Ulfila – Bischof der Christen im gotischen Land

Seine Bedeutung für die Anfänge des gotischen Christentums

Im Rahmen der Veranstaltung "Die Goten in der Geschichte Europas", 28.02.2020

In Leben und Werk Ulfilas sind die Anfänge des Christentums unter den Goten greifbar. In seiner Person laufen unterschiedliche Entwicklungsstränge des 4. Jahrhunderts von maß­geb­licher Bedeutung zusammen, darunter die römisch-gotischen diplomati­schen Bezieh­un­gen, dogmatische Streitigkeiten der Kirche des Imperium Romanum, die Missions­geschichte und Martyrien im Barbaricum, sowie die Erfindung einer gotischen Schrift und die Über­setz­ung der Bibel in die gotische Sprache. Ulfilas Einfluss auf die genannten Entwicklungen reicht über seine Lebenszeit hinaus.

 

I. Überblick

 

Die Geschichte der (West-)Goten und ihres Christentums lässt sich in vier Ab­schnitte einteilen. Der erste Abschnitt erstreckt sich vom 1. bis ins 3. Jahrhundert. In diesem Zeit­raum breitete sich das Christentum im Wesentlichen in­nerhalb des Römischen Reiches aus. Parallel dazu wanderten die Vorfahren der Goten an die Peripherie der Mittelmeerwelt. Eine Beziehung zwischen den Goten und dem Christentum lässt sich in dieser Zeitspanne nicht nachweisen.

Der zweite Abschnitt erstreckt sich vom späten 3. Jahrhundert bis 375/376. Das Römische Reich wurde in dieser Zeit christlich. Die Be­völkerungsmehrheit blieb sicher noch bis ins 5. Jahrhundert heid­nisch, die mei­nungsführende und gesetzgebende Elite christianisierte sich jedoch rasch. Die Goten erlebten diesen Prozess als direkte Nachbarn des Rö­mischen Reiches mit. Es gab unter ihnen Individuen, die den Status freier Goten hatten und das Christentum praktizierten. Die beiden genannten Aspekte, Go­tisch-sein und Christ-sein, blieben jedoch konzeptionell klar ge­trennt: Die Stammesidentität der terwingischen Goten war heidnisch geprägt. Die Landkarte (Abb. 1) skizziert den Balkanraum in dieser Zeit zeigt Siedlungsgebiete und Wanderungsströme.

Der dritte Abschnitt dauerte vom späten 4. bis zum Ende des 6. Jahrhunderts. Die Konversion der Westgoten zum Christentum fand in dieser Zeit auf Reichsboden statt. Sie haben dabei bewusst ein von der Orthodoxie der rö­mischen Reichskirche ab­weichendes christliches Bekenntnis angenommen. Die Zugehörigkeit zu diesem gotischen christlichen Bekenntnis war wenigstens für die Obrigkeit konstitutiv. Gotisch-sein bedeutete, Anhänger eines anderen Chris­tentums zu sein als die übrigen Reichs­bewohner. Das Bekenntnis erfüllte eine Funktion als ein Kennzeichen von Alteri­tät und dokumentierte einen höheren Sta­tus.

Im Anschluss hieran gab es seit dem späten 6. Jahrhundert und bis 711 einen vierten und letzten Abschnitt der Beziehung der Westgoten zum Chris­tentum. Seit 589 hingen die Goten demselben katholischen Glauben an wie die hispanische Bevölkerungs­mehrheit des Regnum Toledanum. Das bedeutete einen konzeptionellen Um­bruch, der von einer Stammes- oder Volksreligion, die den Goten ei­gen sein konnte, weg- und zu einer Reichsreligion hinführte, die alle Ein­wohner und Unterta­nen umfasste.

 

II. Leben des Ulfila

 

Ulfilas Name ist gotischer Herkunft, in griechischer und lateinischer Sprache in einer Reihe von Schreibweisen überliefert und bedeutet etwa „Wölfchen“.

Die ersten Christen, die im Gebiet der Goten lebten, waren als Sklaven dorthin gelangt. Sie waren die Opfer einer Reihe von gotischen Vorstößen gegen das Römische Reich, die im 3. Jahrhundert geführt wurden. So wurden vor allem aus Kleinasien Menschen — und darunter Christen — auf dem Seeweg in das gotische Barbaricum entführt. Die kirchengeschichtlichen Quellen, die von diesen Entführungen berichten, suggerieren, dass auf diese Weise sogar viele Christen zu den Goten gelangt seien, was je­doch nicht unabhängig zu belegen ist.

