Wir haben die Macht

Über Macht, Machtmissbrauch und Widerstand

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Den Themen Macht, Machtmissbrauch und Widerstand nähert sich der Vortrag in zehn Schritten.

I. Können Unmächtige mit legalen Mitteln einem Machtmissbrauch abhelfen?

Antwort: Im Prinzip ja – nie war das leichter als bei uns heute –, aber sie tun es viel zu selten. Auf dieses Problem kam ich durch einen Fall in meiner eigenen Szene, in einer angesehenen Schriftstellerinstitution, deren Mitglied ich bin. Dort wurde sozusagen über Nacht ein unsinniges Dichterlesungsverbot eingeführt. Außenstehenden ist die Bedeutung der Details kaum vermittelbar, doch im Kern geht es um die Frage, ob Schriftsteller formale Befehle oder Verbote befolgen müssen. Ich bin überzeugt, dass nicht: Die Hierarchiefreiheit ist ja gerade der Witz der Schönen Literatur, und darin besteht auch ihre gesellschaftliche Funktion: zu einer Welt der kollektiven Strukturen, Abhängigkeiten und Tabus eine freie Deutung des Lebens beizutragen. Diese Deutung ist weder richtiger noch wichtiger als andere Deutungen, bildet aber ein Gegengewicht, gewissermaßen als Anwältin der Seele. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist die Seele vielleicht nur die kleinste humane Einheit, doch ihr entspringen wesentliche Antriebe: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Vertrauen, Liebe, Schönheit, Sinn; und idealerweise nach einer Wahrhaftigkeit, die nicht von Machtinteressen bestimmt wird. Deswegen wirkt die Seele in die Gesellschaft zurück, und deswegen wird die Literatur, ihre Anwältin, sogar vom Grundgesetz ausdrücklich vor Machteingriffen geschützt: Artikel 5 Absatz 3, Die Kunst ist frei. Das muss innerhalb von Institutionen ebenso gelten wie außerhalb.

Meine Kollegen hätten also das Dichterlesungsverbot leicht zurückweisen können. Wir waren in dieser ehrenamtlichen Institution ja keine Angestellten, sondern unkündbar auf Lebenszeit ernannt, und wir selbst hatten die Funktionäre aus unserem Kreis zu Sprechern gewählt, nicht zu Chefs. Wir hätten ihnen einfach sagen können: „Das muss ein Irrtum sein“ oder, nachdrücklicher: „Sorry, aber diesen Unfug machen wir nicht mit.“ Doch zu meinem Erstaunen wurde das Verbot akzeptiert. Einige Kollegen missbilligten es zwar, meinten aber, machtlos zu sein. Andere verteidigten es aggressiv. Meine Gesprächsversuche scheiterten: Je sorgfältiger und logischer ich argumentierte (ich gab mir wirklich Mühe), desto mehr Peinlichkeit, Unwillen und sogar Wut erzeugte ich und desto fanatischer unterwarf man sich dem Verbot. Obwohl nach Protesten formal abgeschwächt, wurde es zwölf Jahre lang befolgt.

Das hat mich aufgewühlt, aus zwei Gründen. Erstens dachte ich: Seit tausenden Jahren ist bekannt, dass Macht das Verhalten und die Persönlichkeit der Menschen zum Unguten verändert. Ebenso lange ringt die Menschheit um Lösungen. Jetzt haben wir, nach fürchterlichen Katastrophen und Opfern, eine liberale Gesellschaftsordnung, die den Unmächtigen erlaubt, Mächtige zu kontrollieren. Aber sie tun es nicht. Sie trauen sich einfach nicht. Offenbar liegt die Wurzel des Problems (derzeit, bei uns) weniger bei den Mächtigen als bei den Unmächtigen. Zweitens wühlte mich auf, dass die Lösung so einfach schien. Kein Schaden drohte. Aber eine hermetische Magie schien alle Vernunft außer Kraft zu setzen. Mit hermetisch meine ich unzugänglich: Verdeckte Gewalt wurde mit großer Selbstverständlichkeit ausgeübt und hingenommen, indem man einfach nicht darüber sprach. So bildete sich ein Mikroklima, in dem die Normverletzung zur geheimen Norm wurde. Wer wagte, den Missbrauch anzusprechen, wurde selbst als Normverletzer behandelt. Das Phänomen schien so allgemein und überpersönlich zu sein, dass ich es untersuchen wollte; denn seine Bedeutung ging weit über unsere Akademie hinaus.

