„Wir leben nicht in einer demokratischen Ordnung, um bestimmte Probleme zu lösen, sondern weil diese demokratische Ordnung am besten zum Ausdruck bringt, wie wir uns selbst verstehen: als freie Personen unter wechselseitiger Anerkennung der Freiheit aller anderen. Die demokratische Gleichheit ermöglicht Eingliederung ohne die Unterwerfung in Ungleichheit. Demokratie ist also Vergemeinschaftung ohne Selbstaufgabe“. Diese Feststellung des Staatsrechtslehrers Christoph Möllers stammt aus dem Jahr 2008 – wurde also vor den diversen Krisen getroffen, die wir seither erlebt haben. Möllers‘ damaliger Hinweis, „unser Unbehagen an der Demokratie“ hänge nicht zuletzt an „unseren widersprüchlichen Erwartungen an demokratische Herrschaft und der Kränkung darüber, dass demokratische Herrschaft allen anderen so viel Raum gibt wie uns selbst“ trifft die Stimmung einer vom Populismus und dessen Ursachen herausgeforderten demokratischen Ordnung.
In den letzten Jahren wurden die politikwissenschaftlichen Versuche, die Demokratie angesichts globaler Herausforderungen sowie der gewachsenen Distanz zwischen Bürgern und Politikern immer wieder neu zu bestimmen, von negativen Konnotationen überlagert. Davon zeugen auch diverse Buchtitel, wie etwa Die verstimmte Demokratie, die Unübersichtlichkeit der Demokratie oder Bedrohte Demokratie. Eine Antwort auf die Frage, was die Demokratie ausmacht, lautet also zunächst: ihre Gefährdung bzw. zumindest die Wahrnehmung ihrer Gefährdung. Da diese Antwort definitiv zu kurz und außerdem nur bedingt zutreffend ist, geht es im Folgenden darum, die Aspekte hervorzuheben, die die Demokratie in der Gegenwart ausmachen. Dies führt zu fünf verschiedenen – definitiv nicht negativ konnotierten – Antworten.
Die Vielfalt der Erscheinungsformen der Demokratie (und der Demokratietheorien)
Wird die Einstiegsfrage wörtlich genommen, so kann eine erste Antwort lauten, dass die Demokratie als globales Phänomen ihre geradezu erstaunliche Vielfalt an Erscheinungsformen ausmacht. Oder um Manfred G. Schmidt zu zitieren: Es gibt „nicht nur eine Demokratie, sondern viele verschiedene Demokratien (…) [und es gibt] nicht nur eine Demokratietheorie, sondern viele verschiedene Demokratietheorien“. Tatsächlich kommen international vergleichende Untersuchungen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass es sich gegenwärtig bei der Mehrzahl aller Staaten weltweit um Demokratien handelt. Das so genannte Polity-IV-Projekt weist in seiner jüngsten Ausgabe von 2017 beispielsweise 99 von 163 untersuchten Staaten als Demokratien aus. Nichtsdestotrotz sollte dieses Ergebnis nicht darüber hinwegtäuschen, dass und wie sich Demokratien hinsichtlich ihres institutionellen Gefüges, ihrer politischen Praxis und ihres rechtsstaatlichen Gehalts deutlich voneinander unterscheiden.
Diese charakteristische Vielfalt spiegelt sich nicht nur in empirischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht wider und variiert zwischen den Polen einer „minimalistischen“ und einer „maximalistischen“ Demokratiekonzeption. Minimalisten wie Joseph Schumpeter rücken den Wettbewerb der Politiker um Wählerstimmen in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Sie betrachten rechtsstaatliche Elemente zwar als wichtige Voraussetzungen der Demokratie, aber nicht als unverzichtbar. Ein solches minimalistisches Konzept mit seinem beschränkten Fokus eignet sich nicht für die Analyse „reifer“ Demokratien. Schließlich besitzt die Demokratie neben der institutionellen und kompetitiven auch eine normative Seite: Die Konkurrenz um Stimmen wie auch die Ämterrotation sind rückgebunden an eine Verfassungsordnung, deren Grundlage Grund- und Menschenrechte darstellen. Eine liberale Demokratie ist also nicht nur eine Methode oder Abstimmungsmechanismus, in dem die Mehrheit ihre Vorstellungen unbeschränkt durchsetzen kann. Vielmehr ist jede Mehrheit daran gebunden, die Rechte aller und eben gerade auch der Minderheiten respektieren. Alles andere stünde im eklatanten Widerspruch zur freiheitlichen Grundidee.