Im Jahr 257 sind auch Ulfilas Vorfahren von den Goten verschleppt worden, ihre Heimat war das Dörfchen Sadalgolthina auf dem Territorium des kappadokischen Par­nassos, gelegen  etwa 100 Kilometer süd-südöstlich vom heutigen Ankara. Der christliche Glaube wurde Ulfila also von seinen Großeltern mitgege­ben. Es wird oft davon ausgegangen, er sei das Kind eines goti­schen Vaters und einer Mutter, die von jenen Kappadokiern abstammte. Dahinter ste­cken Annahmen und Analogieschlüsse, wie ethnische Zugehörigkeit und der Sta­tus des Freien weitergegeben werden – nämlich über den Vater –, beziehungsweise welcher Eltern­teil die religiösen Überzeugungen stärker prägt – nämlich die Mut­ter. Sein Name ist jedenfalls eindeutig gotisch, sagt jedoch nichts über den sozialen Stand aus. Herwig Wolfram formuliert griffig: „Was immer auch die Vorfahren des Gotenbis­chofs für diesen bedeuteten, die ethnische Zugehörigkeit Ulfilas zu den Goten steht außer Fra­ge. Er war ein geborener Gote, von dessen nichtgotischen Groß­eltern man — im Un­terschied zu vielen seiner Stammesgenossen — eine verlässliche Nach­richt besitzt.“

Eine Fülle von Quellen berichtet über das Leben und Wirken Ulfilas: Er wurde in der Gothia geboren, wuchs dort im christlichen Glauben auf und wurde Lektor in seiner Gemeinde. In dieser Funktion nahm er an einer Gesandtschaft nach Konstantino­pel teil und wurde im Römischen Reich zum Bischof geweiht. Nach seiner Rückkehr wirkte Ulfila sieben Jahre lang in seiner Heimat als Bischof, bis er zusammen mit seiner Gemeinde verfolgt wurde und von Constantius II. die Erlaubnis erhielt, sich bei Nikopolis in der Provinz Moesia anzusiedeln. Ulfila nahm 360 am Konzil von Konstantinopel teil und reiste nach 381 nochmals in die öst­liche Hauptstadt, um an einem weiteren Konzil teilzunehmen, verstarb jedoch vor dessen Beginn. Er vertrat ein homöisches Christen­tum, entwickelte ein Alphabet für die gotische Sprache und fertigte eine Bibelüberset­zung an.

Die Quellentexte nennen keine exakten Daten und sie widerspre­chen sich in den Details, woraus sich jeweils eine spezielle Intention ablesen lässt. Die Datierung von entscheidenden Ereignissen in Ulfilas Leben, darunter besonders seine Weihe zum Bischof sowie seine Teilnahme an Konzilen, hat mitunter Einfluss darauf, welche Bewertung seine Handlungen erfahren. Hervorzuheben ist hier die Schrift Dissertatio Maximini contra Ambrosium, die Dokumentation kirchenpolitischer Streitig­keiten von 381, die in anhaltenden Debatten der 420er Jahre zum Einsatz kam. Hierin wird ein Brief ausführlich zitiert, den Auxentius von Durostorum verfasste, ein Schüler des Ulfila.

Auxentius bedient sich einer durch und durch biblisch gefärbten Sprache. Besonders hervorgehoben stilisiert er Ulfila zum „Mann Gottes“ wie es Mo­ses und der Prophet Elias gewesen seien. Ulfila sollte als eine Persönlichkeit erscheinen, die unmittelbar von Gott inspiriert war, um für die bedrängten homöi­schen Gläubigen in Moesia und Thracia ein Vorbild abzugeben. Dieses Stilisieren bringt eine Gliederung von Ulfi­las etwa 70-jährigem Leben in 30 und 40 Jahre mit sich: Im Alter von 30 Jahren wurde er Bi­schof (de lec­tore triginta annorum episkopus est ordinatus), insgesamt 40 Jahre lang amtierte er, nämlich sieben im Gotenland und weitere 33 Jahre auf Reichsboden. Die Vertreibung aus dem Stammesgebiet und die Dauer seines Bi­schofsamts werden auf Moses bezogen. Ange­sichts dieser aus­ge­prägten Harmoni­sierung auf biblische Vorbilder hin dürften die angegebenen Jahre eher topisch denn als exakte Lebensdaten zu verstehen sein.