II. Wie untersucht man so etwas?

Antwort: Indem man genau hinschaut. Ich nahm mir drei Fälle von Machtmissbrauch und Widerstand aus unserer jüngeren Vergangenheit vor. Sie spielen in unterschiedlichen Milieus, sind kurz und übersichtlich und sehr gut dokumentiert – das ist wichtig, denn in den Dokumenten liegt der Schlüssel. Das Ergebnis der Forschung war mein Essay Der Elefant im Zimmer, der 2020 im Penguin Verlag erschien. Der titelgebende Elefant ist eine Metapher für den Machtmissbrauch, über den man nicht spricht, obwohl er das Zimmer beherrscht. Warum ist es so schwer, ihn sichtbar zu machen? Theoretisch weiß jeder, wie ein Elefant aussieht, und jeder erkennt Elefanten in anderen Zimmern. Wenn man Leute allgemein auf Zimmerelefanten anspricht, sagen sie: „Na klar, wissen wir doch längst!“ und schütteln Beispiele aus dem Ärmel, in denen solche Elefanten enorme Schäden angerichtet haben.

Wenn man aber sagt: „In unserem Zimmer …“, antworten sie: „Welcher Elefant?“ Und wer auf den Rüssel hinweist, den Fuß, das Ohr, erntet einen Sturm der Entrüstung. „Du willst uns wohl beleidigen / für dumm verkaufen / verleumden? Wer glaubst du, dass du bist? – Unverschämtheit“ – Er oder sie wird niedergebrüllt. Einzelne verständige Leute flüstern vielleicht: „Psst, ja, ich sehe ihn auch, aber gegen die Mehrheitsmeinung kommen wir nicht an.“ Auf dem Höhepunkt der Krise wird jemand schreien: „Das ist kein Elefant, der war immer schon da!“, und hier kippt das Ganze ins Kabarett. Die Elefantenblindheit im eigenen Zimmer greift so konsequent, als wäre sie in unseren Genen verankert; das zeigen alle Fälle, die ich erlebt und von denen ich gehört habe. In meinem Essay untersuche ich wie gesagt drei Geschichten. Eine spielt im katholischen Klerus, eine in der Politik, eine in der Kultur. Ich beginne jeweils an dem Punkt, an dem jemand auf den Elefanten hinwies. Dann beschreibe ich den folgenden Tumult.

Der Tumult bestand darin, dass ein paar kritische Leute sich nicht einschüchtern ließen, während die Mehrzahl von Mächtigen und Zeugen mit allen Mitteln versuchte, den Elefanten für nicht vorhanden zu erklären. Es war ein Ringen um Deutung, also ein Sprachkrimi. Da er mit Worten, nicht mit physischer Gewalt ausgetragen wurde, hinterließ er spannende Schriftwechsel. Deswegen fühlte ich mich als Schriftstellerin zuständig: Diese Dokumente speichern die volle Energie des Konflikts und halten gleichzeitig still, so dass man sie ohne Hast betrachten kann. Meine These war immer, dass die Sprache mehr weiß als der Mensch. Und tatsächlich weist die Sprache der Verleugner in allen meinen Fällen so typische Verleugnungssignale auf, dass man von der Rhetorik auf die Wirklichkeit schließen kann, ohne weitere Fakten zu kennen. Im Folgenden drei Beispiele aus meinem ersten Fall.

III. Eine reale Geschichte

Ihr Protagonist war der österreichische katholische Kardinal Groër, der jahrzehntelang ungehindert Knaben, Novizen und junge Mönche sexuell missbraucht hatte. Erst 1995 – der Kardinal war inzwischen 76 Jahre alt – beschuldigte ihn ein ehemaliges Opfer in einem Zeitungsinterview. Die erste offizielle Stellungnahme der Kirche lautete, stark gekürzt, so: „Wo sind wir hingekommen? […] Auf das Entschiedenste muß ein sogenannter ‚Enthüllungsjournalismus‘ zurückgewiesen werden, der den Angeschuldigten wehrlos entehrenden Verdächtigungen ausliefert.“

