Gefährdungen der Demokratie heute

Im Rahmen der Veranstaltung "Philosophische Tage 2019", 26.09.2019

 Demokratie als Lebensform

 

Demokratie ist nicht nur eine Staats-, sondern zugleich eine Lebensform, ein allgemeines Gestaltungsmuster sozialer Beziehungen. Damit ist nicht gesagt oder verlangt, dass diese Beziehungen denselben demokratischen Regeln unterworfen werden wie die staatliche Ordnung – bleiben sie hier anderen Prinzipien wie dem Markt oder der Hierarchie nachgeordnet, bewährt sich gerade darin ihre freiheitssichernde Funktion. Dennoch sind der Geist und die Prinzipien der staatlichen Ordnung, wie sie sich in der Verfassung und im Regierungssystem widerspiegeln, mit den Ordnungsvorstellungen einer Gesellschaft eng verwoben. Eine autoritäre Gesellschaft könnte einen demokratischen Staat weder stützen noch dauerhaft legitimieren.

Demokratie in diesem Sinne gründet in einem von emanzipatorischen Werten getragenen Menschenbild. Ihr liegt der Glaube zugrunde, dass der Mensch aufgrund und mit Hilfe seiner Vernunft sein eigenes Leben und das Leben der Gemeinschaft rational gestalten kann. Dieser Glaube verdichtet sich im Ideal des selbstbestimmten und in seiner Selbstbestimmung gleichberechtigten Bürgers, das die Aufklärung geprägt hat. Die daraus abgeleiteten Freiheits- und Teilhaberechte machen den Kern der neuzeitlichen Demokratie aus.

Erst wenn man die ideellen Grundlagen der Demokratie in die Betrachtung einbezieht, wird erklärbar, warum die als konsolidiert geltenden, funktionsfähigen demokratischen Systeme auf der Welt bis heute in der Minderzahl sind. In der Politikwissenschaft haben sich die politische Kulturforschung und in ihrem Gefolge die Transformationsforschung diesen Zusammenhängen intensiv gewidmet. Der Begriff politische Kultur soll signalisieren, dass die in der Gesellschaft verbreiteten Werte und Ordnungsvorstellungen stets kulturell vermittelt sind; sie wurzeln in Erfahrungen, die historisch über große Zeiträume aufgebaut wurden und daher auch nur allmählich verändert werden können.

Die Erforschung der kulturellen Grundlagen der Demokratie ist älter als das Konzept der politischen Kultur. In seinem Werk über die Demokratie in Amerika hatte Tocqueville schon in den 1830er Jahren gezeigt, welche Bedeutung die – von ihm als „Sitten“ bezeichneten – Werthaltungen für die Herausbildung demokratischer Verhältnisse gewinnen. Richtig ins Bewusstsein rücken sollten diese Voraussetzungen freilich erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Damals waren die Beobachter überrascht, dass es nicht gelingen wollte, das in Europa und Nordamerika entstandene Demokratiemodell in die sich von der Kolonialherrschaft befreienden Länder Afrikas oder Asiens zu „verpflanzen“. Der vom Fortschrittsoptimismus der Modernisierungstheorie inspirierte Glaube an die Übertragbarkeit demokratischer Strukturen mutet im Nachhinein naiv an. Obwohl es seither mehrere Demokratisierungswellen gegeben hat, bleibt die kulturelle Basis der Demokratie im globalen Maßstab schmal. Diese schmale Basis ist gemeint, wenn wir von den etablierten verfassungsstaatlichen Demokratien als „westlichen“ Demokratien sprechen.

