Ich könnte es für Sie und mich kurz und schmerzlos machen und die mir gestellte Frage: „Theozentrischer Humanismus. Impulse von Jacques Maritain – noch heute relevant?“ mit einem schlichten „Nein!“ beantworten. Da ich aber die Moderatorin dieses Panels nicht in Verlegenheit bringen möchte, will ich es nicht dabei belassen und versuchen, in der mir zur Verfügung stehenden halben Stunde eine etwas differenziertere Antwort zu entwickeln.
Wirkungsgeschichtliche Aspekte
Deswegen ist dieses „Nein“ auf die Frage: „Maritain – heute noch relevant?“ bitte auch so zu verstehen, dass wir ihn bzw. seine Texte heutzutage nicht einfach umstandslos 1:1 rezipieren können, sondern immer in dem Kontext seiner Biografie und seiner Zeit anschauen müssen. Das ist natürlich in gewisser Weise banal, das sollte man immer tun. Aber es gibt eben Autorinnen und Autoren, da ist die Einbeziehung des Kontextes ganz besonders wichtig, und dazu gehört für mich ohne Zweifel Maritain. Das ist auch deshalb so, weil Maritain nach meinem Dafürhalten weniger theoriegeschichtlich relevant und interessant ist als vielmehr wirkungsgeschichtlich. Was meine ich damit?
Maritains Denken ist ganz in den Bahnen seiner Zeit verlaufen und dort auch weitestgehend verblieben; und das heißt in seinem Fall: in den Bahnen der Neuscholastik und des Neuthomismus. Wobei Maritains Neuthomismus klar unterschieden werden muss von anderen Spielarten, die dem Thomismus wirklich ein neues theoretisch-konzeptuelles Framing gegeben haben, wie vor allem der Transzendentalthomismus Joseph Maréchals. Maritain ist im Grunde im traditionellen Thomismus geblieben; Herbert Schmidinger hat ihn völlig zu Recht als einen „geradezu wütenden und fanatischen Thomisten“ bezeichnet.
Dieser Maritain begegnet nicht nur in seinen frühen Schriften, etwa in dem Buch Antimoderne von 1922, geschrieben zu einer Zeit, in der er noch der ultranationalistischen und monarchistischen Action française nahestand. Er begegnet auch in seinem Spätwerk Le Paysan de la Garonne, in dem 1966 der inzwischen 84-Jährige sich selbst in die Rolle des wütenden Bauern von der Garonne begab, und aus der Attitüde des schlichten, orthodoxen Glaubens heraus gegen den „Teilhardismus“ wetterte, also gegen das seiner Meinung nach von Teilhard de Chardin in die Welt gesetzte „böse Fieber der Weltverehrung“, das er bei den „neuen Modernisten“ in der Theologie diagnostizierte. „Sie hören kaum das Wort ‚Welt‘ und schon leuchten ihre Augen in ekstatischem Feuer“, schreibt Maritain dort. Und zugleich, so sein Vorwurf, würden sie zentrale Glaubenswahrheiten wie die Auferstehung oder die Erbsünde zu historischen Mythen und damit zu „ätherischen Resten einer babylonischen Bilderwelt“ umdeuten.
Angeblich, so schrieb es der SPIEGEL 1969 unter Berufung auf namentlich nicht genannte Kurienprälaten, habe Papst Paul VI. seinen Eifer für die Reform der Kirche nach der Lektüre von Le Paysan de la Garonne endgültig aufgegeben.
Die Dialektik des anthropozentrischen Humanismus
Trotzdem haben mich die Veranstalter*innen eingeladen, über Maritain zu sprechen. Das hat einen guten Grund. Denn das Thema dieses Symposiums sind der Humanismus und seine Anfechtungen im Post- und Transhumanismus. Und in der Tat hat Jacques Maritain in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ein bedeutsames Konzept eines „christlichen Humanismus“, oder wie er es vorzugsweise genannt hat: eines integralen Humanismus (humanisme intégral) vorgelegt. Anlass war auch für ihn die Infragestellung und zwar die ganz konkrete Infragestellung des Humanismus in den Ideologien und in den Regimen des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus. Den Grund für das Scheitern des Humanismus in diesen totalitären Regimen sah Maritain in dem Versuch der Moderne, einen Humanismus ohne Gott zu entwickeln, einen Humanismus, in dem der Mensch sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt hat. Er sprach in diesem Zusammenhang auch von der „Dialektik des anthropozentrischen Humanismus“.