Das ist wie gesagt nur ein Auszug, aber die ganze Verlautbarung folgt diesem Muster: Die Kirchensprecher, zwei Weihbischöfe, tun so, als beschuldigten sie die Zeitschrift und verteidigten den Kardinal. Doch wer genau liest merkt, dass sie weder das eine, noch das andere tun. Sie verurteilen nur allgemein einen „sogenannten Enthüllungsjournalismus“ mit der Begründung, der Angeschuldigte könne sich gegen „entehrende Verdächtigungen“ nicht wehren; was nicht mal stimmt, denn der Angeschuldigte kann sich wehren, substanzlose Vorwürfe wären Verleumdung und somit strafbar. Das Publikum soll denken, es gehe in dem Satz um die Zeitschrift profil und um den Kardinal, doch die Autoren halten sich komplett raus. Die scheinbar hohe Temperatur des Textes – der autoritäre Stil, der Gestus der Empörung, die Drohgebärden – soll die Gehirne benebeln. Nur wer keine Argumente hat, gebraucht diese Technik, die ich „Wutbrief“ nenne. Wutbriefe sind Bluff. Schon nach der Lektüre nur dieser Stellungnahme hätte man wissen können, dass die Vorwürfe zutrafen und der Kardinal von
den Klerikern gedeckt wurde.

Wutbriefe haben oft Erfolg, weil ein emotionalisiertes Publikum nicht auf den Wortlaut achtet. Auch hier wäre es fast so gekommen: Beim nächsten Gottesdienst im St. Stefansdom wurde Kardinal Groër mit minutenlangem Applaus empfangen. Doch danach meldeten sich immer mehr ehemalige Schüler, Novizen und Priester, die selbst von Groër missbraucht worden waren oder vom Missbrauch wussten. Und es ist zum Staunen, wie akrobatisch die Kirchenvertreter jederzeit an der Linie des aktuellen Ermittlungsstandes entlangfabulierten: drohend und herablassend, solange sie glaubten sich das leisten zu können, schmeichelnd und wehleidig, wenn es eng wurde. Was die Bischöfe vereinte, war die Furcht vor Aufklärung, da sie mutmaßlich seit langem vom Missbrauch gewusst und ihn geduldet hatten. Nur ihre Taktiken unterschieden sich. Einer von ihnen, der rechtspopulistische Bischof Krenn, verdrehte geradezu aberwitzig die Tatsachen, indem er sagte: „Viele Menschen erliegen längst übelsten Vorurteilen und haben Kardinal Groër abgeurteilt. Ihm werden heute die elementarsten Menschenrechte verweigert.“

Wirklich alles daran ist falsch: Wer soliden Informationen glaubt, „erliegt“ keinen „Vorurteilen“ und hat noch längst nicht „abgeurteilt“. Und eine Beschuldigung bedeutet keine Verweigerung von Menschenrechten, solange der Beschuldigte Gelegenheit hat, sich zu verteidigen. Auch Bischof Krenn verdeckt einen Mangel an Argumenten durch Aggressivität. Nebenbei: Superlative – wie „übelste“ Vorurteile und „elementarste“ Menschenrechte – sind immer verdächtig, denn sie entspringen entweder der Dummheit oder der Lüge. Auch Krenn wird von seiner Sprache entlarvt. Da aber Menschen angesichts von Machtdemonstrationen dazu neigen, sich von ihrer Vernunft zu verabschieden, hatte er seine Fans. Dass hemmungslose Lügner halbe Völker fanatisieren können, haben soeben wieder Donald Trump und Wladimir Putin bewiesen.

Wusste Krenn, dass er log? Wussten die Bischöfe, dass sie täuschten? Wusste Groër, dass er schuldig war? Das ist eine überaus spannende psychologische Frage. Ein Höhepunkt der Affäre war, dass nach einer abenteuerlichen kirchenpolitischen Wendung ein jüngerer Benediktinermönch wagte, in einem persönlichen Gespräch den Sünder mit seinen Taten zu konfrontieren. Da dieser Mönch vor Jahren selbst von Groër missbraucht worden war, gab es nichts abzustreiten. Groër antwortete geistesgegenwärtig: Er habe nie „Begierde“ verspürt, daher seien seine Übergriffe „moralisch ein Nichts“. Seine Manipulation von Knabenpenissen unter der Dusche gab er als Reinlichkeitserziehung aus.

Groër deutete sozusagen eine schmutzige Handlung in ihr Gegenteil um: Solchen paradoxen Rationalisierungen begegnen wir in allen unseren Fällen. Es scheint, als suchten die Täter, ob bewusst oder unbewusst, den größtmöglichen Abstand zum Kern ihres Vergehens, was darauf hindeutet, dass sie ihre Schuld auf eine hysterische Weise ahnen. Aber zu klaren Geständnissen sind sie nicht in der Lage. Das Gewissen von Betrügern scheint hochempfindlich zu sein, suggestiv und autosuggestiv zwischen Anspruch und Angst, Dominanz und Feigheit schwirrend. Man kann es nicht packen, doch es verrät sich unentwegt.

