Vorbemerkungen
Das bilaterale Studiendokument „Gott und die Würde des Menschen“ ist ein äußerst dichtes und gehaltvolles Dokument ökumenischer Hermeneutik. Es entfaltet die Grundzüge eines christlichen Menschenbildes in fundamentaltheologisch-anthropologischer und ökumenischer Absicht. Sitz im Leben der bilateralen Studie sind Dissense in der Sozialethik, die – ausgehend von einem Grundkonsens in der Anthropologie – als ‚begrenzte Dissense‘ in ethischen Fragen zu qualifizieren sind. Dies kann gelingen, so die Grundannahme der Studie, indem der Zusammenhang von Anthropologie, ethischen Prinzipien und Argumentationstypen sowie ethischen Urteilen in materialen Einzelfragen beleuchtet und gezeigt wird, dass materiale Ethik nicht einfach als Ableitung aus Prinzipien und Grundannahmen funktioniert.
Die Studie plädiert für eine ökumenische Hermeneutik und Methodik, in der die Unterschiede „nicht nur als Problem gesehen werden, die es zu lösen gilt, sondern als mögliche Lösungen, die zur wechselseitigen kritischen Hinterfragung der jeweils eigenen Position anregen und dadurch Alternativen generieren können“. Die grundlegenden Übereinstimmungen in der theologischen Anthropologie ergeben sich aus der gemeinsamen Exegese der Heiligen Schrift und der gemeinsamen systematischen Reflexion der unterschiedlichen Deutungstraditionen der biblischen Überlieferungen, die wiederum Teil der konfessionellen Identitäten sind. Besonders zu würdigen ist, dass die Studie innertheologische und ökumenische Diskurse zur Anthropologie in einen breiten Kontext gesellschaftlicher und politischer Debatten stellt. Das gelingt, indem die biblisch-theologischen Grundlagen der Anthropologie mit philosophischen und politischen Diskursen zur Menschenwürde verzahnt werden. Die breit gefächerte theologische Begründung der Menschenwürde – die Studie expliziert die schöpfungstheologische, christologische, rechtfertigungstheologische und eschatologische Würdebegründung – gibt dem Menschwürdebegriff in unterschiedlichen Kontexten argumentative Überzeugungskraft und kann aus freikirchlicher Sicht nur begrüßt und bekräftigt werden. Dies gilt auch für das Anliegen, eine Reduktion von Menschenwürde auf Autonomie zu vermeiden und einen gehaltvolleren Würdebegriff zu entwickeln.
Freikirchliche Akzentuierungen einer theologischen Anthropologie
Eine freikirchliche Sicht auf die Studie muss zunächst erinnern, dass der freikirchliche Protestantismus in Deutschland, Europa und weltweit durch erhebliche Pluriformität und Diversität gekennzeichnet ist. Neben den sogenannten klassischen Freikirchen, die der Systematiker Ulrich Körtner in seiner Ökumenischen Kirchenkunde als ‚Protestantische Kirchen‘ fasst – bspw. Mennoniten, Baptisten, Methodisten, Freie evangelische Gemeinden – sind Pfingstkirchen und neuere Freikirchenbildungen zu erwähnen, die sich keiner der klassischen Freikirchen zuordnen lassen. Meine freikirchliche Sicht auf das Menschenbild der Studie geht von den erkennbaren Konsensen zum christlichen Menschenbild und zur Anthropologie aus, die sich aus den Texten und Dokumenten ergeben, die alle Freikirchen und Gemeindebünde der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) als für sich geltend ansehen. Die VEF, die 1926 als erste ökumenische Vereinigung in Deutschland gegründet wurde, hat sowohl in der Präambel Ihrer Satzung als auch in Texten zur Sozialethik und nicht zuletzt in Ihrer Stellungnahme zum Reformationsjubiläum 2017 Grundzüge ihres Verständnisses eines christlichen Menschenbildes zu erkennen gegeben. In dieser Stellungnahme heißt es u.a.: „Freikirchen … trugen dazu bei, dass Religions- und Gewissensfreiheit als Grundrecht für alle deklariert wurde … Als Ausdruck unseres Glaubens engagieren wir uns für Menschenrechte, für Religions- und Gewissensfreiheit, für Frieden, Respekt und Chancengleichheit.“ Die Analyse solcher Texte sowie der Lehr- und Bekenntnistexte der jeweiligen Mitgliedskirchen im Blick auf ihre impliziten Anthropologien zeigen eine freikirchliche Sichtweise des christlichen Menschenbildes sowie einen spezifischen Begründungszusammenhang ethischer Reflexionen und Orientierungen.