Was er damit meint, möchte ich Maritain in seinen eigenen Worten sagen lassen: „Der Mensch vergaß, dass Gott es ist, der in der Ordnung des Seins und des Guten die erste Initiative hat und unsere Freiheit belebt […]. Seine Aufwärtsbewegung musste also seitdem getrennt werden von dem Herabkommen der Gnade, weshalb das in Frage stehende Zeitalter ein Zeitalter des Dualismus, der Auflösung, der Entzweiung war, ein humanistisches, von der Menschwerdung getrenntes Zeitalter, in dem der Fortschritt als Kraft einen schicksalhaften Charakter annehmen und selbst zur Zerstörung des Menschlichen beitragen sollte. Kurz gesagt, bestand das Grundübel des anthropozentrischen Humanismus darin, dass er anthropozentrisch war und nicht Humanismus.“
Nun hatte ich ja schon gesagt, dass Maritain ganz dem neuscholastischen Denken verhaftet war. So verwundert es nicht, dass er für den anthropozentrischen Humanismus auch die – aus Sicht der Neuscholastik – üblichen Verdächtigen verantwortlich macht: „den Geist der Renaissance und den Geist der Reformation in erster Linie“. Und dann natürlich die neuzeitliche Philosophie des Rationalismus und Idealismus. Auch dazu ein O-Ton Maritains: Unter der Überschrift „die Tragödie des Menschen“ schreibt er: „Von Seiten des Menschen kann man feststellen, dass der Rationalismus gleich zu Beginn der Neuzeit zuerst mit Descartes, dann mit Rousseau und Kant, ein erhabenes und glänzendes, unzerbrechliches Bild der menschlichen Persönlichkeit entworfen hatte, das eifersüchtig auf seine Immanenz und seine Autonomie bedacht war und letzten Endes seinem Wesen nach auch gut. Gerade im Namen der Rechte und der Autonomie dieser Persönlichkeit hatte die rationalistische Polemik jede von außen kommende Einmischung in dieses vollkommene und geheiligte Universum verdammt […]. In wenig mehr als einem Jahrhundert aber ist diese stolze anthropozentrische Persönlichkeit in Gefahr gekommen und rasch dadurch erschöpft worden, dass sie in die Auflösung ihrer materiellen Elemente mit hineingezogen wurde.“
Diese Auflösung der materiellen Elemente hat sich für Maritain mit zwei entscheidenden Stößen vollzogen. Der erste Stoß – das dürfte jetzt nicht mehr allzu überraschend sein – war seiner Ansicht nach die Darwin‘sche Evolutionstheorie, der zweite Stoß die Freud’sche Psychoanalyse. In diesem Zusammenhang noch ein letztes Zitat: „Nach allen Auflösungen und Dualismen des Zeitalters eines anthropozentrischen Humanismus, das gekennzeichnet ist durch die Trennung und den Gegensatz von Natur und Gnade, von Glauben und Vernunft, von Liebe und Erkenntnis und – im Bereiche des Gemütslebens – von Liebe und Sinnlichkeit, wohnen wir hier einer Zerstreuung, einer endgültigen Zersetzung bei. Dies hindert aber das menschliche Wesen keineswegs, mehr als je zuvor die unumschränkte Herrschaft zu beanspruchen.“ Und genau hierin liegt für Maritain dann natürlich auch die Saat des Totalitarismus.
Diese wenigen Zitate sollten auch hinreichend genug illustrieren, was aus heutiger Sicht problematisch an Maritain ist. Wobei – noch einmal: im Kontext seiner Zeit betrachtet, ist das natürlich anders zu bewerten. Dieser kulturpessimistische Blick auf das neuzeitliche Denken, der findet sich in dieser Zeit ja auch bei anderen Autor*innen aus ganz anderen Richtungen. Die „Dialektik des Humanismus“ bei Maritain hat nicht nur von der Begrifflichkeit her Ähnlichkeit mit der „Dialektik der Aufklärung“. Wenn es bei Adorno und Horkheimer heißt: „Seit je hat Aufklärung […] das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ – dann ist das in wesentlichen Aspekten nicht so weit entfernt von der Zeitdiagnose Maritains.