Die Zahlenangaben in Jahreszahlen umzusetzen ist also nicht unproblematisch. Das Sterbeda­tum Ulfilas ist wohl 383 (oder 382) gewesen und die Gesandtschaft nach Konstantino­pel, die zur Bischofsweihe des Ulfila führte, ist auf 336 anzusetzen. Das Geburtsdatum ist nicht präziser einzugrenzen als zu Beginn des 4. Jahrhunderts.

Der griechische Kirchenhistoriker Philostorgios schrieb im frühen 5. Jahrhundert über die Bischofsweihe des Ulfila (Philost., h.e. 2, 5, 17–21): „In der Regierungszeit Constantins wurde er (Ulfila) gemeinsam mit anderen [Goten] von dem Herrscher dieses Volks (auch die barbarischen Völker dort waren nämlich dem Kaiser untertan) auf eine Gesandtschaft geschickt und wurde von Eusebius [von Nikomedien, E.F.] und den Bischöfen, die bei ihm waren, (zum Bischof) der Christen im Gotenland geweiht.“

Die gotische Gesandtschaft, als deren Mitglied Ulfila nach Konstantinopel kam, galt Konstantin dem Großen. Dieser hatte die Terwingen militärisch besiegt und 332 einem foedus unterworfen. Ent­sprechend ist die gotische Gesandtschaft als Geste der Anerkennung der eigenen Unterordnung zu verstehen. Sie muss also zwischen 332 und 337, dem Todesjahr Konstantins, abgeschickt worden sein.

Die gotische Gesandtschaft galt dem dreißigjährigen Regie­rungsjubiläum des Kaisers im Jahre 336. Zu den tricennalia Konstantins gehörte auch ein Konzil, das im Sommer des Jahres in Konstantinopel stattfand. Angesichts der herausgehobenen Bedeutung, die Eusebius von Nikomedien in den Berichten über dieses Konzil einnimmt — er wird von den Kirchenhistorikern überein­stimmend als treibende Kraft hinter den arianer­-freundlichen Beschlüssen dargestellt –, passt das Konzil von Konstantino­pel 336 mindestens ebenso sehr zum zitierten Bericht wie die übliche Verbindung der Bischofsweihe Ulfilas mit der Kirchweihsynode von Antiochia 341. Das ausdrückliche Zeugnis, die Gesandtschaft habe Konstantin dem Großen gegolten, hat mehr Überzeugungskraft als die Zahlenangaben. Die Bischofsweihe Ulfilas fügt sich in ein dezidiert christliches Programm für Konstantins Herrschaftsjubiläum, der auf diese Weise zum Schirmherren aller Christen wird, gerade auch derjenigen außer­halb des Reichsterritoriums.

Aus der Beteiligung Ulfilas an der Gesandtschaft geht hervor, dass er eine gewisse Geltung unter den Goten besaß. Dazu hat ihm nur in geringem Maße seine soziale Stellung verholfen, Ulfila wird allgemein als freier Gote angesehen, der jedoch nicht der Stammesobrigkeit an­gehörte. Er hatte eine gute Ausbildung genossen, und konnte in drei Sprachen (Gotisch, Griechisch, Latein) durch rhetorische Fähigkeiten überzeugen. Ausschlag­gebend war jedoch sein christlicher Glaube — Ulfila nahm als lector an der Gesandtschaft teil. Hier manifestiert sich deutlich der Wunsch der gotischen Führungsschicht, dem christli­chen Kaiser Konstantin mit einer zumindest teilweise christlichen Gesandtschaft auf­zuwarten.

Ulfila versah seine seelsorgerische Mission bis gegen Ende der 340er Jahre nördlich der Donau, wurde dann aber mitsamt seiner Gemeinde vertrieben. Auf Reichsboden erfolgte die eigentliche, historisch bedeutsame Leistung des Ulfi­la. Hier entwickelte er das Alphabet für die gotische Sprache und übersetzte die Heilige Schrift aus dem Griechischen in seine Volkssprache.

Ulfila partizipierte an der kirchenpolitischen Entwicklung im Römischen Reich, wir kennen beispielsweise sein Abstimmungsverhalten auf der Synode von Konstantinopel im Jahre 360. Ulfila bestätigte bei dieser Gelegenheit seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die zunächst Eusebius von Ni­komedien angeführt hatte und der unter anderem der Bischof der Residenzstadt Mailand im Westen und kaisernahe illyrische Bischöfe im Osten angehörten. Ulfila ist damit ein namentlich bekann­ter Bischof, der sich zur vorherrschenden trinitarischen Position bekannte, die vom Kaiser Constantius II. protegiert wurde. Impulse Ulfilas für die Reichskirche lassen sich nur begrenzt feststellen.