Maximalistische Demokratiemodelle lehnen eine Beschränkung auf die prozedurale Input-Dimension ohnehin ab. Sie betrachten zusätzlich auch die Ergebnisse der politischen Entscheidungsprozesse, beziehen also die Output-Dimension in ihre Demokratiedefinition mit ein. Zu dieser Output-Dimension gehört die Frage, ob es einer Demokratie in ausreichendem Maße gelingt, bestimmte Güter grundsätzlich allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören so genannte Kollektivgüter wie innere und äußere Sicherheit, gesundheitspolitische Leistungen, sozialstaatliche Garantien, aber auch die Vermeidung extremer Ungleichheiten bei der Verteilung von Einkommen, Primärgütern und Lebenschancen.
Auch wenn von den wenigsten Demokratietheoretikern bestritten wird, dass die „Performanz“ eines politischen Systems etwas über den Rückhalt und damit über die Legitimation einer demokratischen Ordnung durch die Bürgerschaft aussagen kann, bestreiten liberale Demokratietheorien jedoch, dass derartige Outputs dem Kernbereich der Demokratie zuzurechnen sind. Im Unterschied zum Kerngehalt der wechselseitigen Anerkennung der Freiheit sind sie nämlich kein Spezifikum der Demokratie. Schließlich kann Output-Legitimität auch von autokratischen Systemen erbracht werden. Sowohl minimalistische als auch maximalistische Demokratiekonzepte sind Extreme, denen ein Konzept „mittlerer Reichweite“ gegenüberzustellen ist, das Konzept der „eingebetteten Demokratie“.
Die doppelte Einbettung der Demokratie
Das Demokratieprinzip bezieht sich nicht „nur“ auf die institutionelle Ordnung, und zur Demokratie gehört weit mehr dazu als das Abhalten demokratischer Wahlen oder die Anerkennung der parlamentarischen Opposition. Dieser Sachverhalt kommt in der politikwissenschaftlichen Kategorie der „eingebetteten“ Demokratie – der embedded democracy, das unter anderem von Wolfgang Merkel entwickelt wurde, anschaulich zum Ausdruck. Sein Analysekonzept der embedded democracy liefert die zweite Antwort auf die Frage, was die Demokratie ausmacht: Rechtsstaatliche Demokratien sind doppelt eingebettet: Zum einen in „Ringe ermöglichender Bedingungen der Demokratie“: Dazu gehören die ökonomischen Voraussetzungen einer stabilen demokratischen Ordnung, ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit sowie ein freiwilliges und lebendiges gesellschaftliches Engagement. Ihre externe Einbettung schützt die Demokratie gegen externe wie interne Schocks, wie wir sie derzeit auf der ganzen Welt im Zuge der Corona-Pandemie erleben. Diese Einbettung der Demokratie schützt damit auch vor Destabilisierung.
Zum anderen ist eine Demokratie „intern“ eingebettet – und zwar durch so genannte Teilregime, die jeweils funktional verschränkt sind und auf diese Weise ihren Bestand auch gegenseitig sichern. Wolfgang Merkel unterscheidet fünf Teilregime: Ein demokratisches Wahlregime, das Regime politischer Partizipationsrechte, die bürgerlichen Freiheitsrechte, die institutionelle Sicherung der Gewaltenkontrolle und der horizontalen Verantwortlichkeit sowie die Garantie, dass die so genannte effektive Regierungsgewalt der demokratisch gewählten Repräsentanten de jure und de facto gesichert ist.
