Ich fange mit meinem Impulsvortrag von außen an, ich spreche nicht aus dem Innern der Kirche, sondern aus dem Innern einer anderen Kulturinstitution – nur 200 Jahre alt, im Unterschied zur 2000-jährigen Geschichte der Kirche. Aber wir haben, glaube ich, ähnliche Aufgaben in der Gesellschaft von heute, nämlich Relevanz zu entfalten und dabei Kunst als eine Ressource, als Rohstoff, und Künstler als treibende intellektuelle Kraft zu begreifen. Deswegen sei es mir gestattet, dort weiterzumachen, wo Herr Professor Sternberg gestern aufgehört hat. Ich werde also in einem Prolog das Thema Kirche – Kunst – Museum metaphysisch einbetten und dann am Exempel zweier Transzendental-Institutionen – meinem eigenen Museum und der Kunst im öffentlichen Raum – Ihrer Fragestellung näher rücken. Es wird vielleicht einiges überraschend sein, was ich Ihnen zeige an zeitgenössischer Kunst, so wie sie sich heute als engagierte und sehr realitätsnahe Kraft darstellt. Zum Schluss will ich ganz kurz eine Erinnerung wachrufen als Anknüpfungspunkt für die Diskussion.
Ich falle gleich mit der Tür ins Haus. Herr Sternberg hat gestern den Künstler Christian Boltanski zitiert – das fand ich total super –, der gesagt hat, er stelle gern in sakralen Räumen aus, weil nur dort heute noch die großen existenziellen Fragen der Menschheit verhandelt werden. Im Museum geht es uns aber auch um existentielle Fragen – und wir tun gut daran, die Rahmenbedingungen dafür neu zu gestalten.
Prolog: Kirche – Kunst – Museum
„In the long run we all are dead.“ Lord Keynes hat es gewusst, und wir wissen es eigentlich auch: Unsere Lebenszeit ist kurz. Wir kommen spät und gehen früh, und die Strecke dazwischen, die unser Leben ist, ist Frist, Episode. Unser Sein ist Sein zum Tode. Temporäre Ausflucht aus dieser subjektiven Lebenszeit bot bis in das 19. Jahrhundert die Teilhabe an der Ewigkeit Gottes, der Gang in den Kultraum Kirche. Dort wirkten Reliquien Wunder. Die Anwesenheit der leiblichen Überreste von Heiligen nimmt Bezug auf das, was nicht anwesend ist. Die Reliquie in ihrem kostbar gestalteten Schneewittchen-Sarg repräsentiert ein Unsichtbares. Die Reliquie ist Repräsentant des fernen Gottes.
In diesem Sinne werden Knochenreste zu Zeichenträgern. Einer der großartigsten Museumsphilosophen – Krzysztof Pomian – nennt diese Zeichenträger Semiophoren. Semiophoren vermitteln zwischen der profanen Welt des Kirchgängers und einer unsichtbaren Welt der Religion. Doch die Reliquie braucht das Reliquiar. Erst der artifizielle Rahmen sorgt für die Schaustellung des Knochenrests, der nicht Kunstwerk ist, sondern religiöses Zeichen. Sein kostbares Behältnis aber stellt eine direkte Beziehung zum Ästhetischen her. So teilen sich das Religiöse und das Ästhetische ein und dieselbe Atmosphäre, formen gemeinsam den Kultraum der Kirche.
Im Zeitalter der transzendentalen Obdachlosigkeit erlöst uns kein Himmel mehr. Gott ist tot, laut Friedrich Nietzsche. Die sich stetig beschleunigende Welt der Moderne ersetzt die alten Kultorte durch neue. Heute fliehen wir ins Museum. Vor Vitrinen, die nicht mehr selbst Kunstwerk sind, aber verehrungswürdige Kunstwerke beinhalten, wie Edgar Degas‘ Tänzerin (Foto?). Die Künstler der Moderne setzten sich an die Stelle des alten Schöpfergotts, und sie setzen ein neues Unsichtbares in die Welt: die immateriellen Werte ihrer Werke, die durch gesellschaftliche Absprachen zu Bedeutungsträgern werden – mit der Folge von schwindelerregenden Tauschwerten. Diese Substantiation vom Ding zum Werk und vom Kunstwerk zum Bedeutungsträger vollzieht sich jedoch nur im Gesehenwerden.