Unter deutlich veränderten Bedingungen beschloss im Jahr 381 ein Konzil in Kon­stantinopel die nicaenisch-konstantinopolitanische Glaubensformel und im selben Jahr gelang es Ambro­sius von Mailand, die illyrischen Bistümer endgültig von nicht-nicaenischen Bischöfen zu befreien. In die­sen Kontext gehören die Dissertatio Maximini und die Nachricht, dass Ulfila auf einem Religionsdisput vermit­teln sollte. Er reiste im Jahre 383 auf Geheiß des Kaisers an, starb jedoch, ehe das Konzil begonnen hatte. Ihm blieb damit erspart zu erleben, dass Theo­dosius entgegen der ursprünglichen Planung keine Religions­gespräche führen ließ.

Auxentius von Durostorum schreibt in  der Dissertatio Maximini, 61–62: „Er [Ulfila] machte sich auf Grund des kaiserlichen Einberufungsbefehls zum Konzil nach [im Bischofsamt] erfüllten vierzig Jahren in die Stadt Konstantinopel auf zu den Ver­handlungen gegen die Ketzer. Und im Namen unseres Herrgottes hinreisend, setzte er sei­ne Kraft dafür ein, daß sie die ihm von Christus anvertrauten Kirchen nicht zerstörten und gleich­schalteten. Als er aber in der genannten Stadt eintraf, da hatten die Gottlosen durch ihre Ränke den Status des Konzils bereits abgeändert, damit sie – deren Jämmerlichkeit noch größer ist als ihre Nieder­tracht – nicht durch ihr eigenes Urteil verdammt und der ewigen Verdammnis wert erfunden wür­den. Da erkrankte er plötzlich und wurde in seiner Schwäche gleich dem Propheten Elisa hin­weggerafft.“

Die „Ketzer“ und „Gottlosen“ in diesem Zitat sind die Nicaener beziehungsweise  Katholiken, da der Text zur Verteidigung einer abweichenden, von diesen als häretisch bezeichneten Position verfasst wurde!

Die Schüler des Ulfila haben in lateinische Übersetzung folgendes Bekenntnis überliefert, welches der gotische Bischof auf seinem Totenbett bekräftigt haben soll. Bei Auxentius von Durostorum heißt es in der Dissertation, 63: „Ich glaube an den einen Gottvater, allein ungezeugt und unsichtbar, und an den eingeborenen Sohn, unseren Herrn und Gott, Schöpfer aller Kreatur, der nicht seinesgleichen hat – und daher ist einer aller Gottvater, der auch der Gott unseres Gottes ist –, und an den einen Heiligen Geist, den Lebensspender und Heiligmacher, der aber weder Gott noch Herr ist, sondern der treue Diener Christi, nicht ihm gleich, sondern unterworfen und in allem dem Sohn gehor­sam, wie auch der Sohn dem Gottvater unterworfen und gehorsam ist.“

Im Spektrum der theologischen Positionen des 4. Jahrhunderts nimmt Ulfila eine vom Nicaenum entfernte, aber noch nicht extreme Position ein. Die Gruppe der Homöer, denen er angehörte, lehnte trinitätstheologische Definitionen aufgrund von Substan­zen ab. Ulfilas Version der Dreifaltigkeit operiert ohne Sub­stanzen, Wesenheiten oder Persönlichkeiten, sondern markiert prägnant Unter­schiede und Unterordnungen. Es besteht eine klare Hierarchie der Göttlichkeit, wenn auch der Monotheismus arg verwischt erscheint. Als Quelle von Ulfilas Glaubens­überzeugung werden die Tradition und die Autorität der Heiligen Schrift genannt.

Die Rekonstruktion seines Lebens, die nachweisbaren bischöflichen Handlungen, die in der Bibelübersetzung manifestierte theologische Position und das zitierte Credo ergänzen und stützen sich gegenseitig, so dass folgendes plausibles Gesamtbild von Ulfila als Bischof des an Konflikten reichen 4. Jahrhunderts entsteht. Ulfilas Leben war zweigeteilt in etwa gleich lange Abschnitte außerhalb beziehungsweise innerhalb des Impe­riums. Sein Wirken als Bischof, das als eigentlich relevantes Han­deln erscheint, weist sogar ein deutliches Schwergewicht auf, denn seine Arbeit auf Reichsgebiet ist zeitlich umfangreicher und durch die Bibelüber­setzung auch folgenreicher. Zu Lebzeiten war der Bischof Ulfila am theologischen Diskurs be­teiligt, wie seine Teilnahme an Synoden belegt.