 

Ökonomische und kulturelle Quellen der Demokratie(un)zufriedenheit

 

Auch hier befindet sich die Demokratie jedoch seit geraumer Zeit unter Druck. Aus der heutigen Rückschau können eigentlich nur die 1950er und sechziger Jahre als Ära der „demokratischen Stabilität“ gelten, ehe ab den siebziger Jahren erste Krisenzeichen aufleuchteten. Ablesbar waren sie an der wachsenden Unzufriedenheit der Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie, die sich in der Folge auch im veränderten Wahlverhalten niederschlug. Während die großen Volksparteien an Unterstützung verloren, nahm die Zahl der Nicht- und Protestwähler zu. Letzteres führte zur Entstehung neuer populistischer Herausforderer-Parteien, die sich vor allem im rechten Spektrum einen festen Platz eroberten. Seit den neunziger Jahren hat sich die Vertrauenskrise nochmals verschärft.

Wachsende Unzufriedenheit mit der Demokratie und fehlendes Vertrauen in deren Institutionen dürfen nicht mit einer verminderten Qualität der Demokratie gleichgesetzt werden. Deshalb sollte man sich hüten, die Nachkriegsjahrzehnte als „goldenes Zeitalter“ der Demokratie nostalgisch zu verklären. Zum einen kann die Unzufriedenheit auch einer kritischen Grundhaltung entspringen, die mit der Demokratie nicht nur vereinbar, sondern ihr ausgesprochen zuträglich ist. Deren Qualität wäre dann vor allem daran zu messen, ob die Bürger ihr als Staats- und Lebensform grundsätzlich zustimmen.

Zum anderen muss man nach den Gründen der Unzufriedenheit fragen. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Zufriedenheit hoch, weil es einen starken ökonomischen und kulturellen Zusammenhalt in der Gesellschaft gab, der es ermöglichte, das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie zu wahren. Dies galt freilich nicht für alle Bereiche: Frauen waren zum Beispiel von der gesellschaftlichen und politischen Gleichstellung noch weit entfernt, sexuelle Minderheiten wurden diskriminiert und sogar strafrechtlich verfolgt. Hier konnten bedeutendere Fortschritte erst ab den siebziger Jahren erzielt werden.

Die „Ungleichzeitigkeit“ ist bei der Analyse des gesellschaftlichen Zusammenhalts mitzubedenken. Dieser speist sich im Wesentlichen aus zwei Quellen, die damit zugleich die (partei)politischen Grundkonflikte in den Gesellschaften markieren. Eine Quelle ist der ökonomische Wohlstand. Je stärker dieser anwächst und je gleichmäßiger er innerhalb der Gesellschaft verteilt ist, umso größer dürfte die Zufriedenheit mit der Demokratie ausfallen. Eine Schlüsselbedeutung gewinnen dabei die Daseinsvorsorge und der Sozialstaat.

Einen hundertprozentigen Zusammenhang gibt es allerdings nicht: Manche Demokratien halten große Einkommens- und Vermögensunterschiede aus, andere kommen auch mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit oder Phasen rückläufigen Wachstums zurecht. Dennoch gibt es eine klare empirische Evidenz, dass die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit eine maßgebliche Ursache für die seit den siebziger Jahren festzustellende Vertrauenskrise ist. Warum sollten die Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung, also diejenigen, die abgestiegen sind oder sich vom Abstieg bedroht fühlen, Institutionen und Akteuren vertrauen, die sie für die eigene Misere verantwortlich machen?

Die andere Quelle des Zusammenhalts ist die kulturelle. Als Verbundenheitsgefühl der Bürger stellt sie die wichtigste Determinante des sozialen Vertrauens dar. Dieses basiert auf gemeinsam geteilten Normen, weshalb es in der Forschung häufig als „generalisiertes Vertrauen“ bezeichnet wird. Generalisiertes Vertrauen unterscheidet sich von partikularem Vertrauen, das nur den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe entgegengebracht wird – seien es Familien, Freunde, religiöse Glaubensgemeinschaften oder Angehörige eines kriminellen Clans.

