Die pastorale Relevanz vieler Klöster in den apostolischen Orden und Kongregationen besteht darin, dass ihre Bewohner aktiv Seelsorge betreiben. Sie assistieren in Pfarrgemeinden, sind katechetisch in Besinnungszentren und Bildungshäusern oder in der theologischen oder pastoralen Ausbildung tätig. Für manche Zweige kontemplativer Orden ist das keine selbstverständliche und sicher nicht die einzige Möglichkeit, ihr pastorales Potential für Kirche und Welt zu entfalten. Kontemplative Klöster richten sich in erster Linie nach innen. Sie verwenden weniger Zeit darauf, Menschen zu werben. Vielmehr liegt ihr Schwerpunt darauf, ihr zurückgezogenes Leben so einzurichten, dass Raum für die innere Suche des Einzelnen bleibt (vgl. dazu: Quartier, Das Kloster im Leben).
Für Außenstehende ist das oft schwer nachzuvollziehen. Oft wird dann auch die Frage gestellt, warum in mancher Abteikirche viele Priester bei einer Messfeier anwesend sind, während in den umliegenden Pfarrgemeinden akuter Priestermangel herrscht. Ebenfalls wird gefragt, warum gerade die kontemplativen Klöster, deren Spiritualität heute auf so großes Interesse stößt, nicht aktiver darin sind, ein Programm für Außenstehende anzubieten. Es geht jedoch bei der Kontemplation weder um die Funktionalität der Seelsorge, noch um ihre Effektivität. Wenn sich Leute anschließen, als Gottesdienstbesucher, Hausgäste oder Passanten, sind sie willkommen. Aber das klösterliche Leben misst sich nicht daran ab, wie viele Gäste zugegen sind.
Natürlich ist dieses Bild einseitiger als die Realität in den meisten Abteien. Es ist durchaus üblich, dass Mönche und Nonnen aus kontemplativen Orden sowohl innerhalb der Klostermauern als auch außerhalb pastoral aktiv sind. Dennoch lohnt es sich, die Frage zu stellen, ob nicht der Raum, den Klöster bieten, und die Gottessuche ihrer Bewohner als solche eine pastorale Keimzelle bilden. Der Vater des westlichen Mönchtums, Benedikt von Nursia (480-547), nennt das Kloster in seiner Regel eine „Schule für den Dienst des Herrn“ (RB Prol 45). Der kontemplative Raum, der in dieser Schule entsteht, ist außerhalb des klösterlichen Rahmens heute selten anzutreffen. In Zeiten großer Flexibilisierung ist klösterliche Stabilität für viele eine pastorale Keimzelle.
Den Kern dieser Keimzelle bildet das Gebet, das man gemeinsam verrichtet (Opus Dei). Die Einheit von persönlicher Gebetspraxis und gemeinschaftlichem, liturgischem Gebet ist eine der zentralen Eigenschaften, die die pastorale Relevanz kontemplativer Klöster ausmachen. Können Menschen dort ihre eigene, ganz persönliche Sinnsuche in den klösterlichen Rahmen einfügen? Macht ihr Gebet Teil des liturgischen Gebets im Kloster aus? Die Lebensweise der Mönche und Nonnen schafft einen Freiraum, in dem viele willkommen sind, in den aber niemand hereingezerrt wird. Das Kloster bietet einen Raum für „Gottsucher“ (RB 58,7). Eine Kerngruppe von Bewohnern bildet eine Keimzelle, in der auch die vielen, die sich um sie herum versammeln, willkommen sind.
Wie sieht der Raum für Gottsucher jedoch konkret aus? Welche Erfahrungen machen Mönche und Nonnen mit dem Stundengebet als kontemplativem Lebensmittelpunkt? Und welches Potenzial hat dieser Raum für die vielen Suchenden in Kirche und Gesellschaft? Um uns diesen Fragen zu nähern, betrachten wir im ersten Teil unseres Beitrags drei Dimensionen klösterlicher liturgischer Spiritualität: Form, Gemeinschaft und Sinnsuche (1). Im zweiten Teil richten wir uns auf konkrete Erfahrungen in heutigen Benediktinerabteien, wobei wir auf Befragungen unseres Instituts unter Mönchen zurückgreifen (2). Im dritten Teil führen uns diese Erfahrungen zu möglichen Anknüpfungspunkten für das pastorale Potenzial kontemplativer Klöster, auch in anderen Bereichen der Seelsorge (3).