IV. Wenn nun die Täter sich unentwegt verraten – warum merkt es keiner?

Nochmal zugespitzt: Verlautbarungen wie jene der Weihbischöfe („Wo sind wir hingekommen?“) und von Bischof Krenn („übelste Vorurteile“, „elementarste Menschenrechte“) sind maximal selbstentlarvend. Sie bieten sozusagen freien Blick direkt in den Maschinenraum. Doch die absolute Mehrheit der Betrachter schaut nicht hin. Warum? Offenbar stresst eine Machtmissbrauchssituation das Selbstverständnis nicht nur der Opfer, sondern auch der Zeugen über die Maße. Der Impuls, gegen Autoritäten aufzubegehren, scheint so starke Ängste auszulösen, dass die Betroffenen nicht mal auskunftsfähig sind. Thesen gibt es zwar zuhauf. Eine Auswahl:

1. Tiefenpsychologischer Ansatz: Von Mama und Papa hängt das eigene Überleben ab, seien sie gut oder böse.

2. Soziobiologischer Ansatz: Ohne Gruppenbindung überlebt man nicht.

3. Philosophischer Ansatz: Der nichtige, vergängliche Mensch sucht Selbstvergewisserung in der Identifikation mit Macht. Wankt die Macht, wankt auch er.

4. Pragmatischer Ansatz: In Konfliktsituationen zieht der Mensch die Sicherheit der Freiheit vor.

All das ist plausibel. Solche Impulse sind weder falsch noch schlecht; wir sind so. Da sie aber unser rationales Selbstbild in Frage stellen, neigen wir dazu sie zu unterdrücken, und je mehr wir sie unterdrücken, desto kraftvoller wirken sie im Untergrund. In Stresssituationen überwältigen sie das Bewusstsein mühelos. Dann vergisst man, dass Mächtige nur Funktionsträger sind, die der Korrektur bedürfen, und gerät in eine metaphysische Woge, in der man sich nur noch nach oben orientiert, um nicht verschluckt zu werden. Wer andere Lösungen vorschlägt, wird beiseitegestoßen, als bedeute Besinnung Lebensgefahr. Mit metaphysisch meine ich, dass noch bis in die Agonie hinein moralisiert wird, freilich auf eine hektische Weise, die Fakten und Bewertungen nach Bedürfnis vermengt. Fast alle Menschen neigen dazu, und je weniger soziale Kontrolle sie erfahren, desto mehr. Moralische Motive spielen eine Riesenrolle, obwohl oder weil sie oft verdreht werden. Auch die Verdreher verraten sich, und an der Wut, mit der sie Aufdeckung von sich weisen, erkennt man paradoxerweise den moralischen Duck, unter dem sie stehen, und die lauernde Scham. Der Mensch ist widersprüchlich bis in seine Atome hinein.

V. Dennoch kommt Widerstand vor, und er wirkt.

Die Bischofszitate habe ich einer Dokumentation entnommen, die der österreichische Journalist Hubertus Czernin erstellt hat. Titel: Das Buch Groër. Während des Skandals in den Jahren 1995–98, also mitten im Lärm der Meinungen, sammelte Czernin Dokumente und Fakten, ordnete sie chronologisch und schuf Orientierung, damit man später aus der Geschichte lernen könne. Das Besondere: Er zitiert nicht nur die offiziellen Enthüllungen und Verlautbarungen, sondern auch die stille klerikale Korrespondenz hinter den Kulissen, und die ist mindestens ebenso spannend. Denn nach der Offenbarung jenes ersten Opfers äußerten sich zunehmend auch interne Zeugen, die Informationen austauschten, Erfahrungen zusammentrugen und glaubten, die Bischöfe aufklären zu müssen (oder zu können).

