Queere Identitäten im Alten Testament

Eine exegetische Spurensuche jenseits binärer Geschlechter

Im Rahmen der Veranstaltung "Inter* und Trans*", 05.06.2024

Foto: Johann Jaritz / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Warum ein alttestamentlicher Vortrag zu diesem hochaktuellen Thema? Das werden sich einige von Ihnen fragen. Jene, die immer noch der Meinung sind, dass es nur zwei Geschlechter und nur Heterosexualität gibt, und alle anderen sexuellen Dispositionen und Orientierungen für Sünde erachten, berufen sich vor allem auf das Alte Testament. Dass dies nicht gerechtfertigt ist, möchte ich mit diesem Beitrag aufzeigen.

 

Dieser Vortrag möchte Ihnen Ihre Geschichte zurückgeben

 

Marginalisierte haben keine offizielle Geschichte, das hat nicht nur die Befreiungstheologie schon gesehen, sondern vor allem die Frauenforschung. Heute steht die mangelnde Sichtbarkeit der LGBTIQ* Gemeinschaft vor genau dieser Aufgabe, die eigene Geschichte zurückzuerobern.

 

Mein eigener Kontext

Vorab möchte ich ein paar Dinge zu mir selbst sagen, die insofern interessant sind, weil jede Darstellung erst im Kontext verständlich wird. Ich war 1993 die erste Frau in Österreich, die in katholischer Theologie habilitiert hat. Ich war damals Mitglied einer interdisziplinären Frauenforschungsgruppe aus dem akademischen Mittelbau, die auch politisch aktiv war und den allerersten universitären Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen besetzt hat. Das hatte primär nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern war politische Arbeit, die um die Chancengleichheit aller an den Universitäten gekämpft hat. Vor über 30 Jahren haben wir in Graz einen Fakultätsforschungsschwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung gegründet. Da waren wir wirklich Vorreiter einer Generation. 1997 habe ich den neu errichteten Lehrstuhl für Altes Testament und Theologische Frauenforschung in Bonn angenommen. Letzten Endes ist Gender- und Frauenforschung eine Lebensaufgabe geworden, obwohl ich zum Schluss einen ganz normalen Lehrstuhl für Alttestamentliche Bibelwissenschaft innehatte. Inzwischen bin ich als Alttestamentlerin pensioniert, aber noch immer in der Doktoratausbildung im interdisziplinären Graduiertenkolleg „Re-
sonante Weltbeziehungen“ an der geisteswissenschaftlichen Fakultät tätig.

Geschichtsschreibung und -rekonstruktion haben einen massiven Bias

Dieser Vortrag ist in diesem biographischen Kontext zu sehen und ich hoffe, es gelingt mir zu zeigen, dass das, was LGBTIQ* Menschen heute erleben im Prinzip dem ähnelt, was Frauen in der Theologie vor 40 Jahren erlebt haben: Sie kamen schlicht und einfach nicht vor. Sie müssen – wie auch die Frauen – nach ihrer Geschichte in den überlieferten kulturellen Äußerungen suchen. Die „offizielle“ Geschichtsschreibung ist bis heute androzentrisch, d. h. auf heterosexuelle sich deklarierende Männer bezogen und von diesen auch produziert, sehr häufig auch mit der Absicht, alle anderen Menschen als sekundär, defizitär oder sogar moralisch minderwertig darzustellen.

Dennoch können wir feststellen, dass es sogar (!) in dieser androzentrischen Geschichte einige, wenngleich wenige Hinweise auf die Geschichte von LGTBIQ* sowie speziell auf Inter* und Trans* gibt. Diese Texte sind, wenn sie unterdrückende Botschaften vermitteln, als „gefährliche Erinnerung“ (J. B. Metz) zu lesen, die nicht nur das Leiden der Marginalisierten und oft Stigmatisierten bewahren, sondern damit auch die Schuld der Täter offenlegen. Sie nicht als solche zu lesen oder sie als unterdrückend zu eliminieren, bedeutet Vertuschen und hat die Konsequenz, dass diejenigen, die Menschen aufgrund ihrer sexuellen Disposition diskriminieren, verachten oder gar verfolgen, wieder einmal ungeschoren und unbeschadet davonkommen. Sich an Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt nicht mehr zu erinnern, kann für traumatisierte Mitglieder der LGBTIQ*-Community zwar zeitweilig hilfreich sein, aber für die Gesamtgesellschaft hieße das, den Opfern ihre Geschichte zu nehmen und die Schuld der Täter zu vertuschen.