Aber auch wenn die Diagnose ähnlich sein mag, ist die Therapie bei Maritain freilich eine gänzlich andere. Und zwar stellt er dem zuvor dekonstruierten „anthropozentrischen Humanismus“ sein eigenes Konzept entgegen: „Humanismus, aber theozentrischer Humanismus, der dort verwurzelt ist, wo der Mensch seine Wurzeln hat, integraler Humanismus, Humanismus der Menschwerdung“. Er spricht auch von einem „wahrhaft christlichen Humanismus“, der anerkennt, „dass Gott der Mittelpunkt des Menschen ist. Er schließt die christliche Auffassung vom sündigen und erlösten Menschen ebenso ein wie die christliche Auffassung von Gnade und Freiheit.“ Es wird also sozusagen alles wieder reintegriert in den Humanismus, was von der neuzeitlichen Philosophie ausgeschlossen worden ist, insbesondere eben die nach Maritains Überzeugung impliziten
christlichen und theologischen Voraussetzungen.
Wohl aber – und das ist nun ganz zentral für die Würdigung seines Werks – überschreitet Maritain die Grenzen der engen und bisweilen engstirnigen Neuscholastik, indem er versucht sein Konzept Pluralismus-konform auszugestalten. Auch das ist eine Reaktion auf die Erfahrung der totalitären Ideologien. Naturrechtliche Sozialphilosophien haben zwei zentrale Voraussetzungen, ohne die sie gar nicht funktionieren: Sie gehen von einer Einheit des Gemeinwesens und von einer stabilen sozialen Ordnung aus. Beides löst sich in den totalitären Regimen auf. Die gesellschaftliche Einheit wird im Totalitarismus entstellt zu einer unmenschlichen Uniformität, die alle Vielfalt erstickt. Die soziale Ordnung wird aufgelöst zugunsten der Idee einer permanenten Revolution. Diese schockierende Erfahrung bewegt Maritain nun dazu, nicht mehr, wie die traditionelle thomistische Neuscholastik, das Gemeinwohl zum zentralen Prinzip seiner Sozialphilosophie zu machen, sondern die Personalität des Menschen als Kernstück des integralen Humanismus.
Er spricht in diesem Zusammenhang auch von dem Ideal eines „neuen Christentums“: „Wir sind der Meinung, dass das historische Ideal eines neuen Christentums, einer neuen zeitlichen Lebensordnung christlicher Art, gerade durch ihre Gründung auf die gleichen Grundsätze (jedoch in analoger Anwendung) wie die des mittelalterlichen Christentums eine profane christliche und nicht sakrale christliche Auffassung vom Zeitlichen bedeuten würde. […] Es würde dies nicht mehr die Idee des Heiligen Römischen Reiches sein, die Gott über alle Dinge herrschen lässt, – es wäre vielmehr die Idee der heiligen Freiheit der Kreatur, nach der die Gnade mit Gott eint.“
Damit nimmt Martain zwei wesentliche Modifikationen an der überkommenen neuscholastischen Sozialphilosophie vor: Erstens vollzieht er einen Shift vom Gemeinwohl- zum Personalprinzip. Zweitens trennt er klar zwischen überzeitlicher und zeitlicher Ordnung, was auch die Anerkennung einer Autonomie des Zeitlichen impliziert. Beides hat weitreichende Konsequenzen, sowohl ekklesiologisch als auch politisch. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Die Brücke in die freiheitliche Moderne
Trotzdem bleibe ich bei meiner Ausgangsthese: Theoretisch ist dieses Humanismus-Konzept letztlich unbefriedigend, weil eine wirkliche und differenzierte Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Freiheits- und Autonomiedenken gar nicht stattfindet. Diese Auseinandersetzung wollte Maritain aber auch gar nicht, sondern er hat seinen Humanismus ausdrücklich von dem behaupteten Gegensatz zwischen Theozentrik und Anthropozentrik her entworfen. Und das ist eine Position, die damals schon orthodox war, die heutzutage aber für die theologische Ethik schlicht obsolet ist.