Soweit sie nicht gemeinwohlschädliche Ziele verfolgen wie die letztgenannten, sind solche Vertrauensbeziehungen in einer Demokratie ebenso gang und gäbe wie legitim. Zum Problem werden sie erst, wenn neben ihnen kein generalisiertes Vertrauen besteht. Wo die Menschen nur den Angehörigen ihrer Gruppen vertrauen, gedeihen Klientelismus, Korruption und religiöser Fanatismus. Demokratien sollten sich also bemühen, ein möglichst hohes Maß an generalisiertem Vertrauen zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Als Bedingungen dafür braucht es einen Rechtsstaat, der allen die gleiche Sicherheit garantiert, einen Wohlfahrtsstaat, der soziale Absicherung unabhängig von Familien- oder Gruppenzugehörigkeiten ermöglicht, und die Gewähr, dass öffentliche Einrichtungen nicht von Gruppeninteressen in Beschlag genommen werden.

Generalisiertes Vertrauen kann also durch staatliche Politik beeinflusst werden, wobei der Herstellung rechtlicher Gleichheit sowie eines bestimmten Maßes an ökonomischer Gleichheit die Hauptrolle zukommt. Eine andere Frage ist, ob die Möglichkeit einer solchen Politik nicht ihrerseits an kulturelle Bedingungen geknüpft ist, die sich der Beeinflussbarkeit unter Umständen entziehen. In der Demokratieforschung wird dies besonders mit Blick auf zwei Aspekte diskutiert: die ethnisch-kulturelle Homogenität einer Gesellschaft und das Vorhandensein von Sozialkapital.

 

Nationale Identität in der Einwanderungsgesellschaft

 

Empirisch eindeutig belegen lässt sich, dass eine möglichst große Homogenität der Bevölkerung in ethnisch-kultureller Hinsicht der demokratischen Stabilität zugute kommt. Historisch reflektiert wird dieser Zusammenhang im Konzept der Nation. Staats- und Nationswerdung bilden im neuzeitlichen Modernisierungsprozess eine Symbiose. Der Nationalismus war dabei zugleich die wichtigste Triebfeder der Demokratisierung, postulierte er doch die Überwindung jener dynastischen Prinzipien, die auch Nicht-Angehörige der Nation dem Willen des Herrschers unterwarfen.

Fragt man nach den Ursachen der Konflikte, die den nationalen Zusammenhalt der heutigen Demokratien bedrohen, werden zwei verschiedene Typen von Konflikten häufig vermischt. Der eine Typ sind Konflikte, die durch das Vorhandensein von einer oder mehreren Nationen innerhalb eines Staatsverbandes charakterisiert sind. Diese verstehen sich als historische Gemeinschaft, die eine bestimmte Sprache oder Kultur teilen, verfügen über relativ festgefügte institutionelle Strukturen und konzentrieren sich in der Regel auf ein bestimmtes Territorium. Der andere Typ des kulturellen Pluralismus ist durch Migration bedingt, wobei man nach den Quellen wiederum grob zwischen Arbeits- und Flüchtlingsmigration unterscheiden muss. Hier entscheidet ein Staat, eine größere Zahl von Personen und Familien aus anderen Kulturkreisen im eigenen Land aufzunehmen und ihnen zu gestatten, einen Teil ihrer Partikularität beizubehalten.

Von den erstgenannten Nationalitätenkonflikten sind nur eine begrenzte Zahl von Ländern betroffen – dies allerdings in zunehmendem Maße. Beispiele sind die sezessionistischen Bestrebungen in Belgien, Kanada, Großbritannien oder Spanien, die sich seit den siebziger Jahren deutlich verschärft haben. Bei den zuwanderungsbedingten Konflikten ist wiederum zum einen zwischen klassischen Einwanderungsländern und den historisch gewachsenen europäischen Nationen zu unterscheiden, wobei letztere sich nochmals in die Länder mit oder ohne koloniale Vergangenheit sowie die wirtschaftsstärkeren nordeuropäischen oder wirtschaftsschwächeren südeuropäischen Länder unterteilen lassen. All diese Länder sind, wenn auch in unterschiedlicher Weise und Intensität, von der Migration aus kulturfremden Räumen betroffen. Darin unterscheiden sie sich von einer besonderen dritten Gruppe – den nach 1989 neu oder wieder entstandenen Demokratien Mittelosteuropas – die von starker Abwanderung geplagt sind und sich dennoch (oder gerade deshalb) gegen jegliche kulturfremde Zuwanderung stemmen. Auch Ostdeutschland fällt als postkommunistische Teilgesellschaft der Bundesrepublik in diese Gruppe.