Liturgische Spiritualität
Nichts prägt den kontemplativen Charakter eines Klosters so wie seine liturgische Spiritualität. Die regelmäßige und ruhige Form der Tagzeitenliturgie spricht viele an. Auch die Tatsache, dass es in einer Gemeinschaft gesungen wird, stellt einen wichtigen Impuls für Gäste dar. Aber geht es wirklich in erster Linie darum, Ordnung ins chaotische Leben zu bringen? Ist die Liturgie in einer Abtei so etwas wie eine Auffrischungskur für gestresste und einsame Zeitgenossen? Die Dimensionen Form und Gemeinschaft gehören wesentlich zum Gebet, sie stehen im Kloster aber immer im Dienste der Sinnsuche, die Benedikt als die „Suche nach Gott“ (RB 58,7) allem anderen voranstellt. Mönche und Nonnen sorgen durch Form und Gemeinschaft dafür, dass die Sinnsuche einen liturgischen Raum bekommt.
Diesen Raum brauchen nicht nur Klosterbewohner. Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil geht der liturgische Auftrag des Stundengebets weiter. Es ist nicht nur eine spirituelle Intensivkur, der man sich hin und wieder unterzieht. Die Konzilsväter rufen dazu auf, dass man „an Sonntagen und höheren Festen zumindest die Haupthoren gemeinsam in der Kirche feiern soll“ (SC 100). Auch wenn mancher sicher den Eindruck bekommt, dass diese Formulierung auf die meisten heutigen Klostergäste nicht mehr zutrifft, wollen wir doch den Versuch unternehmen, die Wirkung klösterlicher Form und Gemeinschaft als Impulse für eine Sinnsuche zu interpretieren, die eine liturgische Spiritualität zutage fördern kann.
Auch in manchen kirchlichen Kontexten gibt es heute keine feste liturgische Form und keine stabile Gemeinschaft mehr. Man kann in der Regel zwischen unterschiedlichen Angeboten wählen, die, abhängig von der Wochenendplanung, unterschiedlich in Anspruch genommen werden. Gemeinschaften sind dadurch individualisiert. Stil und inhaltliche Akzente können ebenfalls stark variieren. Das bietet sicher viele gute Möglichkeiten, aber es beeinflusst die Empfänglichkeit für eine regelmäßige, stabile und vorgegebene Form von Liturgie. Auch kann man die Frage stellen, ob gerade in einer flexiblen kirchlichen Landschaft nicht gerade eine stabile Form und Gemeinschaft, wie man sie im Kloster antrifft, eine Basis für Pastoral bilden kann, die eine eigene Anziehungskraft entfaltet.
Neben der kirchlichen Verschiebung haben wir es nämlich auch mit einer gesellschaftlichen Verschiebung zu tun. Unsere Zeiteinteilung hat sich generell verändert. Wir gestalten die Zeit flexibel und nicht mehr in festen Abläufen. Generell kann man sagen: je engmaschiger die Zyklen, umso weniger werden sie in der heutigen Gesellschaft rituell gestaltet. Wo der Sonntag als Kulturträger gegenwärtig diskutiert wird, ist es längst selbstverständlich, dass flexible Ladenöffnungszeiten einen kollektiven Tagesabschluss überflüssig machen. Da verwundert es nicht, dass gerade die liturgische Form und Gemeinschaft für viele Besucher die Anziehungskraft von Klosterkirchen ausmachen. Diese können ein Kontrapunkt sein, den man nicht nur im Kloster lebt, sondern der auch im weltlichen Leben für eine Balance sorgt, die notwendig ist, um die existenzielle Tiefe im Leben nicht zu verlieren.
Zunächst muss man jedoch die Spiritualität der Klöster besser verstehen, bevor man über eine pastorale Übertragung in andere Lebensbereiche nachdenkt. Hinsichtlich der Form (1) können wir bei Benedikt einerseits eine Akribie erkennen, die in den langen Kapiteln der Verteilung der Psalmen am deutlichsten wird (RB 9-18). Aber der Mönchsvater hat zugleich ein waches Auge für die konkrete Situation, in der sich die monastische Gemeinschaft befindet: „Wenn jemand mit dieser Psalmenverteilung nicht einverstanden ist, stelle er eine andere auf, die er für besser hält. Doch achte er unter allen Umständen darauf, dass jede Woche der ganze Psalter mit den 150 Psalmen gesungen wird […]“ (RB 18,22-24). Form setzt also eine Stabilität voraus, die man flexibel hantiert.