Moderne Kunst braucht die Ausstellung und zugleich den Schutz des Museums wie einst die Reliquie das Reliquiar. Erst im Sichtbarwerden und Ausgestelltsein konstituiert sich seit der Moderne die Kunst. Statt vor dem Altar schart sich also die moderne Fortschrittswelt um das Rätsel des sanktionierten Kunstwerks. Hier kann der getriebene Mensch der Gegenwart, freilich ohne verbürgte Heilserwartung, noch Transzendenz erspüren, Sinn erfahren, Gemeinschaft erleben. Aufgehoben in der ewigen Gegenwart des Kunstwerks und seiner Bedeutungsdichte entkommt er für kurze Zeit der Endlichkeit seines irdischen Seins.
Kunsthalle Mannheim – Museum in Bewegung
Soweit mein Prolog, und auf dieser Grundlage stelle ich jetzt kurz die Wiedererfindung der Kunsthalle Mannheim als ein offenes und öffentliches Museum für moderne und zeitgenössische Kunst vor. Ich rede ja hier vor einem Publikum, das geübt ist, Gleichnisse zu lesen und zu interpretieren, und so werden Sie das, was ich Ihnen jetzt entfalte, relativ rasch auch als eine Form von Metapher verstehen.
Das Museum ist ebenso wie die Kirche in die Jahre gekommen, und es ist an der Zeit, in einer fragiler werdenden Demokratie, diese Kulturinstitution in gewisser Weise noch einmal von vorn zu denken. Wir haben in Mannheim, am Rande der Republik, mit dem Rückenwind eines Neubaus versucht, ein „Museum in Bewegung“ zu definieren. Das heißt, wir wollen Menschen emotional und leibhaftig bewegen und bewegen uns als Institution dabei selbst. Die Kunsthalle ist eines der frühesten Moderne-Museen in Deutschland, 1909 gegründet, mit einer herausragenden Sammlung, die bis in die unmittelbare Gegenwart geht. Das Herz unseres Selbstverständnisses ist bis heute die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst.
Das Schlüsselwerk, das wir seit Gründungstagen in unseren Mauern beherbergen, Édouard Manets „Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko“, (Foto) ist in seiner Entstehungszeit ein politisches Statement gewesen.
Und es ist jetzt an uns Museumsleuten, diese Art von engagierter Kunst nicht in einer weihevollen Wahrnehmung stillzustellen, sondern eine Umgebung zu schaffen, die es dem heutigen Publikum ermöglicht, die ursprüngliche Brisanz neu zu erspüren. Manet wollte kein Schlüsselwerk der Malereigeschichte schaffen – es ist natürlich eines geworden –, sondern er hat ein Statement gegen die Außenpolitik von Kaiser Napoleon III. formuliert. Das Gemälde durfte zu Lebzeiten des Künstlers nie ausgestellt werden. Wir knüpfen an diese Ursprünge, an die einstige gesellschaftliche Relevanz dieser Kunst an. Dabei hilft uns eine Sammlung, die das Hauptaugenmerk auf Existenzfragen der Menschen lenkt. Fragen, die wir trotz aller technischen Errungenschaften bis heute nicht wirklich gelöst haben und die wir vielleicht nie lösen werden, weil sich immer neue Generationen daran reiben. Es sind die alten Grundfragen zu Leben und Tod, Sein und Vergänglichkeit; es ist die Sehnsucht nach Transzendenz, die unser alltägliches Leben übersteigt.
Ein bisschen Eigenwerbung muss sein und so verweise ich auf unseren Neubau am Friedrichsplatz in Mannheim – ich kann Sie nur alle einladen –, und auf der anderen Seite steht der historische Jugendstilbau. Wir haben während der Bauzeit ganz dezidiert im Team – so etwas macht keiner allein – gefragt: Wie kriegen wir die Öffnung in die Gesellschaft von heute hin? Wie verlassen wir als Kulturinstitution den Elfenbeinturm und bringen uns ein? Wie können wir die Energie, die wir aus der uns umgebenden Stadt ziehen (nicht zuletzt ja auch das Geld, mit dem wir alimentiert werden) zurückgeben, wie machen wir die Gesellschaft mit dem, was wir bieten können an Kulturverdichtung, reicher?
Es ist dabei eine Art Narration, die Geschichte von der „Stadt in der Stadt“, entstanden. Und ich kann sagen, das ist sehr gut angekommen in der Museumslandschaft, aber auch weit darüber hinaus. Wir haben im Moment ein hoch inspiriertes Publikum im Haus. Und wir sind noch einen Schritt weitergegangen (ich bin sicher, dass die Kirche sich diese Grundsatzfrage auch stellt oder stellen muss): Wie kommunizieren wir überhaupt noch mit einer Gesellschaft, in der das Bildungsbürgertum immer weniger wird, und in der jüngere Generationen mit neuen Formen von Technologie aufwachsen? Daraus ist eine umfassende digitale Strategie geworden, die wir Schritt für Schritt verwirklicht haben und die in der steten Aktualisierung ein andauerndes Projekt unseres Hauses blieben wird.