Wie sich die Zuwanderung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die staatsbürgerliche Solidarität auswirkt, ist Gegenstand der Debatte um die richtige Integrationspolitik. Normativ geht es dabei um die Frage, welche Art der Identifikation mit dem Aufnahmeland den Zuwanderern abverlangt werden kann. Soll sie strikt politisch sein, im Sinne der Anerkennung der in der Verfassung eines Staates aufgeführten Regeln und Prinzipien? „Oder erfordert sie eine umfassendere Identifikation mit der Nation, der der Einwanderer beigetreten ist, wozu die Achtung und Anerkennung nationaler Symbole, das Sprechen der Landessprache, die Akzeptanz einer Variante der ‚nationalen Erzählung‘ sowie die Anerkennung der herausragenden Stellung gehören wird, die einige kulturelle Eigenarten im nationalen Bewusstsein einnehmen, darunter möglicherweise auch eine bestimmte Religion?“ (David Miller)

Für Einwanderer, die ihre kulturellen Wurzeln in nichtliberalen Gesellschaften haben, kann insbesondere die letztgenannte, umfassendere Anforderung eine harte Zumutung darstellen. Umgekehrt stellt sich aus der Sicht der aufnehmenden Gesellschaft die Frage, welche Folgen es für sie hat, wenn die Integration der Einwanderer misslingt. Maßgeblich für deren Erfolg dürfte einerseits die Zahl der Migranten sein, andererseits das Tempo, mit dem sich die Migranten den Normen der Mehrheitsgesellschaft anpassen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das generalisierte Vertrauen. Internationale Vergleichsstudien zeigen, dass dieses in den nichtliberalen Gesellschaften ein nahezu durchweg niedrigeres Niveau aufweist als in den etablierten Demokratien der Aufnahmeländer. Bei einer zu hohen Zahl von Zuwanderern droht deshalb nicht nur das Vertrauen zwischen den Zuwanderern und Einheimischen Schaden zu nehmen, sondern auch das Vertrauen innerhalb der jeweiligen Gruppen. Wie stark diese Negativwirkungen sind und von welchen Kontextfaktoren sie abhängen, ist in der Forschung aber noch weithin ungeklärt.

 

Von der Individualisierung zur „Gesellschaft der Singularitäten“

 

Damit ist auf die zweite Determinante des Zusammenhalts verwiesen, das Sozialkapital. Dessen Neuentdeckung ist vor allem auf die Arbeiten des amerikanischen Politologen Robert Putnam zurückzuführen. Putnam definiert das Sozialkapital als Produkt informeller Nachbarschaftsbeziehungen und solidarischer Netzwerke in einer Gemeinde, das nicht nur dem Einzelnen zum Vorteil gereiche, sondern zugleich der Verbesserung der Lebensbedingungen der gesamten Gemeinschaft und damit der allgemeinen Wohlfahrt diene.