 

III. Gothi minores

 

Die christliche Gemeinde um Ulfila wurde mit ihrem Bischof 347 oder 348 aus dem Siedlungsraum der Terwingen nördlich der Donau vertrieben. Die gotische Füh­rungsschicht entfernte dabei eine Gruppe von Menschen, deren Loyalität sie anzweifelte, aus ihrem Einflussbereich. Denn die Gemeinde war der Reichskirche konfessionell ver­bunden, Ulfila wurde vom Kaiser protegiert. Das Christentum wurde daher von den Goten mit dem Römischen Reich identifiziert. Es ist aus dieser Perspektive folgerichtig, dass die Ulfila-Gruppe über die Donau und auf Reichsgebiet vertrieben wurde. Die Christenverfolgung von 347/348 ist eine Akti­on zur Entfernung Unerwünschter und zugleich eine symbolische anti­römische Hand­lung. Ferner ist die Relegierung des Gotenbischofs ein feindseliger Akt der regierenden konstantinischen Dynastie gegenüber denjenigen, die Ulfila zum Bischof hatte weihen lassen. Eine Be­stä­ti­gung erfuhr diese Sicht der Dinge, als die vertriebene Ulfila-Gruppe tatsächlich Asyl von Constanti­us II. erhielt und in der Umgebung von Nikopolis in Mösien Siedlungsland zugewiesen bekam.

Die Gothi minores lebten dort nachweislich als eigene ethnisch-konfessionelle gebundene Gruppe, so Jordanes, Getica 267: „Es gab auch noch andere Goten, die sogenannten Kleingoten, ein unzähliges Volk. Ihr Priester und oberster Bischof war Wulfila, der ihnen auch die Buchstaben erfunden ha­ben soll. Heutzutage bewohnen sie in Mösien die Gegend von Nikopolis am Fuß des Emimontus, ein zahl­reiches, aber armes und unkriegerisches Volk, das an nichts reicher ist als an Herden aller Art, an Tristen für das Vieh und Holz im Wald; das Land hat wenig Weizen, ist aber reich an an­deren Fruchtarten. Von Wein­pflanzungen aber wissen sie nicht einmal, dass es anderswo solche gibt, und sie kaufen sich den Wein aus der Nachbarschaft. Meist aber trinken sie Milch.“

Die Kleingoten stellten die ihnen nachgesagte allseitige Friedfertigkeit tatsächlich unter Be­weis. Als nach 376 die terwingischen Goten unter Fritigern und Alaviv sowie die Greu­tungen unter Alatheus und Safrax plündernd durch Thrakien und Mösien zo­gen, schloss sich ihnen die Mehrzahl der gotisch-stämmigen Bewohner der betroffenen Pro­vinzen an, überwiegend Sklaven. Nicht so die Kleingoten. Ganz offensichtlich be­werteten diese die gemeinsame Religion und die ihnen zuteil gewordene Aufnahme im Imperium Romanum höher als die Zugehörigkeit zu ihrem früheren Stamm.

 

IV. Bibelübersetzung

 

Die Bibelübersetzung des Ulfila schuf die Basis für die erfolgreiche Mission von Goten und Germanen durch andere Goten oder Germanen. Als einzige germanische Sprache wurde das Gotische zu diesem frühen Zeitpunkt ver­schrift­licht. Andere germanische Spra­chen erreichten diese Ent­wicklungsstufe erst etwa drei Jahrhunderte später. Die Fragmente der Bibelüberset­zung sowie die sogenannten Skeireins – eine Sammlung theologischer Kommentare zum Johannes-Evangelium in gotischer Sprache – bilden die einzigen erhalten­en Textzeugnisse für die nicht mehr ge­sprochene Sprachfamilie des Ost-Germanisc­hen.

Die Voraussetzung der Verschriftlichung der gotischen Bi­belübersetzung war zu­nächst die Schaffung eines gotischen Alphabets, das heißt die Adaption vor­han­dener Alphabet-Systeme an die Eigenheiten des Gotischen, und anschließend die Etablierung verbindlicher orthographischer Regeln für die neue Schriftform des Go­ti­schen. Das gotische Alphabet stellt eine Kombination aus den Runen des älteren Futhark und den griechischen Buchstaben dar. Die Lautwer­te der Runen wurden auf korrespon­dierende griechische Buchstaben übertragen und nötigenfalls Buchstaben des lateinischen Alpha­bets hinzugezogen.