 

Moderne Fragestellungen in Texte alter Kulturen hineintragen?

 

Wenn es um die Thematisierung von marginalisierten Menschen geht, hört man als Exegetin sehr häufig den Vorwurf, man würde unzulässigerweise heutige Fragestellungen in die Bibel hineintragen. Diesen Vorwurf habe ich etwa für die Fragestellung des Textwachstums, also die Literarkritik, oder auch anderer historisch-kritischer Methodenschritte noch nie gehört, obwohl auch sie im Alten Orient unbekannt waren. Wenn es um die Aufhebung von Diskriminierung geht, steht man schnell unter Ideologieverdacht. Wie ist dem zu begegnen?

 

Die Bibel als kanonischer Text

Die Bibel ist ein kanonischer Text, das heißt, dass eine Gemeinschaft diese Sammlung von Texten für sich als dauerhaft bindend anerkannt hat. Kanonisch bedeutet einerseits, dass vom Textbestand nichts weggenommen werden darf; andererseits muss dieser unveränderbare Text für jeweils geänderte Zeiten und Kulturen zugänglich gemacht werden. D. h. die Kanonisierung der Bibel als „Heilige Schrift“ fordert zwingend notwendig eine Auslegung, die die jeweiligen Adressat*innen anspricht und die sie verstehen können. Es gibt also keine inadäquaten Fragestellungen, wenn sie von Menschen gestellt werden, die wissen wollen, was die Bibel zu derzeitigen Problemen sagt, die es freilich in der heute formulierten Form vor mehr als zwei Jahrtausenden noch nicht gab. Als kanonischer Text ist die Bibel für die Gemeinschaft immer gültig, sie ist aber ein in einer Epoche erstarrter Text. Wer also nicht aktualisiert, die Texte nicht ins Heute holt, nimmt der Bibel die Kanonizität und damit ihre Relevanz für heute.

 

In patriarchaler Kultur entstanden und die längste Zeit ausgelegt

Die Bibel ist ein Text aus einer sozialhierarchischen Gesellschaft, die nicht nur nach dem Geschlecht diskriminiert, sondern nach mehreren Kriterien, die einer Person zugeschrieben werden (s. u.).

Heutige Demokratien haben Gleichstellung und Antidiskriminierung gesetzlich verankert, was freilich noch nicht bedeutet, dass wir in diskriminierungsfreien Gesellschaften leben. Aber es gibt zumindest Handhaben, sich gegen das ganze Spektrum von Benachteiligung bis zu physischer Gewaltanwendung rechtlich zu Wehr zu setzen.

Im Alten Orient begründeten diese Kriterien die hierarchische Abstufung der Gesellschaften; einige von ihnen waren nicht durchlässig. So konnte man sich nicht selbst aus dem Status der Sklaverei befreien, was bedeutete, dass Unfreie keine Personenrechte besaßen, da sie als Besitz ihrer Herrschaft angesehen wurden. Ethnizität und Religion zu wechseln war wohl schwierig und nur durch Heirat und beste Integration möglich. Die weiteren Kriterien sind wohl ebenso einzuschätzen wie heute auch in unseren Gesellschaften: Reich zu sein ist vor allem „vererbbar“ und in seltenen Fällen auch durch Tüchtigkeit, Glück oder auch kriminelle Energie zu erreichen. Beim Alter sind wir immer noch dort, wo wir im Alten Orient waren und das Geschlecht oder die geschlechtliche Orientierung zu wechseln wird zumindest in offiziellen Dokumenten der Kirche immer noch verachtet.