Der Grund dafür sei, dass die Netzwerke zur Entstehung von „Normen einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit“ beitrügen. Man tut etwas für die anderen, auch wenn man dafür keine unmittelbare Gegenleistung erhält, weil man weiß, dass die anderen dieses Verhalten irgendwann erwidern werden. Vertrauen wird damit zum „Gleitmittel“ des gesellschaftlichen Lebens. „Wenn wirtschaftliches und politisches Handeln in dichte Netzwerke sozialer Interaktion eingebettet sind, verringern sich Anreize für Opportunismus und Fehlverhalten“, so Putnam. Der Begriff „Kapital“ verweist darauf, dass solche Netzwerke nicht einfach da sind – wie physisches und Humankapital müssen sie vielmehr aufgebaut und gepflegt werden. In sie zu investieren liegt dabei nicht nur im Interesse der Gemeinschaft selbst, sondern ist auch eine Aufgabe des Staates.

Die Theoretiker des Sozialkapitals haben plausibel zeigen können, warum das Engagement in bürgergesellschaftlichen Vereinigungen sich positiv auf das soziale und politische Vertrauen auswirkt. Sie tun sich aber schwer, das genaue Verhältnis von Ursache und Wirkung zu bestimmen. Ist Vertrauen eine Folge des Engagements? Oder setzt das Engagement ein gewisses Maß an Vertrauen bereits voraus? Handelt es sich um eine reziproke Beziehung, stellt sich die Frage, welche Einflussrichtung überwiegt. Die Befunde der bisherigen Studien geben darauf keine klaren Antworten. Dies könnte auf konzeptionelle Schwächen zurückzuführen sein, wenn die Autoren zum Beispiel zwischen den verschiedenen Formen des Sozialkapitals nicht genügend unterscheiden. Oder es liegt an der Unzulänglichkeit der verfügbaren Daten und eingesetzten Methoden.

Vergleichende Längsschnittuntersuchungen belegen keinen allgemeinen Rückgang des Sozialkapitals, sondern einen Formenwandel. Die – in Putnams Terminologie – „brückenbildenden“ Vereinigungen, die individuelles Wohlsein mit kollektiven Zwecken verbinden, gehen zurück. Die neueren Formen sind weniger solidarisch – sie kennzeichnet „eine Art Privatisierung des Sozialkapitals.“ Festzustellen ist auch, dass sich das Sozialkapital ungleicher verteilt. Vor allem die weniger wohlhabenden Teile der Bevölkerung halten sich vom Engagement fern oder sind von ihm ferngehalten. Die Gründe dafür werden einerseits in der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit gesehen; zum anderen liegen sie in der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals, also Bildung und Ausbildung, die in der heutigen Wissensgesellschaft größere Bedeutung für die soziale Schichtung gewinnen als das ökonomische Kapitel.

Soziologen beschreiben den seit den fünfziger Jahren beobachteten Prozess der Auflösung vormals identitätsstiftender Milieus mit dem Begriff der Individualisierung. Fiel der Beginn dieser Entwicklung in die Hochzeit der klassischen Industriegesellschaft, so hat sich die mit ihr einhergehende Pluralisierung und Fragmentierung der Gesellschaft im Übergang vom Industrie- zum Wissenszeitalter nochmals beschleunigt. Der Sozialhistoriker Lutz Raphael spricht von einer in den siebziger Jahren einsetzenden, etwa drei Jahrzehnte währenden Umbruchphase, an die sich mit dem Boom der New Economy, dem Siegeszug des Internets und der rasch voranschreitenden Globalisierung eine weitere Phase gesellschaftlicher Umwälzungen unmittelbar angeschlossen habe. Für beide Phasen ist kennzeichnend, dass sie eine wachsende Zahl von Menschen hinterließen, die sich als Verlierer der Modernisierungsprozesse wähnten oder es tatsächlich waren.