Eine theologische Begründung der Menschenwürde muss auch aus freikirchlicher Sicht mehrere Perspektiven des Menschseins beieinander halten und ineinander blenden. Im Blick auf eine schöpfungstheologische Begründung der Menschenwürde akzentuieren Freikirchen, dass der Mensch als Geschöpf Gottes frei zur Selbstbestimmung ist und in seinem Gewissen keiner anderen Instanzen als sich selbst und dem göttlichen Gegenüber verpflichtet ist. Die Würde des Menschen als Geschöpf Gottes ist unbedingt und daher universal, unaufhebbar und nicht abstufbar. Aus freikirchlicher Sicht ist zu akzentuieren, dass Freiheit, Sozialität, Ansprechbarkeit und Verantwortlichkeit als Teilmomente der Geschöpflichkeit des Menschen signifikant für ein christliches Menschenbild sind. Der Freiheitsbegriff, der theologisch zu bestimmen ist, beinhaltet dabei die Individualität und nicht austauschbare Personalität des Menschen, vermeidet es aber, die Würde mit Selbstbestimmungsfähigkeit und -vollzug zu identifizieren oder diese in empirische Kategorien zu überführen. Zugleich ist in den Freiheitsbegriff die Verantwortlichkeit des Menschen einzuzeichnen, die ihm in seinen Relationen zur Ursprungsmacht, zu sich selbst und zur mit- und außermenschlichen Kreatur zukommt, wie Psalm 8 als Kompendium psalmtheologischer Anthropologie verdeutlicht.
Mit dieser schöpfungstheologischen Begründung korrelieren Freikirchen eine christologisch-gnadentheologische und pneumatologische Begründung der Menschenwürde. Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus führt zur Erlösung, Versöhnung, Gemeinschaftseröffnung und Erneuerung des Menschen und der Welt durch die Kraft des Heiligen Geistes. Der dreieine Gott setzt sich mit den Menschen und der Welt wirksam in eine heilvolle Beziehung. Er teilt von sich selber mit, was Leben hervorbringt, am Leben erhält, zum Leben dient.
Dieses Geschehen geht dem Glauben voraus und befreit den Menschen dazu, sich als Ebenbild Gottes wahrzunehmen und an Gottes Wirken zur Versöhnung, Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung teilzuhaben. In diese Dynamik des dreieinen Gottes, der sich in Beziehung setzt – gerade dort, wo Menschen sich einem Leben aus Liebe in Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit verweigern oder wo Menschen ein solches Leben verweigert wird –, sind aus Sicht des christlichen Glaubens alle Menschen und die gesamte Schöpfung einbezogen. Zwar beginnt, wie der methodistische Theologe Theodor Runyon formuliert, das „kosmische Drama der neuen Schöpfung … mit der Erneuerung des Gottesbildes im Menschen“ durch das Christusgeschehen, zugleich erweitern sich aber durch dieses Geschehen die sozialen Dimension des Menschseins. Alle Menschen sind dazu berufen und herausgefordert, Ebenbild Jesu Christi zu werden (Röm 8,29).
Freikirchen setzen im Blick auf das Freiheitsgeschehen des Glaubens einen deutlichen Akzent auf die menschlichen Rezipienten. Dabei muss freilich zwischen der Begründung und Rechtfertigung des eigenen Daseins durch Gott und dessen Bejahung durch den Menschen unterschieden werden, wodurch die Freiheit des Menschen als eine relative Freiheit im Sinne responsorischer Passivität zu bestimmen ist. Im Rechtfertigungsgeschehen ist nicht nur der „Aspekt der Deklaration, sondern auch der Transformation durch die Kraft des Heiligen Geistes“ zu betonen. Dieser Zusammenhang wird aus freikirchlicher Sicht in der Leuenberger Konkordie (LK) treffend festgehalten. Wer dem Evangelium vertraut, „ist um Christi willen gerechtfertigt vor Gott … Er lebt in täglicher Umkehr und Erneuerung zusammen mit der Gemeinde im Lobpreis Gottes und im Dienst am anderen … So schafft Gott neues Leben und setzt inmitten der Welt den Anfang einer neuen Menschheit“ (LK 10). Christen erkennen, so heißt es weiter, „dass Gottes fordernder und gebender Wille die ganze Welt umfasst. Sie treten ein für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern. Dies macht es notwendig, dass sie mit anderen Menschen nach vernünftigen, sachgemäßen Kriterien suchen und sich an ihrer Anwendung beteiligen. Sie tun dies im Vertrauen darauf, dass Gott die Welt erhält, und in Verantwortung vor seinem Gericht.“ (LK 11) Freikirchen geht es um die vom christlichen Glauben ausgelösten Freiheitsprozesse, die sich in den Gerechtfertigten im Einsatz für die Freiheit anderer verleiblichen. Übereinstimmend mit der Studie betonen sie, dass die Befreiung von der Schuld gleichzeitig eine Befreiung des Menschen zu einem neuen Leben in Dankbarkeit gegenüber Gott und in der Nachfolge Jesu Christi geschieht. Die Freiheit des Menschen ist stets eine Freisetzung für den Anderen, dem dieses Leben in ‚Freiheit für‘ ebenfalls zuzugestehen ist. Sie impliziert das Recht auf Leben und den fundamentalen Stellenwert der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit.
Zusammenfassend und zuspitzend kann man formulieren: Freikirchen akzentuieren im Blick auf das christliche Menschenbild im Anschluss an biblische Überlieferungen den Menschen, dessen Wollen und Handeln sein Leben insgesamt, aber auch sein Gottesverhältnis beeinflusst. Wissend um die Grundpassivität menschlichen Daseins, insbesondere auch in Fragen des Heils, betonen sie gleichwohl, dass das sola fide nicht vom sola gratia aufgesogen werden darf. Auch die göttliche Erneuerung des Menschen zielt auf einen handelnden, die ethischen Ansprüche des Evangeliums als Lebensweg realisierenden Menschen.