Und hier, von normalen Priestern, Mönchen und Ex-Mönchen, wird eine ganz andere Sprache gesprochen: eine, die sich um Wahrhaftigkeit bemüht, zunächst unbeholfen und übervorsichtig, doch dann zunehmend kraftvoll und furchtlos. Ohne die Presse hätte die Aufklärung nicht begonnen, doch ohne mutige Kirchenangehörige und Kleriker wäre sie nicht weitergegangen. „Ich habe christlichen, nicht militärischen Gehorsam gelobt“, schrieb ein Mönch an seinen Abt. „Nur allzu lang habe ich das in meinem Leben unter Groër missverstanden,
worunter ich heute noch leide.“

Zwölf ausgetretene Mönche schilderten in einem Brief an einen vatikanischen Visitator das sektenhafte Regiment von Groër, der die Beichte als Herrschaftsinstrument missbraucht, absoluten geistigen Gehorsam gefordert und missliebige oder andersdenkende Personen geächtet habe, worauf diese auch von den Mitbrüdern geschnitten wurden. Ein anderer schrieb: „Wie weit bin ich, als ich dieses System unterstützte – und diese Zeit gab es sehr wohl – an anderen schuldig geworden?“

Ein anrührendes Bekenntnis: Er, damals ein unreifer, Autorität suchender und zu Gehorsam verpflichteter Novize, fühlt sich verantwortlich, während die mächtigen Bischöfe, die Groër hätten bremsen können, bis zuletzt jede Verantwortung von sich wiesen.

Auch Solidarität der Unmächtigen kam endlich zustande. Als ein kritischer Gemeindepfarrer von seiner Pfarrei entfernt werden sollte, organisierten jene Ex-Mönche eine Demo, an der auch die Gemeinde teilnahm. Das geschah wohlgemerkt nach Beginn der Affäre, und jener Kritiker war der einzige Priester, der in diesem Skandal um jahrzehntelangen, auf allen Hierarchieebenen geduldeten Missbrauch bestraft werden sollte. Nur wegen der Demo und eines besonders klugen Protestbriefs wurde die Maßnahme ausgesetzt. Der Wortführer der Demonstranten ermahnte einen Bischof: „Ob Bischof oder nicht, wir alle sind der Wahrheit verpflichtet.“

Deswegen ist Hubertus Czernins Buch Groër auch eine ermutigende Lektüre. Äußerlich kam bei dem Aufruhr wenig heraus: Nach epischem Ringen wurde der inzwischen 78-jährige Täter in einem Nonnenkloster untergebracht, ohne Anklage und ohne Strafe; das war alles. Doch die Erleichterung derjenigen, die auf einmal offen zu sprechen und zu denken wagten, ist fast körperlich spürbar. Heute, 25 Jahre später, kommt die Kirche mit hoheitlichem Schweigen nicht mehr durch. Sexueller Missbrauch durch Kleriker ist kein Tabuthema mehr, er wird erforscht, aufgearbeitet, teilweise sanktioniert – ein Weg, der mit der Affäre Groër begonnen hat.

VI. Wie misst man die Wirkung von Widerstand?

Es gibt keine allgemein gültigen Kriterien, die Bewertung hängt von der Perspektive ab. Nimmt man die Machtverteilung als Maßstab, ändert Widerstand fast nichts: Allenfalls werden an der Spitze ein paar Figuren ausgetauscht, und der Kreislauf von Versuchung, Missbrauch, Schaden und Protest beginnt von vorn. Aus Perspektive der Unmächtigen bleibt oft ein Gefühl der Hilflosigkeit. Man verursacht zwar erheblichen Aufruhr, doch nicht wegen der überlegenen Agenda, sondern weil man nach allgemeinem Verständnis die Hierarchie destabilisiert. Die Chefs schießen mit dicksten Kugeln zurück, die Kollegen flüchten aus der Schusslinie. Dass die Selbsterfahrung von Mut und Integrität die Strapazen rechtfertigt, behaupten manche – auch ich –, doch es ist objektiv nicht nachweisbar. Und was „die Verhältnisse“ angeht, so gibt es bestenfalls minimale Korrekturen.

Ich empfehle nun, diese minimalen Korrekturen nicht als Kompromiss, sondern als Erfolg anzusehen. Wer glaubt, dass die Meldung eines Missstands zu Abhilfe führt, wird enttäuscht werden, denn die Meldung eröffnet überhaupt erst die Kampfhandlungen. Das Missverhältnis von Aufwand und Ergebnis ist auf den ersten Blick schockierend. Wer sich aber klar macht, dass er nicht kämpft um zu gewinnen, sondern damit die Verhältnisse nicht schlechter werden, kommt auf eine andere Bilanz. Letztlich werden die meisten Entscheidungen zwischen Eigennutz und Verantwortung vom sozialen Klima bestimmt. Und zu einem liberalen Klima trägt jeder bei, der sich nicht einschüchtern lässt. Wir haben (hier, derzeit) gerechtere Verhältnisse als je zuvor, weil unser System Kritik und Widerstand erlaubt. Was geschieht, wenn man Systeme den Mächtigen überlässt, sieht man ringsum: Sie werden ausgeräubert. Auch hier ein Paradox: Wenn wir glauben, alles sei in Ordnung, ist es nicht in Ordnung. Wenn wir Fehler sehen und uns kümmern, verhindern wir zumindest die ärgste Unordnung. Aus dieser Mühe ersteht eine gewisse Ordnung, die allerdings sofort degradiert, wenn wir sie für genügend halten.