Ein Nachteil dieser Interdependenz sollte jedoch nicht übersehen werden: Krisenhafte Veränderungen in einem Teilregime können womöglich auch die anderen Teilregime infizieren. Wird eines oder mehrere der Teilregime der embedded democracy so beschädigt, dass die Gesamtlogik der Demokratie verändert wird, kann womöglich nicht mehr von einer intakten rechtsstaatlichen Demokratie gesprochen werden.
Die Attraktivität der Demokratie weltweit
Die große Zahl von Demokratien weltweit, so der Hinweis von Samuel P. Huntington, weist darauf hin, dass diese das Resultat mehrerer Demokratisierungswellen darstellen, von denen die vierte und bisher letzte zu Beginn der 1990er Jahre die ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas erfasste: ein, darauf verweist Manfred G. Schmidt, „spektakulärer Erfolg“ für die Idee und die Praxis der Demokratie. Die Frage, was die Demokratie ausmacht, lässt sich also auch ganz banal mit dem Hinweis beantworten: ihre weltweite Attraktivität.
Dass der Sachverhalt aber doch nicht ganz so einfach ist, zeigt der Blick in die Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Gemäß der Grundregel, dass Demokratien untereinander nicht Krieg führen, lag es damals aus Sicht vor allem der USA nahe, demokratische Reformprozesse in verschiedenen Staaten nicht nur wohlwollend zu unterstützen, sondern auf der Grundlage der damaligen Übermacht der USA und der damit verbundenen Unipolarität des internationalen Systems gezielt voranzutreiben.
Auf diese Weise, so die damalige – inzwischen naiv anmutende – Vorstellung, sei es möglich, sowohl das westliche Demokratiemodell als auch eine marktwirtschaftliche Ordnung zu universalisieren. Auf diese Weise schwang sich „Der Westen“ zum Kämpfer für „das Gute“ auf. Er tat dies allerdings oft genug mit zweifelhaften Methoden: Schließlich musste man sich vor Ort häufig mit Partnern zusammentun, die manches Mal nur das kleinere von zwei Übeln darstellten. Die meisten Konflikte wurden zum einen nur scheinbar gelöst und ließen zum anderen die Zahl der Gegner der Politik des Westens stetig wachsen – von den erzeugten regionalen Instabilitäten ganz zu schweigen.
Für manche Staaten mündete die Hoffnung des Westens, die internationale Politik nach 1990 zu „verwestlichen“ und einen weltweiten Siegeszug der liberalen Demokratie zu feiern, also sogar in einen Alptraum: Die Demokratisierungswelle trug sie nicht nach oben, sondern mündete in einen Strudel der Gewalt und der Unfreiheit. Trotz vieler negativer Folgen der damaligen Anmaßung lässt sich damit feststellen, dass die Prinzipien liberaldemokratischer Herrschaft in fast allen Kulturkreisen nach wie vor Strahlkraft besitzen.
Und das liegt nicht allein an der Hoffnung auf Wohlstand. Vielmehr richten sich viele Hoffnungen gerade auf die institutionellen Grundsätze der liberalen Demokratie – allen voran auf das Ziel, staatliches Handeln solle sich nicht auf die Interessen weniger Mächtiger beziehen, sondern sich den Bedürfnissen breiter Schichten und dem Wunsch der Bevölkerung nach Machtkontrolle und den Gewährleistungen des Rechtsstaates ausrichten. Angesichts dieser Sehnsucht der Menschen nach einem Leben frei von Willkür basieren autoritäre Regime immer auf Zensur und (digital gestützter) Repression. Nur durch diese Mechanismen gelingt es ihnen, offene Debatten oder die politische Forderung nach Machtkontrolle zu unterbinden.
