der späteren Begrifflichkeit von „Welt und Person“ könnte man auch sagen: Sie wird immer mehr verwandelt in diese Person, die sie selber und nur sie selber ist, ein einzigartiges Ich, und geht so liebend-spielend vor dem Du Gottes in die Freiheit hinüber.

Beide Antworten auf die Frage nach dem Vollzug der Person aus dem göttlichen Anruf stellen also einen Zusammenhang her: Gott feiern und Mensch werden. Ist das möglich und passiert das tatsächlich in unseren liturgischen Feiern? Auf der Basis der hier versuchten Interpretation einiger Aussagen Romano Guardinis würde ich die Frage nach der Möglichkeit in theologischer Hinsicht bejahen. Da Spiel ein kulturübergreifendes Phänomen ist, wäre das auch unter einem anthropologischen Gesichtspunkt möglich. Konkret stellen sich jedoch ernste Fragen an den Vollzug von Liturgie: Kennen und teilen die heute feiernden Menschen mehrheitlich ein solches theologisches Verständnis der Liturgie? Erwarten sie überhaupt, dass sie im Spiel der Liturgie so verwandelt werden, dass ihr eigenes Personsein im eucharistischen Gedächtnismahl aktuiert wird? Wie steht es um ihre Fähigkeit und Bereitschaft zur spielenden (Selbst-)Hingabe? Braucht es dafür nicht auch eine entsprechende Feierkultur?

Hier tut sich ein Feld auf, dass auch hundert Jahre nach Guardinis Klassiker „Vom Geist der Liturgie“, einem für die Liturgie höchst bedeutsamen Konzil und vielen Bemühungen um eine Erneuerung der Liturgie herausfordert. Diese Herausforderung anzunehmen kann ein Beitrag sein zur Stärkung personaler Existenz, als ein Schritt in die Freiheit in Freude, Gelöstheit und göttlicher Heiterkeit.

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