All diese Kriterien hingen in biblischen Zeiten und hängen noch heute intersektionell zusammen: Je mehr Merkmale ein Mensch auf der positiven Seite aufweisen kann, desto mächtiger und angesehener ist er, je mehr auf der negativen Seite, desto mehr diskriminiert wird er. Die biblischen Texte und die durch die Geschichte hindurch zur Tradition gewordenen Auslegungen derselben sind daher mit dem Bewusstsein zu lesen, dass sie aus Gesellschaften stammen, die diese Zuschreibungen an Menschen, die selbstverständlich in ihrer Wertung verändert werden können, mit deren Status verknüpft haben. In Bezug auf die Sklaverei haben christliche Gesellschaften fast zweitausend Jahre gebraucht, um sie endlich abzuschaffen und zu ächten. In Bezug auf das Geschlecht sind westlich orientierte Gesellschaften seit einem halben Jahrhundert bemüht, sie nach und nach von ihren negativen Konnotationen zu befreien. Allerdings führen die neuesten Trends wieder in die Gegenrichtung, denn die Neue Rechte setzt sich wie die römisch-katholische Kirche massiv dafür ein, dass die Normalität in einer hierarchisch gelebten Zweigeschlechtlichkeit mit heterosexueller Orientierung bestehe, die auf die Zeugung von Nachkommenschaft gerichtet ist.

 

Die biblischen Schöpfungserzählungen als anthropologische Normierung: Zweigeschlechtlich, heterosexuell und hierarchisch erschaffen?

 

Die Frage „Was ist der Mensch?“ wird im Christentum zuallererst durch die Schöpfungserzählungen der Genesis beantwortet. Deren Auslegung wurde durch die Geschichte hindurch jedoch sehr unterschiedlich und teils sogar gegen den Wortlaut der Bibel formuliert. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass in Bezug auf unsere hier zu beantwortenden Fragen der Text – ohne ihm Gewalt anzutun – durchaus auch anders als traditionell üblich ausgelegt werden kann.

Gen 1,26–28: Nicht Binarität, sondern Merismus

Häufig wird in Übersetzungen der hebräische Wortlaut, dass der Mensch „männlich und weiblich“ erschaffen wurde, mit als „Mann und Frau schuf er ihn“ übersetzt. Das würde allerdings bedeuten, dass Gott ausschließlich freie Menschen erschaffen habe, womit man den Versklavten die in 1,27 betonte Ebenbildlichkeit Gottes absprechen konnte. Der hebräische Text verwendet allerdings zwei Adjektive, die ausschließlich die biologische Differenz, wie sie auch im Tierreich besteht, angibt. Da die ganze Erzählung von Gen 1 polar gestaltet ist (Tag – Nacht, Wasser – trockene Erde…), kann man auch bei männlich und weiblich nicht davon ausgehen, dass nur diese Geschlechter erschaffen worden seien und alle anderen Variationen des Sexuellen damit widernatürlich seien, denn dann müsste auch die Dämmerung oder die Lagune widernatürlich sein. Vielmehr sind alle geschaffenen Werke mit der Stilfigur des Merismus zu verstehen, bei dem nur die äußersten Pole genannt, aber alles dazwischen mitgemeint ist. Wenn ausgerechnet hier, wo der Mensch als Abbild geschlechtlich differenziert geschaffen wird, die Gottheit von sich im Plural (!) spricht („Lasst uns Menschen machen, als unser Bild und Abbild“ 1,26), wird auch die Pluralität der geschlechtlichen Differenzierungen und Dispositionen geschaffen. Die Menschheit als Ganze ist beauftragt, als Repräsentant der Gottheit die gesamte Schöpfung im Sinne der Gottheit zu bewahren. Der Herrschaftsauftrag gilt für alle Geschlechter und alle sexuellen Orientierungen. Da Leben aber zugleich Vergänglichkeit bedeutet, würden mit dem Tod die lebendigen Geschöpfe verschwinden. Der Schöpfungsauftrag von Gen 1,28 „Seid fruchtbar und mehrt euch!“, der ähnlich ja auch bei den Tieren bereits vorkommt (1,22), hält also die Schöpfungswerke im Dasein und wird in der Antike durch die äußeren Pole geschlechtlicher Existenz verwirklicht. Wenn wir heute Methoden entwickelt haben, die auch anderen sexuellen Dispositionen Nachkommenschaft ermöglichen, so ist dies ebenso im Rahmen des Mehrungsauftrags zu sehen und nicht
als widernatürlich einzustufen.