Die Integrationskraft der Demokratie
Angesichts der Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Demokratie liegt es nahe, die Leitfrage zu modifizieren und zu fragen, worauf der Erfolg speziell der bundesdeutschen Demokratie beruht. Eine von mehreren möglichen Antworten muss lauten: ihre Integrationskraft. Diese Integrationskraft musste die junge Bundesrepublik, deren Bürger durchaus demokratieskeptisch eingestellt waren, in vielerlei Hinsicht – nicht zuletzt bei der Integration der zahlreichen Vertriebenen – unter Beweis stellen. Dass sie gelang, hat zweifelsohne auch damit zu tun, dass der Aufbau der bundesdeutschen Demokratie unter günstigen materiellen und weltpolitischen Bedingungen stand. Das Wirtschaftswunder und die Anziehungskraft des Westens, die die einen als Anziehungskraft im Konsum und die anderen als die der Popkultur erlebten, unterstützten die Demokratie in ihrer Integrationskraft enorm.
Vor durchaus ähnlich großen Herausforderungen stand die deutsche Demokratie dann in den Jahren ab 1990. Zwar war die staatliche Einheit Deutschlands mit dem Transfer der Institutionenordnung auf das Gebiet der ehemaligen DDR im rechtlichen Sinne rasch wiederhergestellt. Aber auch in diesem Fall bestand die eigentliche Herausforderung darin, die Bevölkerung der Beitrittsländer mit ihren unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und Einstellungen und ihren völlig anderen Erwartungen an staatliches Handeln in das gesamtdeutsche Gemeinwesen zu integrieren.
In welchem Maße dies gelungen ist und woran es gegebenenfalls gelegen hat, dass es nicht völlig gelang, darüber kann und muss man streiten: Die Umfragen des Sachsen- oder auch das Thüringen-Barometers belegen, dass sich ein großer Teil der in der DDR Sozialisierten – durchaus aber auch Angehörige der nachfolgenden Generationen – derzeit mehr denn je als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen. Viele Ostdeutsche zeigen sich zudem der Demokratie gegenüber kritischer eingestellt als die Bevölkerung in Westdeutschland – und zwar gegenüber der Demokratie als Herrschaftsform im Allgemeinen, und vor allem gegenüber ihrer tatsächlichen Ausgestaltung in der Bundesrepublik. Ein möglicher Grund für diese Demokratieskepsis könnte darin begründet liegen, dass diejenigen, die den Sturz des einen Systems miterlebt haben, einen nüchterneren Blick auf unsere politische Ordnung und deren Stabilität haben als die im stabilitätsfixierten Westen Sozialisierten.
Wie lässt sich dieser Befund deuten? Zunächst gilt mit Blick auf die Gegenwart das Gleiche wie für die Zeit nach 1945: Die bundesdeutsche Demokratie entwickelte sich auch aufgrund ihrer Integrationsfähigkeit zum Erfolg. Diese ist und war nicht nur den materiellen Rahmenbedingungen geschuldet, sondern auch den demokratischen Institutionen und Prozessen. Viele Punkte, die im Folgenden genannt werden, stimmen nicht zufällig mit denen der eingebetteten Demokratie überein.
Als „günstige Rahmenbedingungen“ sind vor allem zu nennen: Die zentripetalen, also zur Mitte ausgerichteten, Wirkungen des Wahl- und Parteiensystems, allen voran die (frühere) Bindungskraft der Volksparteien. Zudem hat unsere Parteiendemokratie immer wieder bewiesen, wie anpassungsfähig sie ist: Die Fünfprozenthürde dient zwar vor allem der Handlungsfähigkeit des Parlaments und weniger der Entfaltung kleiner Parteien. Gleichzeitig zeigen die Gründung der Grünen, die Neuformierung der Linkspartei sowie die Erfolge der AfD, dass unsere Parteiendemokratie auf erkannte Lücken in der Programmatik der etablierten Parteien und auf Defizite in der Repräsentation bestimmter politischer Einstellungen zu reagieren in der Lage ist.
Außerdem gewährleistet unsere föderative Ordnung in verschiedener Hinsicht Offenheit: Die föderative Kompetenzverteilung ermöglicht inzwischen gewisse Asymmetrien, also Abweichungen mit Blick auf die Wahrnehmung von Staatsaufgaben. Damit wird sowohl einer Überforderung als auch der Unterforderung einzelner deutscher Länder vorgebeugt. Der deutsche Föderalismus erleichtert es der Opposition im Bund, ihre Alternativprogramme zumindest auf der Landesebene zu realisieren. Ohne diese Möglichkeit wäre es in der Nachkriegszeit womöglich zu einer Radikalisierung der Sozialdemokratie gekommen.