Spezifische Konturierungen christlicher Anthropologie
Abschließend will ich an drei Punkten im Gespräch mit der Studie Konturen christlicher Anthropologie aus freikirchlicher Sicht schärfen, die die Wahrnehmung einer theologisch begründeten Menschenwürde in einem weltanschaulich-pluralen Kontext zu erweitern und stimulieren vermögen.
Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit als Aspekte der Gottebenbildlichkeit
Christliche Begründungen der Menschenwürde orientieren sich basal an der biblischen Rede von der Gottebenbildlichkeit im Anschluss an Genesis 1. Bleibt der Mensch auch als Sünder Bild Gottes, und darin scheint mir gemäß der Studie ökumenischer Konsens zu herrschen, ist aus freikirchlicher Sicht hervorzuheben, dass Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit gleichermaßen als Aspekte der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu explizieren sind. Axel Honneth hat als „normativen Bezugspunkt aller Konzeptionen von Gerechtigkeit in der Moderne … aus Gründen, die universelle Geltung beanspruchen, die Idee der individuellen Selbstbestimmung“ herausgearbeitet. Als gerecht müsse deshalb gelten, „was den Schutz, die Förderung oder die Verwirklichung der Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet“. Dieses Verständnis von Selbstbestimmung kann mit einer theologischen Begründung der Menschenwürde aus freikirchlicher Sicht dann vermittelt werden, wenn Selbstbestimmung nicht abstrakt vom Prinzip der Subjektivität aus gedacht, sondern in eine mehrgliedrige Grundrelation eingebettet wird, die durch das Selbst, die Anderen und die Welt gegeben ist. Ein solcher Ansatz einer relativen Autonomie als Grundbestimmung menschlichen Daseins kann in unterschiedlichen Zusammenhängen für ethische Fragestellungen orientierend sein.
Die Sozialität des Menschen im Horizont der Gottebenbildlichkeit
Die Studie beleuchtet im Anschluss an Genesis 1 intensiv die Gottebenbildlichkeit des Menschen und bestimmt den Menschen als transzendentales Wesen, das sich zu relativieren weiß. Aufzunehmen ist aus freikirchlicher Sicht auch die in Genesis 1,26-28 erkennbare Überzeugung, dass der Mensch als Bild Gottes als Beziehungswesen existiert und seine Sozialität in die Gottebenbildlichkeit eingeschrieben ist. Diese biblische Überzeugung ist offen sowohl für eine konkrete Beschreibung menschlichen Soziallebens in der späten Moderne als auch die sozialphilosophischen Diskurse um die Interpretationen der zwischenmenschlichen Differenzen, die von der antagonistischen Konfrontation bis zur ethischen Verantwortungsbeziehung ein breites Spektrum an sozialen Wechselwirkungen aus sich heraussetzen. Das christliche Verständnis des Menschen kann in diesem Zusammenhang durch den Begriff des Nächsten Gottes begründet und bezeichnet werden. Ein Nächster Gottes ist der Mensch nicht nur als Mitmensch in einer gemeinsamen und miteinander geteilten Lebenswelt, sondern als einer, dessen Menschlichkeit in der Erfahrung von Nähe und Zuwendung Gottes zum Menschen erkennbar wird. Der aus den sozialen Zuschreibungen heraustretende Nächste Gottes erweist sich als kritische Kraft gegen Nützlichkeitserwägungen durch kulturelle Konditionierungen und erweitert den Spielraum zwischenmenschlicher Nähe und Ferne sowie der damit verbundenen sozialen Interaktionen.
Zur pneumatologischen Wirklichkeit der Gottebenbildlichkeit und Christusgeschwisterlichkeit des Menschen
Aus freikirchlicher Sicht ist zu überlegen, die pneumatologische Wirklichkeit der Gottebenbildlichkeit und Christusgeschwisterlichkeit innerhalb der biblischen Überlieferungen noch stärker in den Blick zu nehmen und systematisch zu reflektieren. Bei aller Problematik des Geist-Begriffs in anthropologischer und theologischer Hinsicht kann er im Kontext einer theologischen Begründung der Menschenwürde als Ausdruck für die innigste Referenz des geschaffenen zu Gottes Handeln an ihm und mit ihm gelten. Er kann zugleich im Blick auf die Rechtfertigung, die Erlösung und Vollendung als die innigste Referenz des erlösten Menschen im Sinne einer Transfiguration und Vollendung des Menschseins als Ebenbild Gottes gelten. Für eine schöpfungstheologisch, christologisch, rechtfertigungstheologisch und eschatologisch differenzierte Begründung der Menschenwürde im öffentlichen Diskurs vermag er als relationale Größe die Innenspannung und das Werden der je individuellen Existenz und ihre Verflechtung mit dem Dasein und Werden anderer Menschen und der Welt zu vermitteln.