Die neue Offenheit des Museumskonzepts hat sich der Architektur realiter eingeprägt. Wir sind eine „Stadt in der Stadt“. An jeder Stelle kann man aus dem Haus hinausschauen, und die Stadt schaut zurück. Es gibt Brücken und Terrassen, über die man flaniert zu den Kunsträumen, die wir Kuben nennen. Die Kuben sind in sich geschlossene Wahrnehmungsräume, Konzentrationsräume, in denen wir unsere klassisch-moderne Sammlung sehr unkonventionell in Zwie- und Streitgespräche mit zeitgenössischer Kunst verwickeln.
Ein Beispiel: Wir hüten einen deutschlandweit bekannten Skulpturenschwerpunkt, darunter auch figurative Plastik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da fragt man sich als Kunsthistoriker schnell: Was mache ich denn damit? Wir haben einfach eine Menschenmenge daraus gemacht: runter vom Sockel und auf den Boden, und hinein mit dem Publikum in eine unmittelbare Konfrontation.
Unser Hauptwerk von Manet hängt in einer großen arena-artigen Skulptur der Amerikanerin Rita McBride, die die Besucher als Tribüne benutzen: hinaufklettern und hinsitzen. Damit haben wir unser Publikum angeregt, seinen Standpunkt und Blickwinkel auf dieses Schlüsselwerk ganz direkt, körperlich zu verändern.
Das Schaudepot zeigt die Methoden des Museums. Als Beispiel erwähne ich unseren Anselm-Kiefer-Kubus – da sind wir bei einem zeitgenössischen Künstler deutscher Herkunft, bei dem das Transzendentale eine große Rolle spielt, die Offenheit gegenüber dem Spiritualitätsbedürfnis der Gegenwart.
Und in einem sehr großen Raum findet sich ein zweiter Künstler: der Südafrikaner William Kentridge, von dem wir die documenta-Arbeit „The Refusal of Time“ von 2012 erwerben konnten. Hier geht es um das, womit ich begonnen habe, und womit ich auch gleich weitermache: um unsere eigene Lebenszeit, und wie uns unsere eigene Endlichkeit zu Handelnden macht. Das ist ein Thema, dem sich die Kirche ebenfalls stellt, und das nicht nur, wenn sie mit zeitgenössischer Kunst umgeht.
Ortsbeseelung: Kunst im öffentlichen Raum
Ich komme jetzt zu meinem zweiten Exempel, der Kunst im öffentlichen Raum, die ich in ihrer besten Form einer Ortsbeseelung vorstellen will. Ich werde Sie auf einen Parcours mitnehmen, auf dem Sie vielleicht erst einmal Schwierigkeiten haben, das überhaupt im Rahmen von Kirche zu denken. Doch ich möchte Ihnen eine Vorstellung davon geben, was internationale Künstler heute beschäftigt, wenn sie in die Öffentlichkeit gehen. Denn im weitesten Sinne ist Kirche ja auch Öffentlichkeit – ein Raum, der vom Prinzip her allen gehört, der allen offen steht, ähnlich wie das Museum.
Der zeitgenössische Begriff von Kunst im öffentlichen Raum beginnt mit der Umwandlung des Denkmalbegriffs im späten 19. Jahrhundert. Von Robert Musil stammt das Diktum: „Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.“ Das verdeutlicht das bekannte Kölner Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm II., der unendlich viele Denkmäler in Deutschland erzeugt hat. Auch Auguste Rodins „Bürger von Calais“. Rodin ist der erste, der das Denkmal vom Sockel holt, im wahrsten Sinne des Wortes, und damit den Einstieg in einen völlig neuen Skulpturenbegriff ermöglicht, der sich dann noch einmal in den 1960er Jahren markant weiter entwickelte – hin zum offenen Kunstwerk, das sich erst durch die und in der Wahnnehmungsarbeit des Betrachters vollendet.
Auf dieser historischen Grundlage entwickelt sich das, was wir heute als Kunst im öffentlichen Raum bezeichnen: eine neue Form der Denkmals- und Mahnmalskunst. Ich stelle Ihnen eine Reihe exzeptioneller Beispiele für diese zeitgenössischen Erinnerungskonzepte in der Kunst vor.