VII. Welche Rolle spielt die Vernunft?

Augenscheinlich verflüchtigt sie sich angesichts der Macht. Upton Sinclair schrieb: „Es ist schwierig, jemanden etwas verstehen zu machen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen.“ Richtig, der Eigennutz setzt die Vernunft außer Kraft. Die Erklärung reicht dennoch nicht aus, denn die Hinnahme von Machtmissbrauch bedeutet oft direkten Schaden. Man opfert die Vernunft also keinem realen Vorteil, sondern den instinktiven und irrationalen Impulsen der Macht. Vernunft ist die Fähigkeit zu selbständiger Wahrnehmung und Erkenntnis unabhängig vom eigenen Vorteil. Sofern sie in Widerspruch zur Hierarchie gerät, erfordert vernünftiges Handeln Mut, weil ein autoritäres Klima offene Kommunikation unterdrückt. Groërs Unwesen konnte sich über Jahrzehnte deswegen ausbreiten, weil nicht darüber gesprochen wurde. Als aber durch die ersten offenen Worte wieder Sauerstoff in den Fall kam, erwachte das individuelle geistige Leben, und die Urteilsfähigkeit kehrte zurück.

Wirklich alles ist paradox. Ich habe gezeigt, wie Täter sich gegen ihren Willen verraten und wie Unmächtige darauf hereinfallen (wollen), wobei sie sich ebenfalls verraten. Gegen die Aufdeckung dieses Selbstverrats sträuben sich alle so sehr, als ginge es um ihre arme Seele. Vielleicht geht es wirklich um ihre arme Seele? Vielleicht ist die Wahrheit dem Menschen viel weniger zumutbar, als er meint? Denn sie konfrontiert ihn ja immer auch mit seiner existentiellen Unzulänglichkeit. Jedenfalls dominieren Macht und Täuschung den sichtbaren Teil des sozialen Lebens. Mit der Vernunft ist es umgekehrt. Sie verstellt sich nicht und verrät sich nicht, drängt zur Wahrhaftigkeit und widersetzt sich der hierarchischen Manipulation. Wo Widerspruch gefördert wird, ist das für beide Seiten befruchtend. In einem kritikfeindlichen Klima hingegen führt Vernunft zu sozialer Isolation; dann hat sie nichts mehr zu melden und löst sich, ob bewusst oder unbewusst, in Anpassung auf.

VIII. Trotzdem: Nicht dass die Vernunft unterliegt, ist der Thriller, sondern dass es sie überhaupt gibt.

Vernunft ist ein individuelles Wagnis. Sie kann, gerade durch ihre Unabhängigkeit, eine besonders kraftvolle und freudige Verbindung erzeugen. Und durch das Wunder der Schriftsprache ist sie nicht auf kurzfristigen Respons angewiesen, sondern kann langfristig überleben. Indem sie die Vereinzelung überwindet, erzeugt sie soziale Kraft. Deswegen fürchten autoritäre Systeme offene (also nicht lügende) Worte so sehr.

Ein schönes Beispiel ist Plutarchs Solon-Buch. Zur Auffrischung: Plutarch, ein griechischer Historiker des ersten Jahrhunderts nach Christus, beschrieb das Leben des ebenfalls griechischen Staatsmannes und Weisen Solon. Solon hatte zirka 700 Jahre vor Plutarch versucht, durch ein Gesetzeswerk Gerechtigkeit zu schaffen. Das misslang: Kaum lagen die Gesetze vor, verlangten die Reichen und Mächtigen Änderungen. Solon weigerte sich und ging für zehn Jahre auf Reisen. Als er zurückkehrte, herrschte Chaos: Theoretisch achtete man zwar die Gesetze, hielt sich aber nicht daran. Ein Charismatiker namens Peisistratos griff nach der Macht. Peisistratos agitierte wie die heutigen Populisten mit Schmierenkomödie, Drohungen und Fake News, und Solon warnte vergeblich vor ihm. Als Peisistratos zum Tyrannen geworden war, legte Solon seine Waffen vor die Haustür mit der Bemerkung, er habe das Seine getan.