 

Gen 2: Die Hilfe, die entspricht

Die Paradieserzählung von Gen 2–3 beginnt in 2,4b mit einer völlig anderen Erzählung über die Schöpfung, was beweist, dass Menschen darum gerungen haben, was denn der Mensch und wie sein Verhältnis zu Gott sei. In Gen 2,7 töpfert die Gottheit JHWH den adam, den Menschen, aus adamah, der Ackererde, geschlechtlich offensichtlich undifferenziert. Dass die Auslegungsgeschichte es so dargestellt hat, dass Gott zuerst den Mann und dann erst die Frau geschaffen habe, steht so nicht im hebräischen Text, ist aber wohl dadurch üblich geworden, weil der Eigenname des ersten Menschen ab Gen 3 Adam ist. Der Mensch, adam, wird zur Arbeit im Gottesgarten erschaffen. Nach dem „sehr gut“, das in 1,31 unter die gesamte Schöpfung geschrieben wurde, beginnt die Erschaffung der Geschlechter in Gen 2,18 mit der Feststellung „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine ist.“ Die Geschlechter werden aus dem adam, dem „Gesamtmenschen“ erschaffen, indem die (eine) Seite (im Hebräischen ist von keiner Rippe die Rede!) von der Gottheit zur Frau ausgebaut wird, die verbliebene (andere) Seite offenkundig dadurch zum Mann wird.

Die Geschlechter werden als Hilfe gegen die Einsamkeit erschaffen, wobei mit Hilfe in der Hebräischen Bibel nicht die Unterordnung im Sinne einer Assistenz die Rede ist, sondern durch den Gebrauch dieses Wortes in der Gottesmetaphorik deutlich wird, dass nicht stark ist, wer Hilfe braucht, sondern wer Hilfe ist (z. B. Ps 124,8). Ziel der Erschaffung der Geschlechter ist es, dass diese ohne jegliche Scham „ein Fleisch werden“ (2,24f.) und einander als ebenbürtig anerkennen (2,23). Sexualität hat in Gen 2 kein primäres Ziel in Nachkommenschaft, sondern im erfüllten gemeinsamen Leben – wozu zweifelsohne auch alle anderen Geschlechter und Menschen aller sexueller Orientierungen fähig sind.

Für beide Schöpfungstexte gehört also die sexuelle Disposition zur conditio humana und beide vertreten ein egalitäres Geschlechterkonzept. Aus beiden ist kein Argument gegen queeres Leben zu erschließen.

 

Hinweise auf diverse Geschlechter im AT

 

Wer das Alte Testament aufmerksam liest, entdeckt aber auch direkte Hinweise auf ein Wissen um mehrere Geschlechter und entdeckt durchaus unterschiedliche Einstellungen zu queeren Menschen.

 

Rechtstexte: präskriptiv – nicht deskriptiv

In Gesellschaften, in denen es zu manchen Zeiten aufgrund von Kriegen, Missernten und medizinischer Unterversorgung nötig war, fünf Kinder zu bekommen, damit ein einziges das Erwachsenenleben erreicht, ist Nachkommenschaft ein stetiges Desiderat, was die Bevorzugung von Heterosexualität erklärbar macht. Das bedeutet freilich nicht, dass es zu biblischen Zeiten keine nicht-binären Menschen gegeben habe. Das Verbot aus Dtn 22,5 „Nicht sei die Ausstattung eines Herrn auf einer Frau und nicht kleide sich ein Herr in das Gewand einer Frau…“ zeigt vielmehr, dass sie auch damals in nennenswerter Zahl sichtbar waren. Präskriptive Rechtstexte beschreiben nicht eine sozial erwünschte Realität, sondern wollen diese erst herstellen.