Micha Ullmann macht ihr Mahnmal sogar komplett unsichtbar. Viele von Ihnen kennen es vielleicht; es ist das Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz vor der Sankt-Hedwigs-Kathedrale in Berlin. In der Nacht wird es sichtbar. Tagsüber ist hier nichts als eine Glasscheibe, über die man vielleicht achtlos geht. Doch wer hineinschaut, entdeckt eine leere Bibliothek. Ullmann sagt selbst: Erinnerung sieht man nicht, man kann sie nur spüren. Der Bebelplatz ist ein Ort des Wissens; dort fand die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten statt. Die Bibliothek ist leer, und weil das so ist, geht der Blick nach innen. Das genau will der israelische Künstler: das sichtbar gemachte Nicht-Mehr-Vorhandensein thematisieren. Das ist ein zentraler Gedanke in der jüngeren Gedenkkunst.
Und gleich noch die Erwähnung eines von der nächsten Bildhauergeneration geschaffenen Holocaust-Mahnmals: jenes für die fast 66.000 ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden, das Rachel Whiteread, eine britische Künstlerin, 1963 geboren, auf dem Judenplatz in Wien geschaffen hat. Sie richtet auf, was Ullmann in die Erde versenkt hat: den Abguss eines Bibliotheksraums, und sie zeigt nicht sein Inneres, sondern die Konturen der Regale von hinten. Stellen Sie sich vor, dass Sie durch diese Flügeltür die Bibliothek betreten könnten, die Ihnen jedoch – weil es sich um eine massive Betonstruktur handelt – naturgemäß verschlossen bleibt: Sie würden auf die Buchrücken schauen. Von außen jedoch sehen wir die Bücher in ihren imaginären Regalen von der Gegenseite, denn wir stehen ja sozusagen hinter den Regalen. Die Bibliothek ist der Innenraum des Denkmals. Sie bleibt unzugänglich. Aber auch die Bücher müssen verschlossen bleiben, weil sie Buchdeckel an Buchdeckel gepresst stehen. Whiteread sagt: Nicht das Buch als solches wird zum Ersatz-Objekt der Erinnerung, sondern der Raum zwischen dem Buch und uns. Da kommt der Perspektivwechsel plötzlich zum Vorschein: Der Betrachter, der Rezipient, also Sie, vollenden das Werk in Ihrer Wahrnehmung, in Ihrem Weiterdenken, in Ihrem Mittun. Partizipation, wir kommen noch dazu, ist ein wesentlicher Punkt in der zeitgenössischen Kunst.
Jochen Gerz, einer der wesentlichen deutschen Künstler, hat das mit seinem Hamburg-Harburger „Mahnmal gegen Faschismus“ von 1986 noch ein Stück weitergetrieben. Es handelt sich um einen Blei-Pfeiler, die in acht Schritten abgesenkt wurde, so dass am Ende nur noch die Deckplatte offen daliegt. Das hat die Harburger insofern total genervt, weil diese Absenkungen immer erst dann erfolgt sind, wenn genügend Mitbürgerinnen und Mitbürger sich mit ihren Namen und Kommentaren – und die waren sowohl positiv als auch negativ, es gab natürlich Hakenkreuz-Schmierereien – soweit vorgedrungen sind, dass der Pfeiler ganz ausgefüllt war, und dann ist er um diesen Abschnitt abgesenkt worden. Hier haben wir einen ganz offenen Denkmalsbegriff, der auch im internationalen Vergleich die zeitgenössische Kunst vorangetrieben hat.
Und noch ein Obelisk: Er hingegen erinnert an einen aktuellen Vorgang, den Sie möglicherweise alle in der Presse wahrgenommen haben: Olu Oguibe, Kulturwissenschaftler, Kurator und Konzeptkünstler aus Nigeria, hat ihn für die documenta 14 mitten in Kassel errichtet und mit einem Spruch aus dem Matthäus-Evangelium versehen: „…ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt“ (Mt 25,35). Das steht da in den vier Hauptsprachen, die in Kassel gesprochen werden, in Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch. Der Künstler spielt damit auf das zeitlose und universelle Prinzip der Zuwendung und Fürsorge an. Sie wissen, dass dieses Denkmal enorme politische Diskussionen im Kasseler Stadtparlament ausgelöst hat, initiiert von der AfD, und dass es jetzt, so wie geplant, abgebaut worden ist, was wiederum die internationale Kunstszene auf den Plan gerufen hat. Es gab eine Sammelaktion, um dieses Werk für Kassel zu erwerben, der Künstler ist der Stadt sehr stark mit dem Kaufpreis entgegengekommen. Und nun soll der Obelisk an einer anderen, städtebaulich ebenfalls interessanten Stelle wieder aufgebaut werden.