Nach der Aussage der Kirchenhistoriker übersetzte Ulfila die gesamte Heilige Schrift ins Gotische. Philostorgios berichtet, Ulfila habe bewusst die alttestamentarischen Bücher der Könige nicht übersetzt, da die Goten ohnehin krie­gerisch seien und in dieser Hinsicht keines weiteren Zuspruchs bedürften. Die nur frag­mentarische Überlieferung macht es uns heute unmöglich, zweifelsfrei fest­zu­stellen, ob es solche Aus­lassungen tatsächlich gegeben hat. Die vier kano­nischen Evangelien und die Paulus-Briefe sind jedoch unzweifelhaft kom­plett über­setzt worden. Das be­kannteste Zeugnis stellt der Codex Argenteus dar, ein prachtvolles Manuskript, das im 6. Jahr­hundert in Italien mit silberner Tinte auf purpurnem Pergament geschrieben wurde.

In Anbetracht des Umfangs der Textbestände ist davon auszugehen, dass Ulfila die mit seinem Namen verbundene Bibelübersetzung nicht allein bewältigt hat. Stilistische Un­terschiede zwischen den Büchern stützen diese Einschätzung. Möglicherweise bereits in der Gothia, sicher aber während des Aufenthalts in Moesia gab es also einen Kreis von Mitarbeitern und Schülern, die Gotisch und Griechisch sprachen, lasen und schrieben. Gerd Kampers weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich mit der Ausbildung und Tätigkeit dieser Geistlichen eine „gotische Schriftkultur“ und zugleich eine „go­tischsprachige[…] Liturgie“ entwickelten.

Ulfila und seine Mitarbeiter haben mit der Arbeit am Bibeltext die „Möglichkeit goti­scher christlicher Rede“ (Knut Schäferdiek) geschaffen. Dies systematisch vorbereitet und ermög­licht zu haben, ist wesentlicher Teil der zeitgenössischen Leistung Ulfilas, die für die Ger­manen­mission grundlegend war. Das Gotische war die lingua franca mehrerer ostgermanischer Stämme, darunter die Goten, Gepiden, Vandalen, Burgunder und Rugier. Auf diese Wei­se ist der Homöer Ulfila als Übersetzer der Heili­gen Schrift auch dafür verant­wort­lich, dass Johannes Chrysostomus später in Kon­stantinopel den Versuch unternehmen konnte, katholische Gottesdienste in gotischer Sprache halten zu lassen!

Ein kurzer Blick auf den Text – wenige Zeilen aus dem Markus-Evangelium – illustriert die gewählte Methode der Übersetzung von Mk 15, 39, die gotische Fassung Codex Argenteus 186r.

Nach dem Tod am Kreuz war es ein römischer Centurio, also ein Heide, der als erster Mensch Jesus als Sohn Gottes erkannte. Die zitierte Textstelle beginnt etwa auf der Mitte der Seite, auf Höhe der Hervorhebung durch „ske“ links und umfasst vier Zeilen. Zu erkennen sind die Form der Buchstaben des von Ulfila geschaffenen gotischen Alphabets. Ein kleines Beispiel illustriert seine Vorgehensweise: „qaϸ“ in der Umschrift ist „UAL“ im Manuskript. Der griechische Buchstabe psi (ψ) bildet das gotische ϸ (thorn) ab. Das Wort „qaϸ“ übersetzt dabei das griechische εἶπεν, der Centurio „sagte“. Der griechische Bibeltext wurde Wort für Wort präzise übersetzt, das war man dem Text schuldig. Als Folge davon ist das Bibelgotische eine sehr spezielle Schriftsprache, welche weder die Alltags- noch die eigentliche Hochsprache abbildet.

Die Bögen, welche am unteren Rand der Seiten des Codex Argenteus zu erkennen sind, bilden Konkordanzen zwischen den vier Evangelien nach dem Eu­sebischen Kanon ab – die gotischen Kleriker und Buchkünstler nahmen also an der zeit­genössischen theologisch-praktischen Entwicklung teil, entweder bereits Ulfi­la selbst, zumindest jedoch diejenigen Schreiber, welche im ostgotischen Italien den Co­dex Argenteus anfertigten.