Bezüglich der Gemeinschaft (2) lesen wir bei Benedikt einen Appel zum gemeinschaftlichen Stundengebet, das dem individuellen immer vorzuziehen ist, auch wenn Brüder nicht anwesend sein können: „Wenn Brüder sehr weit entfernt arbeiten, nicht zur rechten Zeit zum Oratorium kommen können und wenn der Abt festgestellt hat, dass es wirklich so ist, dann müssen sie den Gottesdienst an ihrem Arbeitsplatz halten“ (RB 50,1-3). Die Gemeinschaft ist vorzugsweise physisch im Gebetsraum (oratorium) zugegen, in jedem Falle aber ‚im Geiste‘. Ohne diese Anbindung funktioniert liturgische Spiritualität nicht, sie ist also keine Privatsache. Auch das ist ein Kontrapunkt zur heutigen Privatisierung von Spiritualität. Man braucht – mit Anselm Grün gesprochen – Gemeinschaft, darf sie aber auch nicht zum Gefängnis werden lassen.
Was schließlich die Sinnsuche (3) angeht, stellt Benedikt die Gottesbeziehung in den Mittelpunkt. Diese äußert sich jedoch weniger in den einzelnen Texten, die das Gebet füllen, oder theologischen Konzepten, die ihm zugrunde liegen, als vielmehr in der Haltung: „Wir sollen wissen, dass wir nicht erhört werden, wenn wir viele Worte machen, sondern wenn wir in Lauterkeit des Herzens und mit Tränen der Reue beten“ (RB 20,3). Die monastische Gebetshaltung unterscheidet sich von jeglichem Leistungsprinzip. Die rezitierten Texte und die liturgischen Gesten und Handlungen helfen dem Suchenden dabei, empfänglich zu sein. Der Betende kann kurze erhebende Momente erfahren, deren Sinn nur auf Gott zurückzuführen ist, nicht auf das eigene Handeln.
Erfahrungen aus dem Kloster
Um das pastorale Potenzial von klösterlicher Form und Gemeinschaft für eine heutige Sinnsuche zu erfassen, empfiehlt es sich, jene Menschen nach ihren Erfahrungen zu fragen, die im kontemplativen Raum des Klosters leben. Ihr Leben hat offensichtlich eine starke Ausstrahlung für viele. Was ist aber die Innenseite dieser Außenwirkung? Um uns dieser Erfahrung zu nähern, haben wir in unserem Institut für Liturgische und Monastische Studien an der Katholischen Universität Leuven (BE) Interviews mit Mönchen in verschiedenen Benediktinerabteien in Deutschland und den Niederlanden geführt. Was bedeuten die Dimensionen Form, Gemeinschaft und Sinnsuche für diejenigen, die sich Kontemplation zur Lebensaufgabe gemacht haben? Natürlich haben wir diese Frage in der Hoffnung gestellt, dadurch den Raum für Gottsucher auch im pastoralen Sinne erschließen zu können, aber dazu kommen wir im nächsten Abschnitt.
Form
Besucher können in einer Abtei schnell den Eindruck bekommen, es handele sich um eine sehr festgelegte Form des Gottesdienstes und des Lebens. Jeder Tag ist scheinbar gleich aufgebaut. Eine Besucherin fragte einen unserer Interviewpartner bezüglich der liturgischen Gesten: „Ist es nicht möglich, dass Sie sich beim ‚Ehre sei dem Vater…‘ auch einmal nicht verbeugen, wenn Ihnen nicht danach ist?“ Die Antwort des Mönchs war so einfach wie eindrücklich: „Nein, wir fügen uns hier immer in die liturgische Form ein“. Alles ist stilisiert und dadurch formell. Die Frage von Außenstehenden, ob dies nicht zu Formalismus führen könne, verneinen die Mönche aber beinahe ausnahmslos. Ein Bruder sieht die Vorteile einer formellen Liturgie darin, dass man „sich sicher fühlt, da man auf eine objektive Ordnung zurückgreifen kann“.