Dass die Integrationskraft der Demokratie des Grundgesetzes und damit unseres politischen Systems demnach als hoch einzuschätzen ist, liegt ebenso darin begründet, dass die Bundesrepublik eher eine Konsens- denn eine Mehrheitsdemokratie darstellt: Die Integrationskraft einer derartigen „nichtmajoritären“ Demokratie ist beachtlich. Ihre Prozesse tragen dazu bei, dass meinungsverschiedene Gruppen dennoch koexistieren können. Eine klassische Mehrheitsdemokratie, in der deutlich weniger gewaltenhemmende Mechanismen eingebaut sind und deren Wahlsystem klare parlamentarischen Mehrheiten begünstigt, „bezahlt“ die damit meist verbundene größere Handlungsfähigkeit mit der Geringachtung der jeweiligen politischen Minorität.
Wie die Integration der DDR in das vereinigte Deutschland zu beurteilen ist, wird im dreißigsten Jahr des Mauerfalls bzw. der Vereinigung intensiver denn je debattiert: Aus staatsrechtlicher und verfassungspolitischer Sicht zeigt sich die neuerliche Anpassungsfähigkeit unserer Verfassungsordnung. Vielleicht, so könnte man mutmaßen, ist das Grundgesetz sogar zu anpassungsfähig: Schließlich hat es den Westdeutschen die Illusion ermöglicht, dass sich nur die Neu-Bürger anpassen müssten und die alte Bundesrepublik einfach so weitermachen könnte wie bisher. Aus ökonomischer Sicht ist die Integration der fünf neuen Länder nur bedingt gelungen. Die ostdeutsche Wirtschaft leidet bis heute darunter, dass hier in erster Linie Zweigstellen, Montage-Einrichtungen westdeutscher und ausländischer Unternehmen und Konzerne ansässig sind. Unter den 500 größten deutschen Unternehmen haben weniger als zehn ihren Firmensitz in Ostdeutschland, und die wenigen mittelständischen Unternehmen sind kaum expansionsfähig. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Wortschatz des Marxismus-Leninismus gerade in Ostdeutschland durchaus wieder Anklang und Anwendung findet.
Spätestens seit der Bankenkrise stößt die Kritik an der mit dem sogenannten Neo-Liberalismus einhergehenden Entsolidarisierung oder an der Macht- und Eigentumskonzentration wieder auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Derlei kritische Stimmen sind sowohl aus dem linken als auch dem rechten politischen Spektrum zu vernehmen, und wir alle können beobachten, dass die Globalisierungsgegner den Ausbruch einer Pandemie zum Anlass für ihre grundlegende Kritik vor den Auswirkungen der weltweiten Arbeitsteilung nehmen. Dass die globalisierungsbedingten Wohlstandsgewinne Chinas und Indiens vor allem auf Kosten der alten Industriestaaten stattfinden, bestätigen auch etablierte Wirtschaftsforschungsinstitute: Ostdeutschland erlebt die negativen Folgen dieser Veränderungen ausgeprägter als der Westen.
Angesichts der zum Teil fundamentalen Kritik an den ökonomischen wie politischen Verhältnissen, sowie den während der Vereinigung gemachten Erfahrungen fällt es den politisch Verantwortlichen ebenso wie der Politischen Bildung gelegentlich schwer, den Bürgern eine für unser deutsches Staatswesen zentrale Einsicht zu vermitteln: Demokratie verspricht viel, aber sie kann kein gutes Leben versprechen. Selbstbestimmung kann gelingen oder scheitern. Das gehört mit zur Offenheit der liberalen Demokratie.