 

V. Konversion der Terwingen

 

Ulfila hatte keinen persönlichen Einfluss mehr auf die Christianisierung der West­goten innerhalb des Imperium Romanum, er verstarb zwischen 381 und 383. Seine Bibelübersetzung und der Stab an theologisch ausgebildeten Mitarbei­tern waren jedoch Voraussetzungen für eine Konversion der Goten und die Missionie­rung der übrigen Germanen.

Das Christentum hatte im 4. Jahrhundert unter den Goten festen Fuß gefasst. Wir kön­nen drei christliche Konfessionen nachweisen (Audianer, Homöer, Nicaener). Im Fall der beiden letztgenannten kennen wir punktuell sogar die Namen von Bischöfen, Presbytern und Mitgliedern des niederen Klerus. Die eigentliche Verschriftlichung des Gotischen und die Bibelübersetzung erfolgten zwar erst auf Reichsboden, die zugrundeliegenden theologischen Positionen blieben jedoch unverändert, Ulfila hat sie bereits in der terwingischen Heimat vertreten.

Von einer massierten Konversion des Stammes nördlich der Donau kann dennoch keine Rede sein, weder in Erfüllung einer kaiserlichen Forderung als Vorbedingung zur Donauüberquerung noch als Lippenbekenntnis. Die gotische Christenverfolgung, die eine Reaktion auf das foedus von 369 darstellte, war zu umfassend und wurde zudem auch von jenem gotischen reíks mitgetragen, der von den Kirchenhistorikern für die angebliche Konversion verantwortlich gemacht wird.

Die Religion der Goten, die 376 ins Imperium einwanderten, war sicher ihr althergebrachter heidnischer Glaube. Dessen Konturen sind schwierig nachzuvoll­ziehen. Der Kult der ansischen Ahnen, den wir am besten rekonstruieren können, band jeweils die Angehörigen der einzelnen kunja aneinander und zementierte primär den Herr­schaftsanspruch der gentilen Führungsschicht der maistans bzw. reíkeis. Dieses Herr­schafts­gefüge sollte sich während der Jahre der Migration innerhalb des Imperium Romanum tief­greifend ändern, was dazu beitrug, den Religionswechsel zu ermög­lichen.

 

VI. Antike Stimmen zum gotischen Christentum

 

Was macht die Darstellung und Beurteilung des Christentums unter den Goten nun so kompliziert? Die Sache war bereits für die Zeitgenossen heikel, da sich religiöse Differenzen und aktuelle politisch-militärische Konflikte in vielfacher Weise durch­kreuzten. Hinzu kamen Falschinformationen, egal ob diese nun absichtsvoll oder unbe­wusst falsch weitergegeben wurden. Beispielsweise glaubte der große Augustinus von Hippo an eine Verfolgung der Christen unter den Goten, und war fest davon überzeugt, diese seien sämtlich rechtgläubige, also katholische Christen gewesen.

Die Goten, von denen Augustinus seit 410 regelmäßig hörte, waren homöische, also arianische Christen, wie er sehr wohl wusste (civ. Dei 18, 52): „Soll man es vielleicht nicht als Verfolgung ansehen, wenn ein Gotenkönig im Gotenland selbst die Christen mit ungeheurer Grausamkeit verfolgt hat, als es dort nur Katho­liken gab? Sehr viele von ihnen sind mit dem Martyrium gekrönt worden: das haben wir von Brü­dern gehört, die es damals als Knaben miterlebt haben und sich genau daran erinnern konn­ten?“

Augustinus irrt hier, wenn er schreibt, dass es in irgendei­ner Verfolgungssituation unter den Goten nördlich der Donau ausschließlich katholi­sche Chris­ten gegeben habe: Bereits seit mehr als einem Jahrhundert, seit den Raubzügen des 3. Jahrhunderts, hatten Christen im Gotenland gelebt und spätestens in Ulfilas Generation gab es stammesangehörige Goten, die den neuen Glauben angenommen hatten. Seitdem haben wir Zeugnisse für Mission unter den Goten einerseits und Gegenmaßnahmen wie Vertreibung und Ver­folgung andererseits. Bis in die 370er Jahre, unmittelbar vor dem Einfall der Hunnen, gab es im Gotenland nördlich der Donau christliche Gemeinden mit niederem Klerus und Presbytern. Es lässt sich in den erhaltenen Quellen zu gotischen Martyrien an kei­nem dogmatischen Merkmal festmachen, ob es sich um nicaenische oder homöische Christen beziehungsweise Gemeinden ge­handelt hat, es gab beide Gruppen.