Natürlich gelingt dies nicht spontan beim ersten Mal, und es fällt auch nicht aus der Luft: „Es bedarf der Regelmäßigkeit und eines Tagesablaufs, in dem das Stundengebet wirklich seinen Platz hat“. Das führt, einem anderen Bruder zufolge, dazu, dass man „sich wirklich frei fühlt und ganz neue Erfahrungen machen kann“. Dadurch kommt eine bemerkenswerte Spannung zum Ausdruck: die Mönche brauchen zwar den formellen Charakter, um Regelmäßigkeit zu gewährleisten. Aber noch wichtiger ist ihnen, dass die Form auch Überraschungen birgt. Gerade weil man durch die Form „manchmal entgegen seiner spontanen Neigungen handelt, wenn man sich überhaupt nicht motiviert fühlt, zum Gebet zu gehen“, entsteht Freiraum. Wenn wir diese Gedanken zusammenfassen, dann sind drei Aspekte der Form von Bedeutung:
– die Form des Stundengebets gibt Sicherheit;
– die Form bedarf der Regelmäßigkeit und der Einbettung;
– die Form beengt nicht, sondern sie schafft Raum für Überraschungen.
Die Begriffe „Struktur und Antistruktur“, die der britische Ritualwissenschaftler Victor Turner geprägt hat, können die kreative Spannung zwischen objektiver Form und subjektiver Erfahrung verdeutlichen. Bedarf es der festen Form, der Regelmäßigkeit und der Einbettung in die Tagesstruktur, um Erfahrungsmomente zu ermöglichen, die eine feste Struktur zugleich wieder übersteigen? Den Mönchen zufolge bietet das Kloster Raum, im formellen Rahmen in eine Art Zwischenposition zwischen dem Vertrauten und dem Unerwarteten einzunehmen. Man öffnet sich unbewusst für das Heilige.
Gemeinschaft
Träger des Stundengebets und des ganzen monastischen Lebens ist, allen Interviewpartnern zufolge, die Gemeinschaft. Das hat eine positive Auswirkung auf das Gebet: „Die Gemeinschaft trägt mich durch das Stundengebet, ohne die Mitbrüder würde ich das niemals durchhalten können“, so ein Bruder. Zugleich gibt es aber auch eine herausfordernde Seite der Gemeinschaft. Keine Irritation ist den Mönchen fremd: „Ich ärgere mich oft darüber, wie Mitbrüder sich im Chor gebärden. Nach einer gewissen Zeit wird mir dann aber klar, dass das mehr über mich sagt als über die Mitbrüder“. Das Gebet bleibt dadurch wach, aber dafür muss man auch immer wieder Hemmschwellen überwinden. Die Gebetsgemeinschaft ist also in zweifacher Hinsicht hilfreich: sie ist eine Stütze, aber auch ein Prüfstein für das Gebet.
Monastisch gesehen, so sagte einer der Brüder, „erweist sich die Qualität des Stundengebets in der Gemeinschaft, nie am Einzelnen. Es geht um die Gesamtheit, nicht um mich“. Außenstehende beobachten dies regelmäßig, so ein Gästebruder: „Sie hören die einzelnen Mönche im Stundengebet nicht singen, sie hören nur die Gemeinschaft. Wenn man doch einzelne heraushört, dann ist unser Gebet aus dem Gleichgewicht und muss das wieder ausgeglichen werden“. Der Gedanke, dass die Gebetsform der Einbettung in das Gemeinschaftsleben bedarf, will sie liturgisch authentisch sein, setzt sich hier fort: „Wenn es Spannungen in der Gemeinschaft gibt, merkt man das in der Liturgie“. Die meisten Mönche in unseren Interviews erfahren Gäste übrigens als Bereicherung: „Sie beziehen die ganze Welt in unser Gebet mit ein“, sagte ein Bruder. Bezüglich der Gemeinschaft fassen wir die Gedanken in folgenden drei Punkten zusammen:
- die Gemeinschaft trägt das Gebet;
- die Gemeinschaft ist Prüfstein des Gebets;
- die Gemeinschaft ist offen.
Ein Gedanke von Dom Prosper Guéranger, dem ersten Abt von Solesmes, ist in diesem Zusammenhang erhellend: „Über tausend Jahre lang hat die Kirche nie alleine gebetet. Siebenmal pro Tag betete sie in ihren Kirchen. […] Das Volk schloss sich ihr an. Seit Jahrhunderten werden die Heiligen Nachtwachen jedoch nicht mehr gehalten und die heiligen Stunden nicht mehr begangen. Das gemeinschaftliche Gebet wich dem persönlichen. Aber es blieb noch etwas übrig: Überall standen noch Kirchen und Klöster, und Tag und Nacht hallte das Gebet früherer Jahrhunderte wider“. Der Visionär der liturgischen Bewegung umschreibt hier die traditionelle Gemeinschaft, die sich im Stundengebet konstituiert, und bezieht die Offenheit mit ein: „Das liturgische Gebet würde sofort seine Kraft verlieren, wenn die Gläubigen es aus den Augen verlieren würden, ohne sich zumindest im Geiste damit zu vereinen“.