Äußerlich ist es die Geschichte einer andauernden Niederlage der Vernunft. Aber, Paradox: Die Lektüre ist ein reines Vergnügen. Plutarch schrieb ruhig, freundlich und lebendig, mit klugem, nie angeberischem Witz. Man staunt, wie klar schon damals all die Probleme, um deren Lösung wir heute ringen, diskutiert wurden. Zum Beispiel hatte Solon, während er an seinen Gesetzen arbeitete, einen pfiffigen Logiergast namens Anacharsis. Ich zitiere leicht gekürzt: „Anacharsis […] lachte über die Bemühungen Solons, wenn er meine, durch den Buchstaben dem Unrecht und der Habsucht bei seinen Mitbürgern Einhalt tun zu können. Der Buchstabe sei gerade wie ein Spinngewebe: Wie dieses könne er nur den Schwachen und Kleinen festhalten […]; von den Mächtigen und Reichen werde er zerrissen. Solon soll […] erwidert haben, daß die Menschen ja wohl auch Verträge halten, deren Verletzung keinem der paktierenden Teile von Nutzen sei. Und die Gesetze passe er dem Interesse der Bürger so vollständig an, daß er jedermann dadurch zeige, wie viel besser ein rechtschaffenes Handeln sei als die Übertretung.“ Plutarch kommentiert mit sanftem Humor: „Freilich entsprach der spätere Erfolg mehr den Vermutungen des Anacharsis als den Hoffnungen Solons.“

Eine farbige Episode gilt Solons Besuch bei Kroisos, dem schon damals legendär reichen König von Lydien. Kroisos hatte, um Solon zu imponieren, sich „alles, was er in Steinen, Purpurgewändern, in goldenen Kunstarbeiten irgend Kostbares an Schmucksachen, Prachtvolles oder Beneidenswertes zu besitzen glaubte, an seinen Leib gehängt,“ um auf Solon Eindruck zu machen. Als Solon nicht reagierte, ließ Kroisos ihn noch durch seine Schatzkammern führen, „was übrigens bei Solon gar nicht nötig war. Denn der König selbst genügte schon an sich, um von seiner Denkungsart eine völlig klare Vorstellung zu geben.“

Jetzt fragte Kroisos, dem Solons Schweigen missfiel, ob Solon einen Menschen kenne, der glücklicher sei als er. Solon nannte zuerst einen rechtschaffenen, in der Schlacht gefallenen Mitbürger, dann, als Kroisos nachhakte, zwei junge Männer, die ihre alte Mutter selbst im Ochsenkarren zum Tempel zogen, nachdem die Ochsen ausgefallen waren. An dieser Stelle zieht Plutarch, ein exzellenter Schriftsteller, übergangslos das Tempo an, ohne den gemütlichen Duktus aufzugeben: „Sodann opferten und tranken sie, aber am anderen Tage – standen sie nicht mehr auf, sondern waren gestorben.“ Kroisos wurde zornig: „Und mich willst du gar nicht unter die glücklichen Menschen rechnen?“ Solon antwortete: „Einen selig zu preisen, der […] noch in den Gefahren des Lebens steht: das heißt, einem Kämpfer den Sieg zuerkennen […] mitten im Kampfe. Und darum ist es unsicher und eitel.“

Zufällig war damals auch der Fabeldichter Aisopos bei Kroisos zu Gast. Er glaubte Solon warnen zu müssen: „Lieber Solon, mit Königen muß man reden – möglichst selten oder möglichst ohne Schelten.“ Solon antwortete: „Nein, […] nicht möglichst selten und rar, sondern möglichst wahr.“ Kroisos blieb bei seiner Geringschätzung Solon gegenüber. Plutarch erzählt, ein weiteres Mal souverän beschleunigend: „Später war es anders: [Kroisos] ließ sich mit Kyros in eine Schlacht ein, wurde geschlagen und verlor seine Hauptstadt, ja er selbst wurde lebendig gefangen und sollte verbrannt werden. Der Scheiterhaufen war fertig; man schleppte ihn in Fesseln hinauf.“ Auf dem Scheiterhaufen schrie Kroisos verzweifelt: „O Solon! O Solon! O Solon!“ Als Kyros wissen wollte, wer denn dieser Solon sei, erzählte der todgeweihte Kroisos von dem griechischen Weisen, „den ich kommen ließ, aber nicht um etwas zu hören oder zu lernen […]. Nein, er sollte mich nur angaffen und dann als Zeuge meines hohen Glückes wieder abreisen – ach, meines Glückes, dessen Verlust eben ein weit größerer Jammer war als der Besitz ein Segen!“ Kroisos wurde begnadigt.