Ein Rechtstext, der lange Zeit für die Zulassung zur Priesterweihe eine Dispenspflicht nach sich zog, findet sich in Dtn 23,2. In der neuen Einheitsübersetzung liest er sich so: „In die Versammlung des HERRN darf keiner kommen, dessen Hoden zerquetscht sind oder dessen Glied verstümmelt ist.“ Nun verweisen aber weder pz´ noch dk` auf spezifische Testikelverletzungen und schfkh ist kein terminus technicus für Penis. Hier weicht man also auf die lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, aus: eunuchus adtritis vel amputatis testiculis. Interessanterweise vermeidet allerdings die ältere griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, den griechischen (!) Terminus „Eunuch“. Nun finden sich im AT nirgends Hinweise auf eine Praxis der Kastration. Es ist daher viel eher wahrscheinlich, dass es im hebräischen Text von Dtn 23,2 um körperlich Versehrte oder aber um Menschen mit diversen Geschlechtsteilen geht. Menschen mit uneindeutigen/diversen Geschlechtsmerkmalen gelten allerdings im Judentum als männlich, in christlich geprägten Kulturen wurden sie als defizitär und damit als weiblich eingestuft und im letzten Jahrhundert sogar sehr häufig zur weiblichen Eindeutigkeit umoperiert.

 

Ein Widerspruch aus der nachexilischen Prophetie

Dem von Dtn 23 propagierten Ausschluss von Menschen aufgrund ihrer geschlechtlichen Disposition wird im nachexilischen Teil des Jesajabuches nicht nur widersprochen, sondern auch die Zuschreibung der Wertschätzung wird korrigiert. In der neuen Einheitsübersetzung lautet der Text von Jes 56,3–5:

„3 Der Fremde, der sich dem HERRN
angeschlossen hat, soll nicht sagen: / Sicher wird er mich ausschließen aus seinem Volk. Der Eunuch soll nicht sagen: / Sieh, ich bin ein dürrer Baum. 4 Denn so spricht der HERR: Den Eunuchen, die meine Sabbate halten, die wählen, was mir gefällt / und an meinem Bund festhalten, 5 ihnen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Namen. Das ist mehr wert als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich einem jeden, der
nicht ausgetilgt wird.“

Das hebräische Wort saris, das hier mit „Eunuch“ übersetzt wird, wird an anderen Stellen als „(hoher) Beamter“ oder „Höfling“ wiedergegeben (z. B. Potifar in Gen 39) und nur noch in Est 2 als „Eunuch“ am persischen Hof übersetzt. Am israelitischen oder judäischen Königshof ist keine Kastrationspraxis für hohe Ämter nachweisbar. Es ist möglich, dass Menschen des dritten Geschlechts für hohe Hofämter bevorzugt wurden, da sie dynastisch-genealogisch keine Gefahr darstellten. Belegen kann man dies für den Alten Orient jedoch nicht. Jes 55,1–56,8 hebt jedenfalls alle Vorschriften von Dtn 23,2–9 für den Ausschluss aus der Gemeinde auf. Aber der Text gibt den vormals von der Aufnahme Ausgeschlossenen eine völlig andere Wertigkeit: Nicht die intersektionellen Kriterien, nach denen der Status einer Person in der Gesellschaft bestimmt wird, sind entscheidend für die Gottheit, sondern vielmehr deren ethisches und religiöses Verhalten. Wenn das Problem des saris in Jes 56,3 eindeutig die Kinderlosigkeit ist, so wird diese durch Denkmal und Namen, jad waschem, konterkariert, denn diese sind wesentlich mehr wert als leibliche Nachkommenschaft, die Menschen des dritten Geschlechts im Alten Orient verwehrt blieb oder eben nur durch Adoption ermöglicht wurde.

 

Gender-bender: Intertextuelle Aufhebung der Geschlechterdifferenz

 

Als ein für unsere Fragestellung interessantes Phänomen kann auch die queere Darstellung von Erzählfiguren sowie die Überschreitung von Geschlechtergrenzen bei Gottesbildern genannt werden.