Sinnsuche
Durch Form und Gemeinschaft befindet man sich automatisch auf Sinnsuche, so mehrere Interviewpartner: „Es gibt jene Momente, in denen man über sich selbst hinausgehoben wird“. Die Suche ist nicht planbar, sie ereignet sich an einem. Manche sprechen von einer mystischen Dimension des Klosterlebens: „Keine Ekstase, sondern eher ein permanenter mystischer Unterton, der immer mitklingt und manchmal hörbar wird“. Die Bedeutung der liturgischen Texte zu erfassen, seien es die Psalmen, die Lesungen, die Gesänge oder die Gebete, ist sicher nicht immer einfach. Die Erfahrung der Mönche ist jedoch durchweg, dass es um eine assoziative Art der Aufnahme von Bedeutung geht: „Es bleibt ein Wort, ein Satz, ein Bild hängen, das mithilfe der Musik oder einer anderen liturgischen Einbettung bei mir landen kann“.
Im monastischen Leben ist das allerdings nur möglich, wenn eine inhaltliche Empfänglichkeit wachgehalten wird. Dazu dient die geistliche Lesung (Lectio Divina). Man braucht „geistliche Nahrung, um auf Sinnsuche nicht zu verkümmern“. Die Lesung (lectio) mündet in der Klosterspiritualität ins Gebet. Daher gilt auch, dass man sie nicht vernachlässigen darf, wenn man für sinnstiftende, erhebende Momente offen sein will. Interessanterweise setzt also gerade regelmäßige Form und feste Gemeinschaft keinen Automatismus, sondern eine ständige inhaltliche Auseinandersetzung voraus. Dann kommt es zur „Gottesbegegnung, auf die man vorher nicht zu hoffen wagte“. Auch die Aussagen zur Sinnsuche können wir in drei Kernsätzen zusammenfassen:
- die Sinnsuche durchzieht ein mystischer Unterton;
- Sinnsuche erfüllt sich in einigen wenigen erhebenden Momenten;
- Sinnsuche erschließt Gottesbeziehung.
Der niederländische Spiritualitätsprofessor Kees Waaijman erkennt im regelmäßigen gemeinsamen Gebet „eine Prophezeiung, die sich dadurch, dass man sie ausspricht, immer wieder verwirklicht“. Sinnsuche ist also weder schwammig noch willkürlich. Man muss die Quellen, vor allem die Psalmen, immer wieder neu erschließen, will man sie als Gemeinschaft sinnvoll erleben. Sie müssen hörbar, greifbar sein. Eine mystische Bedeutungsdimension des klösterlichen Gebets tut seinem handfesten und konkreten Charakter dann keinen Abbruch, im Gegenteil. Es bleibt eine sehr konkrete Handlung, tagaus tagein. Aber diese geht nie in handlichen Regeln auf. Sie respektiert, dass man sich der Form und der Gemeinschaft unterordnet, um wirklich unabhängig zu werden.
Pastorale Dimensionen
Heutige Pastoral findet in der Regel nicht in einem festgefügten Rahmen statt, weder was ihre Form noch was ihre Gemeinschaft und Bedeutung angeht. Vielmehr ist das Netzwerk der Teilnehmenden oft fragmentiert, partiell und von Polaritäten bestimmt. Einerseits wollen Menschen feste Formen, andererseits suchen sie Kreativität. Einerseits wollen sie sich in eine stabile Gemeinschaft eingliedern, andererseits fällt ihnen ein exklusives Engagement schwer und sie brauchen Freiheit. Einerseits suchen sie nach greifbarer und begreifbarer Bedeutung, andererseits sehnen sie sich nach dem Mysterium, das die Verstandesebene übersteigt. Nach den Eindrücken aus den vorigen Abschnitten können wir sagen, dass diese Polaritäten auch in Klöstern keineswegs unbekannt sind. Die Erfahrungen in der kontemplativen Keimzelle sind darum ein Impuls für die heutige Zeit. Dort wird vorgelebt, was in jeder Gottsuche versucht werden muss. Im folgenden Schema fassen wir die Polaritäten der einzelnen Dimensionen noch einmal zusammen, um sie danach aus pastoraler Perspektive zu betrachten.