Wie Ökonomie, Kultur und Politik in diesen Prozessen zusammenspielen, hat der Soziologie Andreas Reckwitz in seinem Buch über die Gesellschaft der Singularitäten prägnant analysiert. Ökonomisch tue sich in der Spätmoderne eine doppelte soziale Schere auf – zum einen zwischen den Hochqualifizierten des expandierenden Kultur- und Wissenssektors und den Geringqualifizierten, die einfache Dienstleistungen erbringen oder sich außerhalb des Arbeitsmarkts befinden, zum anderen zwischen den Erfolgreichen und weniger Erfolgreichen innerhalb des Wissenssektors. Kulturell fröne die neue, akademische Mittelklasse einem Lebensstil, der – von der Gesundheit über das Wohnumfeld bis zu Bildung, Erziehung und Freizeitgestaltung – hohen ästhetischen und moralischen Maßstäben folge, während die neue Unterklasse eine Entwertung der Arbeit erfahre, die sie auch in ihrer Lebensführung entwerte. Und politisch sei der Staat immer weniger in der Lage oder willens, in diese nach eigenen Gesetzen verlaufenden Prozesse steuernd einzugreifen.

Reckwitz interpretiert den Wandel als „Ausformungen einer Krise des Allgemeinen“ und wirft die Frage auf, wie eine zumindest provisorische Rekonstitution des Allgemeinen in der heutigen Gesellschaft möglich sein könnte. Um deren Zusammenhalt zu erneuern, gelte es beides zu regulieren: die Wirtschaft „mit Blick auf Fragen sozialer Ungleichheit sowie des Arbeitsmarktes und das Kulturelle mit Blick auf die Sicherung allgemeiner kultureller Güter und Normen.“ Dazu müsse der Staat die passive Rolle, die er in der Vergangenheit gegenüber der Gesellschaft eingenommen habe, ablegen und wieder aktiver werden.

 

Neue Konfliktlinien in den Parteiensystemen

 

Welche Konfliktlinie für das Funktionieren und die Stabilität der Demokratie relevanter ist – die ökonomische oder die kulturelle –, darüber sind sich die Demokratieforscher uneins. Die Theoretiker des postmaterialistischen Wertewandels und der größere Teil der Populismusforschung gehen davon aus, dass wertebezogene Fragen gegenüber den Verteilungsfragen an Bedeutung gewonnen hätten, wobei der Rechtspopulismus häufig als Reaktion auf die linksliberale Identitätspolitik interpretiert wird. Hier könnte zugleich eine Erklärung für die zunehmende Polarisierung der Parteiensysteme und das Auftreten demokratiegefährdender Tendenzen liegen: Identitätspolitische Fragen sind als „Wahrheitsfragen“ hochgradig moralisch aufgeladen und von daher weniger für die Kompromissbildung geeignet als Verteilungsfragen.

In den USA lässt sich dieser Rigorismus etwa bei den militanten Abtreibungsgegnern beobachten, in Europa bei den „Skeptikern“ der Zuwanderung und – neuerdings – bei den Verfechtern eines strengen Klimaschutzes. Wer in der Abtreibung einen Verstoß gegen das göttliche Recht sieht oder wer glaubt, dass ein Land sich durch die Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen selbst „abschafft“, wird denen, die Abtreibungen zulassen und die Zuwanderung ermöglichen, wenig Toleranz entgegenbringen. Der politische Gegner gerät dann leicht zum Feind, dem man die moralische Integrität und damit zugleich die demokratische Legitimität grundsätzlich abspricht. Ein solcher Feind gehört nicht nur bekämpft, sondern muss ausgeschaltet werden. Dafür sind – wenn es sein muss – auch illegitime oder illegale Mittel recht.

Solange die Herausforderer in der Oppositionsrolle verharren und ihre Unterstützung eine bestimmte kritische Schwelle nicht erreicht, mögen die demokratiefeindlichen Gesinnungen keine ernsthafte Bedrohung darstellen. Gelangen die Populisten jedoch selber an die Macht, besteht die Gefahr, dass sie ihren autoritären Neigungen nachgeben und die Außerkraftsetzung der demokratischen Regeln tatsächlich betreiben. Dass solche Befürchtungen keineswegs aus der Luft gegriffen sind, zeigen die Entwicklungen in Ungarn und Polen.