Unter Umständen haben sich die Traditionen erst in der Rezeption vermischt, Jahrzehnte und Jahrhunderte später, so dass ein byzantinischer Text eine adlige gotische Christin für „orthodox“ erklärt, welche die Reliquien einer Gruppe homöischer Märtyrer ins Römische Reich ver­brachte. Oder aber die Bedingungen im Go­tenland waren nicht so, dass die Christen dort, zumal in einer konkreten Verfolgungssituation, viel Zeit mit trinitätstheologischen Dif­ferenzen verwendet hätten. Außerhalb des Reichsgebiets, in einem Territorium, wo das Christentum noch nicht die offizielle Religion war, betonten christliche Gemeinden aller Konfessionen stärker die Gemeinsamkeiten der Christen untereinander gegenüber einer heidnischen Umwelt, als ihre Differenzen zu Konflikten werden zu lassen.

 

VII. Schlussbetrachtung

 

Die Beobachtung Adolf von Harnacks, dass auch nach der Erfindung des Bibelgotischen keine gotisch­spra­chig­e oder germanische Literatur aufkommt, stürzt ihn in eine Aporie: „In Tausenden von Stücken und Fetzen, in zehn Sprachen vermummt, mit späteren Schriften ver­mengt, überarbeitet und exzerpiert, liegt ein be­trächtlicher Teil der altchristlichen griechischen Literatur vor uns und muß ge­sam­melt werden. Hierbei macht man die paradoxe, meines Wis­sens noch nicht erklärte Beobachtung, daß alle Nationen, welche von helleni-schen Gelehrten die Übersetzung der Bibel in ihre Sprache er­hielten, als­bald eine reiche christlich-nationale Litera­tur ausbildeten und der Bibelübersetzu­ng andere Übersetzungen hinzufügten. Nur die Goten ha­ben das nicht getan und auch bei den deutschen Nachbarstämmen nicht er­weckt. Die Überset­zung des Ulfilas ist bei ihnen ohne jede literaturgeschi­chtliche Frucht geblieben. Woher das? Waren sie barbarischer als Kopten, Äthiopier, Armenier und Georgier? Haben andere Gründe ge­wal­tet? Ich weiß keine Antwort.“

Eine Erklärung für dieses scheinbare Problem ergibt sich aus der Landnahme und Errichtung der regna. Goten, Franken, Vandalen, Lango­barden und andere gewannen durch ihre Ansiedlung auf Reichsboden unmittelbaren Zu­gang zu den administrativen Errungenschaften des Römischen Reichs, die sie nach der tra­di­ti­onellen Zerstörungs- und Niedergangs­hypo-these dann umgehend zer­schla­gen ha­ben. Diese traditionelle Bewertung der so genannten „Völkerwanderung“ ist heute im wissenschaftlichen Diskurs überholt. Um Nutzen aus ihrer Herr­schaft über ehe­malige Reichsterritorien ziehen zu kön­nen, übernahmen Goten und Germanen administra­tive und territo­riale Struktu­ren und kooperierten mit den etablierten Eliten.

Dass die Verwaltung sich der lateinischen Sprache bediente, belegen die überlieferten Rechtscodi­ces nachdrücklich. Die literaten Germanen hatten also unmittelbaren und greifbaren Nutzen von lateinischer Schriftlichkeit. Insofern ist das Ausbleiben einer germani­schen oder gotischsprachigen Literatur die direkte Kehrseite der militä­risch-politischen Erfolge. Der römische Verwaltungsapparat und die lateinische Spra­che prägten die Eindringlinge nachhaltig, die zuvor den militärischen Sieg davongetragen hatten.

Ulfilas Bedeutung für das gotische Christentum ist kaum zu überschätzen. Von ihm oder bei ihm ausgebildete Kleriker erhielten eine Bibelübersetzung in der gotischen Volkssprache sowie eindeutige, in der Praxis als Missionare nutzbare Richtlinien in der Trinitätstheologie. Im mösisch-dakisch-thrakischen Raum trafen diese Ulfila-Schüler auf die vor den Hunnen geflohenen terwingischen Goten. Diese waren zuvor sesshaft gewesen, nun allerdings erzwungen entwurzelt und mobilisiert. Sie standen in täglichem, engem Kontakt zu romanisierten Einwohnern des Imperium Romanum und lebten unter kaum zu kontrollierenden, fundamental unsicheren Bedingungen. Diese Gemengelage – gravierende Umwälzung der Lebensumstände und erleichterte, intensivierte Mission in der eigenen, gotischen Sprache – machte Ulfila zum mittelbaren Stifter des Christentums der Westgoten.

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