Form | Festigkeit | Kreativität |
Gemeinschaft | Stabilität | Flexibilität |
Sinnsuche | Begreifbarkeit | Empfänglichkeit |
Eine Gebetsform (1) zwischen den Polen Festigkeit und Kreativität ist ein erster Impuls für die Pastoral. Sie wird im Kloster erfahren, kann aber durchaus auch in andere Kontexten von Bedeutung sein. Man kann z.B. an Mittagsgebete in Innenstadtkirchen denken. Für die liturgische Konstanz braucht es eine schlanke Form des Stundengebets, worin doch die wesentlichen Zutaten enthalten sind. Diese sollte nicht völlig von der Kreativität der Mitfeiernden abhängen, sondern auch von der Festigkeit des traditionellen Stundengebets Gebrauch machen. Das ist objektiv und bietet dennoch Raum für subjektive Arten der Teilnahme, da viele Teilnehmer nur gelegentlich kommen, vielleicht auch zufällig. Natürlich bedarf es dazu einer Kerngruppe, womit wir bei der zweiten Dimension angekommen sind.
Stabilität und Flexibilität müssen sich in pastoralen Gemeinschaften (2) die Waage halten. Wenn es beim Mittagsgebet in der Innenstadtkirche keine Kerngruppe gibt, wird die Keimzelle oft ebenso schnell verschwinden, wie sie entstanden ist. Wie man aber die Keimzelle gestaltet, kann sehr unterschiedlich sein. Es reichen zuweilen eine Handvoll Leute, die jedoch die Möglichkeit haben müssen, kontinuierlich anwesend zu sein. Wenn ein Seelsorger diese Idee in der Pfarrkirche umsetzen wollte und dabei der Einzige wäre, der immer da ist, wäre keine stabile Grundlage vorhanden. Das pastorale Team, eine Gruppe von Ehrenamtlichen oder auch Klienten, die zu einem Mittagstisch kommen, können zur Kerngruppe gehören, der sich dann selbstredend andere Gemeindemitglieder und auch Passanten anschließen können.
Dann entsteht Sinnsuche (3), bei der liturgische Texte auf begreifliche Art und Weise rezitiert werden. Die Einfachheit mancher Gebetstexte macht es sehr gut möglich, sie zu erfassen. Aber aus dem klösterlichen Fundus wissen wir, dass es sehr wichtig ist, das diskursive Erfassen des Textes nicht zu verabsolutieren. Es geht darum, dass die biblische Botschaft im breiten Sinne zum Ausdruck kommt: die Gegenwart des Mystischen, hier und jetzt im Gebet. Das heißt nicht, dass nur Bibeltexte möglich wären, sondern dass es um eine Sinnsuche geht, die man letztlich nur empfangen, nie planen oder konstruieren kann. Auch kreative Formen der Gestaltung müssen sich daran messen lassen. Dazu bedarf es erneut einer mutigen Strategie: eben nicht den Anspruch zu haben, subjektive Bedeutung besser formulieren zu können, als es in den Psalmen der Fall ist, sondern eine gute Mischung aus eigener, verständlicher Gestaltung und zuweilen assoziativ zugänglicher Tradition zu finden.
Das Problem der Sinnsuche, die einer Form bedarf und die man in Gemeinschaft erfahren will, wird nicht gelöst, wenn man jedes Mal einen anderen liturgischen Kurs einschlägt. Aber immer, wenn man die Kreativität aus einer gewissen Festigkeit heraus entstehen sieht und die Flexibilität aus der Stabilität erwächst, kann man Sinn empfangen. Leider ist in unserer heutigen Pastoral die Praxis der Lectio divina kaum mehr vorhanden. Es ist ein lohnender Ansatz, das Prinzip der offenen, assoziativen Lesung, die für den mystischen Grundton eines Textes empfänglich macht, wieder neu zu pflegen, wie es ja auch in verschiedenen Modellen versucht wird. Die in diesem Beitrag geschilderten pastoralen Fragen aus Sicht der kontemplativen Spiritualität, die monastischen Quellen und die Erfahrungen aus dem Kloster, enthalten keine konkreten pastoralen Strategien. Wohl zeigen sie vielleicht Wege, wie kontemplative Klöster pastoral relevant sein können: für ihre Gäste und Besucher und für die alle, die Klosterspiritualität auch außerhalb der Klostermauern leben. Es wäre zu wünschen, dass um die klösterlichen Keimzellen herum ein Netzwerk entsteht, das Raum für Gottsucher ganz unterschiedlicher Schattierung bietet.