Die Behauptung einer zunehmenden Dominanz identitätspolitischer Fragen scheint mit Blick auf das Verschwinden des einstmals prägenden Klassenkonflikts gut begründet. Sie übersieht aber, dass (auch) die Verteilungskonflikte im Zuge des nachlassenden wirtschaftlichen Wachstums seit den siebziger Jahren größer geworden sind. Der Unterschied liegt darin, dass sich die Auseinandersetzung in eine Reihe von Unterkonflikten „verflüchtigt“ hat. Es gibt nicht mehr den einen großen, sondern eine Vielzahl von ökonomischen Konflikten – zwischen Steuerzahlern und Leistungsempfängern, sicheren und prekären Arbeitsverhältnissen, wirtschaftsstarken und -schwachen Regionen, der jungen und der älteren Generationen –, bei denen die Interessen der verschiedenen Gruppen immer weniger übereinstimmen. Auch der Umwelt- und Klimaschutz ist trotz seiner Wertebasiertheit primär der sozioökonomischen Konfliktachse zuzuordnen, erfordert er doch – je nach Bereich unterschiedlich weitreichende – staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen.

Hinzu kommt, dass sich eine genaue Trennlinie zwischen ökonomischen und kulturellen Konflikten häufig gar nicht ziehen lässt, da beide eng verwoben sind. Am deutlichsten zeigt sich das beim Thema Migration. Wertebezogene Konflikte über die kulturelle Zugehörigkeit der Zuwanderer verquicken sich hier mit verteilungsbezogenen Auseinandersetzungen um Löhne und staatliche Leistungen, die vor allem das untere Drittel oder Viertel der Bevölkerung, aber auch die um ihren Abstieg fürchtenden Mittelschichten betreffen. Dies gilt zumal, als der Wohlfahrtsstaat durch den globalen Wettbewerb – dessen Verlierer er eigentlich schützen soll – heute selbst unter Druck gerät.

Wie die ökonomischen und kulturellen Konflikte genau zusammenwirken, bleibt unter den Interpreten des Rechtspopulismus umstritten. Die von manchen vertretene These, die identitätspolitischen Themen dienten lediglich dazu, die ökonomischen Probleme „aufzuladen“ oder von ihnen abzulenken, dürfte zu kurz greifen. Zum einen setzt sich auch die kulturelle Konfliktlinie aus unterschiedlichen Streitfragen und Unterkonflikten zusammen. Davon besitzen verteilungspolitisch nicht alle die gleiche Relevanz wie die Zuwanderung. Die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen nimmt zum Beispiel niemanden etwas weg. Zum anderen behalten die wertebezogenen Konflikte jenseits der verteilungspolitischen Aspekte eine eigenständige Bedeutung – und zwar umso mehr, je größer die kulturellen Unterschiede zwischen den Zuwanderern und der Aufnahmegesellschaft sind.

Hauptverlierer des Parteiensystemwandels sind die einstmals systemtragenden Volksparteien. Weil sie auf beiden Konfliktachsen „mittige“ und zum Teil voneinander wenig unterscheidbare Positionen vertreten, leiden sie unter der Polarisierung, während die ideologisch radikaleren Vertreter profitieren. Die Sorge vor einer „Stärkung der Ränder“, die bisweilen alarmistische Analogien zur Zwischenkriegszeit und dem Scheitern der Weimarer Republik hervorbringt, darf aber den Blick auf die tieferen Wurzeln der Polarisierung nicht verstellen. Diese liegen in der Zersplitterung und Segmentierung der heutigen Gesellschaft, der von Reckwitz so bezeichneten „Krise des Allgemeinen“. Gerade hier könnte und müsste sich die „brückenbauende“ Funktion der Volksparteien neu bewähren, um Gemeinschaftlichkeit und Gemeinsinn in die Demokratie zurückzuholen.

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