Aber gerade dieser Malus in der Theoriegeschichte, dass Maritain eben ein Gralshüter der Orthodoxie war, das war die entscheidende Voraussetzung dafür, dass er in der Wirkungsgeschichte so eminent bedeutsam werden konnte. Denn was in theoretischer Perspektive eine Inkonsistenz war, zeitigte in praktischer Hinsicht einen geradezu fulminante Erfolg, weil Maritain mit seinem Werk für den im Antimodernismus und Antiliberalismus feststeckenden Katholizismus eine gangbare Brücke in die freiheitliche Moderne baute – und zwar gangbar nicht nur für linke, für liberale Katholik*innen – die hatten mit der Moderne ohnehin nicht das Problem – sondern auch für konservative, für Kulturkampf-Katholiken.
Das müssen wir uns ja in Erinnerung rufen: Die katholische Kirche war im 19. Jahrhundert gegen den Liberalismus, gegen die Demokratie und gegen die Idee der Menschenrechte. Das hatte mit der Französischen Revolution zu tun und damit, dass die Deklaration der Menschenrechte in Europa in diesem Kontext erfolgte. Das hatte auch damit zu tun, dass die Liberalen und die Demokraten im 19. Jahrhundert meistens antiklerikal waren. Aber diese Konflikte waren in erster Linie machtpolitischer und nicht etwa kultureller Natur. Und genau das hat Maritain auf auch für konservative Katholik*innen sehr verträgliche Weise verdeutlicht, weil er eben Freiheitsordnung, Demokratie und Menschenrechte aus dem Horizont des Christentums heraus rekonstruiert und begründet hat. Theoretisch ist das ziemlich verquer, wenn er sagt: Freiheit ja, aber ich vertrete kein „liberales Freiheitskonzept“, sondern ein „christliches, gemeinwohlorientiertes Freiheitsverständnis“. Ich bin für die Demokratie, aber nicht für die „relativistische Demokratie“, sondern für eine „christliche Demokratie“. Ich bin für die Menschenrechte, lehne aber den „menschenrechtlichen Rechtspositivismus“ ab und vertrete „naturrechtlich begründete“ Menschenrechte.
Dieses ganze Konzept von Maritain läuft in dem Gedanken zusammen, dass der integrale Humanismus eben nicht in einem „liberalen Individualismus“, sondern in einem „christlichen Personalismus“ gründet. Das sind aber letztlich alles so auf die Spitze getriebene Gegensätze, wo der vermeintliche Gegner zu einem karikaturesk überzeichneten Popanz aufgebaut wird, um dann mit einem dialektischen Taschenspielertrick zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen: zum integralen Humanismus, zum Personalismus – aus dem dann, wie aus einem Taufbecken, die ganzen für den seinerzeitigen Katholizismus so unverträglichen modernistischen Werte wie Freiheit und Menschenrechte, Individualismus und Pluralismus von ihrer Ursünde gereinigt wieder aufsteigen.
Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr schwirrt einem der Kopf von diesen Hakenschlägen. Aber geschenkt: Der wirkungsgeschichtliche Impact von diesem Konzept Maritains war fulminant. Große Teile der katholischen Eliten in Kirche und Gesellschaft sind in der Nachkriegszeit durch seine Texte und Gedanken beeinflusst worden. Das hatte auch damit zu tun, dass er nicht nur ein Intellektueller war, sondern an entscheidenden Stellen auch mittelbar eine politische Rolle spielte.
Kirchlich ist hier seine besondere Verbindung zu Giovanni Montini, Papst Paul VI., zu nennen. Die beiden kannten sich seit Mitte der Zwanziger Jahre. Montini hatte die italienische Übersetzung von Maritains Buche Trois Réformateurs angefertigt und ein Vorwort zu Humanisme intégral geschrieben. Von 1945 bis 1948 war Maritain französischer Botschafter am Heiligen Stuhl und traf sich fast jede Woche mit Montini zum philosophischen Tête-à-Tête. Über diese Verbindung wird Maritains Denken ein maßgeblicher Einfluss auf das Zweite Vatikanische Konzil zugeschrieben, namentlich auf die Pastoralkonstitution und die Erklärung zur Religionsfreiheit.