Die der Demokratie innewohnende Billigung von Vielheit und Vielfalt
Die Hinweise auf die integrative Wirkung gerade auch der bundesdeutschen Demokratie sollen nicht den Eindruck erwecken, diese sei mit der Herstellung von Einheit gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil, Demokratien besitzen per se keine „innere Einheit“ (Christoph Möllers), und es wäre verkehrt, sie zum Ziel zu erklären. Zur Demokratie gehört die Einsicht, dass sie zwar immer wieder Integrationsleistungen vollbringen muss, aber diese Integration kein letztes Ziel haben kann. Liberale Gesellschaften sind „Möglichkeiten suchende und Chancen eröffnende Gesellschaften“ (Wolfgang Kersting); einen vorgezeichneten geschichtlichen Weg kennen sie nicht. Vielmehr ist gerade ihre Offenheit für Veränderungen und für die Aufnahme unterschiedlicher Gruppen von Bürgern, also die Inputoffenheit und Responsivität, ein immenser Vorteil der freiheitlichen Demokratie.
Eine derartige auf „letzte Ziele“ verzichtende Staatsform ist anspruchsvoll und für ihre Bürger anstrengend. Gerade in Zeiten massiver technischer und globaler Veränderungen und Bedrohungen sowie von Bedrohungen durch eine Pandemie können die immanenten Anforderungen einer liberalen Gesellschaft, die den Staat eben nicht für alles haftbar macht, die Empfänglichkeit für populistische Botschaften schüren. Die Offenheit und Wandlungsfähigkeit der Demokratie kann auch überfordern.
Ingolfur Blühdorn konstatiert ein widersprüchliches Verhalten der Bürgerschaft: Zum einen wollen viele nicht in die Pflicht als Staatsbürger genommen werden. Sie wenden sich dem Privaten und dem eigenen Fortkommen zu. Politische Partizipation wird an „Serviceprovider“ wie Nichtregierungs-Organisationen oder zivilgesellschaftliche Gruppen abgegeben. Zum anderen zeigen sich viele Bürger in ihren Ansprüchen und Erwartungen bezüglich ihrer Selbstbestimmung und Freiheit zunehmend kompromisslos. Der Anspruch auf Selbstbestimmung steigt ebenso wie die Forderung nach Mitgestaltung; letzterer korrespondiert aber nicht durchgängig mit der Bereitschaft, dann auch die Ergebnisse der Mitwirkung anderer hinzunehmen.
Angesichts dieser zum Teil paradoxen Erwartungen verwundert es nicht, dass es gerade den Volksparteien, deren Charakteristikum ja eigentlich darin besteht, unterschiedliche Milieus anzusprechen, schwerfällt, diese Komplexität und Pluralität von Einstellungen und Positionen zu verarbeiten. Die Flüchtlings- oder Klimapolitik nimmt für viele Bürger (zumindest vor der Coronakrise) einen dominierenden Stellenwert ein. Dabei gerät man leicht in einen Konflikt: Die eigene Positionierung in diesen zentralen Fragen ist nämlich nicht immer mit der Position jener Partei vereinbar, der man sich in anderen Fragen nahe fühlt. Das führt zu einer gewissen Zerrissenheit, die dann die Bereitschaft schmälert, politische Verantwortung an Kandidaten zu delegieren oder sogar einer Partei beizutreten. Blühdorn spricht in diesem Zusammenhang von der „paradoxe(n) Gleichzeitigkeit von Erosion und Radikalisierung demokratischer Wertvorstellungen“.
Trifft diese Beobachtung zu, dann stehen Demokratien und das, was die Demokratie ausmacht, vor einer großen Herausforderung: Schließlich haben funktionierende Demokratien stets etwas von einer self-fulfilling prophecy (Christoph Möllers). Sobald die Coronakrise überwunden ist, wird offensichtlich werden, dass die Bewährungsprobe für unsere Demokratie nicht nur darin bestand, die Pandemie zu bewältigen. Vielmehr wird sich dann auch zeigen, ob die Bürgerinnen und Bürger ebenfalls etwas aus der Krise gelernt haben: Dass wir ein widerstands- und handlungsfähiges politisches System haben, das nicht nur in der Krise besser funktioniert, wenn ihm Vertrauen entgegengebracht wird und das dieses Vertrauen zudem verdient.