 

Transgression des Geschlechts bei Erzählfiguren

Literarhistorisch ist bei alttestamentlichen Texten von einem Wachstum von über einem halben Jahrtausend auszugehen. Die Eingangs besprochene Kanonisierung geschieht allerdings relativ spät erst in persischer Zeit, also frühestens wohl im 5. Jh. v. Chr., Textsammlungen existieren natürlich bereits früher. Die Spätzeit kann sich also bereits auf narrative und poetische, aber auch auf legistische Texte beziehen und legt diese dadurch neu aus. So wird etwa Ester, die als Einzelne am fremden Königshof ihr Volk zu retten versteht, als „neuer Josef“ vorgestellt. Judit, die mit der Enthauptung des Feldherrn Holofernes mit dessen eigenem Schwert das assyrische Heer kopflos macht, wird zum neuen David, der dasselbe mit dem Philisterheer vollbrachte, indem er dessen Vorkämpfer Goliat ebenso mit dessen Schwert tötet und damit Israel vor dem feindlichen Heer rettet. Das Siegeslied der Judit (Jdt 16) präsentiert sie zudem als neuen Mose, wodurch diese unabhängige Frau, die mit einer Frau zusammenlebt, die Helden der Geschichte kumuliert und dadurch die einzelnen noch übertrifft, zumal sie zudem auch geschlechterstereotyp ihre weiblichen Reize als politische Strategie zu nutzen versteht.

Auch der Schluss des Sprüchebuches, der die sprichwörtlich fähige Frau in den Farben der personifizierten Weisheit malt, tut dies mit queeren Elementen. So „gürtet sich“ die fähige Frau, die ihren eigenen Betrieb mit Landwirtschaft und Textilproduktion leitet, in 31,17 wie ein Mann und trägt damit Männerkleidung. Wenn sie sich noch dazu „mit Macht“ gürtet, so tritt sie zudem in der exklusiven Ausstattung der Gottheit (vgl. Ps 93,1) auf und präsentiert sich in 31,21f. in den Gewändern des Hohepriesters und des Allerheiligsten (vgl. Ex 25–40). Die fähige Frau wird damit zur doppelten Transvestitin, indem sie die Geschlechtergrenzen, aber auch jene zwischen Humanem und Transzendenten überschreitet.

 

Transgression des Geschlechts bei Gottesbildern

Von der Gottheit Israels wird – der patriarchalen Pyramide gemäß – grammatikalisch männlich gesprochen, wodurch der Eindruck einer männlichen Gottheit entsteht, die JHWH ursprünglich wohl auch war. Mit der monotheistischen Wende wird dies aber hinterfragt, indem jegliches ikonographische Gottesbild verboten wird, wobei Dtn 4,16 an erster Stelle das männliche Bild offensichtlich als das gefährlichste verbietet. Gleichzeitig weitet sich die metaphorische Bildersprache jedoch ins universalistische, indem nicht nur Tiere (z. B. Adlermutter Dtn 32,11) oder auch Pflanzen (z. B. Wacholder Hos 14,9) als Bildgeber dienen, sondern auch das Geschlecht der Gottheit ins Weibliche wechseln kann. Sowohl in Num 11,12 als auch in den Gottesreden von Jes 42,14 und 66,7–14 wird die Gottheit Israels als Schwangere, Gebärende und Stillende und im typischen Frauenberuf der Hebamme vorgestellt. Solche Metaphern sind nicht nur für Frauen von großer Bedeutung, da sie das Weibliche im Symbolischen verankern, was das Christentum durch die männliche Trias von Vater, Sohn und Heiliger Geist völlig verdrängt, und in Maria nur einen untergeordneten menschlichen Ersatz dafür geboten hat. Solche biblische Bildrede ist auch für Inter*- und Trans*-Personen von eminentem Gewicht, da das Göttliche „in-between“ und „in-both“ gleichzeitig erscheint und damit auch diese geschlechtliche Existenz für die Darstellung des Göttlichen angemessen erklärt.

So lässt sich insgesamt recht eindeutig resümieren: Die Idiolatrie des männlichen Geschlechts und der ausschließlich auf die Zeugung der Nachkommenschaft ausgerichteten Heterosexualität, wie sie in der Katholischen Kirche immer noch betrieben wird, ist biblisch nicht zu rechtfertigen.

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