Maritains politischer Einfluss
Politisch bedeutsam ist, dass Maritain die Leitung der französischen Delegation bei einem UNESCO-Projekt innehatte, das die Vorbereitungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begleitete. Wobei mir bei meinen Recherchen nicht klar geworden ist, wie groß sein Einfluss auf die letztlich beschlossene Menschenrechtserklärung war. Ich habe insbesondere nichts gefunden über die Verbindung und einen Austausch von Maritain und René Cassin, der als französischer UN-Botschafter ganz maßgeblich den Text der Menschenrechtserklärung verfasst hatte. Es ist aber natürlich sehr wahrscheinlich, dass die beiden sich als Kollegen im diplomatischen Dienst gekannt und in irgendeiner Weise ausgetauscht haben über dieses große Vorhaben, an dem sie beide an verschiedenen Stellen beteiligt waren.
Der größte mittelbare politische Einfluss, den Maritain ausgeübt hat, ist aber wohl, dass der christliche Personalismus, dessen wichtigster Vertreter er seinerzeit gewesen ist, der ideengeschichtliche Taufpate für die Christdemokratie gewesen ist, nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika. Es hatte zuvor von Prälaten geführte katholische Parteien gegeben, die im Zweifel immer als eine Interessenpartei der Kirche agiert haben. In Deutschland denken wir in diesem Zusammenhang natürlich an das Reichskonkordat und die Zustimmung der Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz 1933.
Einen solchen politischen Opportunismus hat Maritain scharf abgelehnt. Für ihn war klar: Mit einem menschenverachtenden Regime darf man keine faulen Kompromisse eingehen, nur um den Hals der Kirche zu retten. Das ist eine Haltung, die bei ihm sehr klar nachvollzogen werden kann mit Blick auf den spanischen Bürgerkrieg. Der wurde in Frankreich mit großem Interesse und großer Anteilnahme verfolgt – auch weil die politische Spaltung zwischen einer starken antiklerikalen Linken und einer nationalistischen Rechten in Frankreich ähnlich war und manche die Befürchtung hatten, auch Frankreich könne in einen solchen blutigen Bürgerkrieg abgleiten.
Und die konservativen französischen Katholik*innen standen selbstverständlich auf der Seite der Putschisten um General Franco. Man hatte mit Entsetzen von den Folterungen und Morden an Priestern und von Vergewaltigungen von Nonnen durch die Anarchisten in Barcelona gehört. Auch republikanische Milizen brandschatzten und mordeten immer wieder in Klöstern und Kirchen. Die spanischen Bischöfe nannten Francos Putsch gegen die Volksfront-Regierung deshalb einen Kreuzzug. Das war auch die Position vieler französischer Katholiken, anfänglich auch die von Maritain. Aber das hat er sehr schnell korrigiert, als er gesehen hat, welche Verbrechen auch die Nationalisten begangen; bereits im Sommer 1936 das Massaker franquistischer Truppen in Badajoz oder die Bombardierung von Wohngebieten in Madrid im November 1936. Dagegen protestierte Maritain gemeinsam mit anderen Intellektuellen öffentlich. Genauso wie gegen die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch die deutsche Luftwaffe am 26. April 1937.
Diese öffentlichen Stellungnahmen waren Gegenstand erheblicher Auseinandersetzungen unter französischen Katholik*innen, von denen viele eben der Überzeugung waren, dass, wenn die Republikaner den Bürgerkrieg gewinnen würden, dies das Ende der Kirche in Spanien bedeuten würde. Das war keine unrealistische Perspektive. Aber trotzdem haben Maritain und seine Freunde dieser Position entschieden widersprochen und gesagt: Wenn es um das Leben unschuldiger Zivilist*innen geht, dann dürfen wir als Christ*innen nicht aus Opportunismus die Augen vor dem Bösen verschließen. So wie Henry Kissinger angeblich mal über einen südamerikanischen Diktator gesagt haben soll: „Der Mann ist ein Schwein. Aber er ist unser Schwein.“ Das war nicht Maritains Haltung, und das ist die Geradlinigkeit seines Humanismus, für die er meine bewundernde Anerkennung hat.