Plutarchs Solon-Erzählung verwandelt das reale Scheitern der Gerechtigkeit in eine Fabel des menschlichen Geschicks, indem sie das Kurzzeitkriterium von Sieg und Niederlage nur als Stoff, nicht als Basis des Geschickes gelten lässt. Der Autor versetzt durch Wahrhaftigkeit und Humor unsere milderen Saiten in Schwingung – zumindest für die Dauer, in der wir das lesen und verstehen. Vielleicht behalten wir den Klang im Ohr.

Solon lebte 700 Jahre vor Plutarch. Trotzdem kursierten seitdem so viele Solon-Geschichten und -Fabeln, dass Plutarch aus dem Vollen schöpfen konnte. Inzwischen hatte es serienweise Kriege und Tyranneien gegeben, regelmäßig beendeten Hybris und Gewalt die Phasen von Besinnung und Frieden, die Demokratie war in der Praxis kaum mehr als eine PR-Formel, deren geschickte Anwendung mal diesen, mal jenen Ausbeuter ans Ruder brachte.

Alles ist eng verwoben, Hybris, Egoismus und Gewalt sind nicht die Antagonisten von Erkenntnis und Rücksicht, sondern erzeugen sie auch. Von außen gesehen ist das frappierend. Von innen erlebt, ist es furchterregend. Ein Beispiel: Unsere aktuelle Demokratie, um die uns die halbe Welt beneidet, ist auch ein Ergebnis der Höllenfahrt des „Dritten Reichs“: Unwahrscheinlich, dass wir ohne dieses Desaster die Disziplin für dieses differenzierte politische Konstrukt aufgebracht hätten. Derzeit gewinnen wieder antiliberale Tendenzen an Kraft mit den Symptomen Anti-Intellektualismus, Geschichtsvergessenheit, Schwarzweißdenken und der Sucht nach primitiven Lösungen. Wer weiß, welche Katastrophe diesmal nötig sein wird, um uns ­
zur Besinnung zu bringen.

IX. Vernunft hält die Gerechtigkeit im Spiel.

Insofern verbessert sie das Gesamtbild und bietet Orientierung nach den Exzessen der Korruption, Ungerechtigkeit, Raserei und Zerstörung, die anscheinend Teil des Menschen sind. Solon wurde regelmäßig missachtet oder missverstanden und behielt doch immerzu Recht. Bestätigt wurde das zuletzt im 21. Jahrhundert ironischerweise durch eine Biografin, die ihn für „gescheitert“ erklärte, weil er Peisistratos nicht habe verhindern „können“. Seltsames Kriterium. Ist Jesus Christus „gescheitert“? Die ethische Position unterliegt kurzfristig immer gegenüber der auftrumpfenden Macht.

Meinen Essay Der Elefant im Zimmer habe ich unter dem Eindruck geschrieben, dass sich in unserem Land nach einer jahrzehntelangen Periode der Liberalität und Prosperität eine Woge der Unvernunft aufbaut. Die ersten Symptome, die ich in meinem Umfeld beobachtete, waren Autoritätshörigkeit, Denkschwäche und Sprachverlust. Vor allem Letzteres fand ich bestürzend, vergleichbar dem Anblick eines Menschen, der sich ohne Not vor deinen Augen den Kopf abschneidet. Ich dachte: Wenn die Leute sich bereits angesichts solcher Lappalien köpfen, wie werden sie dann echten Herausforderungen begegnen können? Meine Befürchtungen von damals sind durch die weitere Entwicklung bestätigt worden.

X. Offener Schluss

Paradoxa zum Ende: Je gründlicher man nachdenkt, desto leichter verliert man sich in Aporien. In diesen Aporien liegen die entscheidenden Rätsel. Sie sind unlösbar, doch wenn man sich ihnen nicht stellt, findet man keine Antwort auf die Probleme, die sich
daraus ergeben.

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Dies ist die leicht bearbeitete Version
eines Vortrags, den ich vor zwei Jahren geschrieben habe. Damals beendete ich ihn mit einem leidlich optimistischen Zitat von George Eliot, dem letzte Absatz aus ihrem Roman Middlemarch. Heute ersetze ich es durch ein anderes, etwas kürzeres Zitat: „Pessimisten sind Feiglinge, und Optimisten sind
Dummköpfe.“ (Heinrich Blücher) 

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