Damit möchte ich zum Abschluss noch einmal zu der mir gestellten Ausgangsfrage zurückkommen: Gibt es Impulse, die wir heute noch von Maritains Entwurf eines christlichen, integralen Humanismus aufnehmen können. Dazu vielleicht zwei Punkte. Das eine ist, dass Maritain in seinen Schriften versucht, die Dialektik des Humanismus und dessen implizite christliche Voraussetzungen offenzulegen. Bloß weil wir die Art und Weise, in der er das tut, aus heutiger Sicht für etwas unterkomplex halten, ist die Frage damit ja nicht obsolet. Ich erinnere nur an die Friedenspreisrede von Jürgen Habermas, in der er vor nunmehr 20 Jahren auf die „unabgeschlossene Dialektik des […] abendländischen Säkularisierungsprozesses“ hingewiesen hat.
Nach meinem Dafürhalten hat sich Hans Joas in seinem Buch Die Sakralität der Person dieser Herausforderung auf sehr überzeugende Weise angenähert, indem er versucht in seiner affirmativen Genealogie – also in einer methodischen Verschränkung von Erzählung und Begründung – auch die komplexe Beziehung von christlicher Theologie und Menschrechtsidee nachzuzeichnen. Das ist meines Erachtens eine lohnenswerte Spur, um Maritains konzeptuelles Anliegen heute noch einmal aufzugreifen.
Der zweite Impuls, den man von Maritain aufnehmen kann, liegt meines Erachtens in seinem Bemühen, das Christentum und insbesondere den Katholizismus mit der Moderne, mit Demokratie, Menschenrechten, Pluralismus und ich würde auch sagen: dem Liberalismus zu versöhnen. Für mich ist auch der Humanismus, der Personalismus Maritains, eine Spielart des Liberalismus, meinethalben eines konservativen Liberalismus oder auch eines christlichen Liberalismus. Nicht alle Liberalen waren oder sind Anarcho-Liberale.
Diese Herausforderung, der sich Maritain gestellt hat und die er für seine Zeit so grandios gemeistert hat, die stellt sich für uns ja durchaus heute wieder. Auch heute haben wir wieder starke Tendenzen, Christentum und Katholizismus mit illiberalen politischen Positionen zu verbinden bzw. als Gegengewicht zum Liberalismus zu inszenieren. Das haben wir hier in Europa, am augenfälligsten in Ungarn und in Polen. Das haben wir auch in den USA. Von Russland und dem Teufelspakt zwischen Präsident Putin und Patriarch Kyrill ganz zu schweigen.
Nehmen wir als Beispiel Viktor Orbán. Der hat nach seiner Wiederwahl zum Ministerpräsidenten im Mai 2018 vor dem ungarischen Parlament erklärt, er wolle „die schiffbrüchige alte liberale Demokratie durch eine christliche Demokratie des 21. Jahrhunderts“ ersetzen. Das war nicht einfach so dahingesagt, sondern das war eine programmatische Aussage, auf die er seitdem immer wieder zurückkommt. Und das fällt unter manchen nach rechts kippenden Katholik*innen und Christ*innen durchaus auf fruchtbaren Boden, die Orban spätestens seit dem Flüchtlingszuzug 2015 zum Retter des Abendlandes stilisieren. Diese Sicht mag in Deutschland vielleicht nur als abseitige Meinung in den Schmuddelecken des Internets zirkulieren. In anderen Ländern aber bekennen sich selbst katholische Intellektuelle zu solchen Positionen. Ich nenne nur als prominentes Beispiel den zum Katholizismus konvertierten Verfassungsrechtler und Harvard-Professor Adrian Vermeule als einen Exponenten der „postliberal right“ in den USA.
Angesichts solcher rückwärtsgewandten Tendenzen wäre es in der Tat wohl gut, sich wieder öfters an Maritain zu erinnern und an seine Mahnung, dass das sozialethische Herzstück des Christentums nicht irgendeine verquaste Idee eines christlichen Staates ist, sondern der Humanismus, das heißt: der Mensch mit seiner unveräußerlichen personalen Würde, die es stets zuallererst zu verteidigen gilt.