Sie merken, dass Kunst im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Stachel im Fleisch werden kann. Genau das, was wir von ihr vielleicht erwarten müssen: dass sie uns mit Widersprüchen und Diskussionsanlässen versorgt, die uns als Menschen mit Hirn im Kopf weiterbringen, zu Reflexionen anregen: Was machen wir hier überhaupt?
Ganz kleiner Exkurs, bevor ich zu einigen Thesen über Kunst im öffentlichen Raum komme: Der schottische Lyriker und Künstler Ian Hamilton Finlay hat dieses Werk für eine andere documenta entworfen: „A View to the Temple“, 1987, documenta 8 – vier Guillotinen mit einer Sichtachse auf einen antiken Tempel in den Kasseler Auen. Das Zitat von Finlay spielt auf die Entleerung der Welt seit der Antike an. In diese Leere hinein geht die Kunst im öffentlichen Raum, indem sie öffentlich sichtbare Zeichen setzt – als eine Art Substanzverdichtung, die zu Ortsverdichtung, und wenn sie sehr gut ist, auch zu einer neuen Ortsbeseelung führen kann.
Siah Armajani: Sieben Thesen für relevante Kunst
Ich komme nun zu jenem in Persien geborenen Künstler, der sehr viel zur Entwicklung des Begriffs der Kunst im öffentlichen Raum beigetragen hat: Siah Armajani. Er bezeichnet sich selbst als public artist und rückt die kommunikative Funktion von Kunst in den Mittelpunkt, wie hier mit seinem Lesegarten für die documenta 8. Armajani geht von einer Analyse der formalen und soziokulturellen Bedingungen aus, um ein maßgeschneidertes Werk für einen bestimmten Ort zu schaffen. Er formulierte 1987 elf Merksätze zur Kunst im öffentlichen Raum, von denen ich sieben verkürzt zitieren und mit Werken anderer Künstler begleiten will. Armajani bringt die Sinnfrage von Kunst im öffentlichen Raum auf den Punkt und könnte damit aus meiner Sicht auch mögliche Leitplanken für relevante zeitgenössische Kunst in der Kirche aufzeigen.
Erste These: Kunst im öffentlichen Raum strebt eine Entmystifizierung von Kunst an.
Ich führe zwei unterschiedliche Gewährsmänner auf: Joseph Beuys, Sie kennen ihn alle, mit seiner Intuitionskiste, einem ganz schlichten „multiple“, von dem ca. 12.000 Exemplare existieren, das prinzipiell aber auf eine unendliche Produktion angelegt war. Das heißt, der Kunstbegriff wird total ad absurdum geführt.
Heute sieht das Gespräch zwischen Künstler und Publikum ganz anders aus. Der Franzose Thierry Geoffroy zieht mit seinen Zelten quasi wie ein Nomade durch die Welt. Er ist ein Kunstaktivist, der unmittelbar vor Ort agiert, auf Großausstellungen wie der Biennale in Venedig, und dort inmitten des Kunstbetriebs einen diametralen Kunstbegriff, so wie Beuys, ganz persönlich mit seinem Publikum verhandelt.
Zweite These: Kunst im öffentlichen Raum öffnet eine Perspektive, innerhalb derer wir die soziale Konstruktion von Kunst erkennen.
Hans Haacke, Kölner Konzeptkünstler, wurde 1998 vom Deutschen Bundestag eingeladen, einen der Lichthöfe im Reichstagsgebäude zu gestalten. Haacke entwarf ein großes Beet, aus dem die Inschrift „Der Bevölkerung“ hervorleuchtet. Die Bundestagsabgeordneten sind bis heute aufgerufen, sich an der Vervollständigung dieses Werks zu beteiligen, indem sie mit einem Zentner Erde aus ihrem jeweiligen Wahlkreis das Beet mit der Leuchtschrift befüllen.
Haacke vertritt das Gegenteil des traditionellen Konzepts autonomer Kunstproduktion. Abstrakte Kunst, der Inbegriff der künstlerischen Autonomie, aber gilt – so gestern Thomas Sternberg – bis heute quasi als das große Ereignis, die moderne Kehrtwende, im Kunstverständnis der Kirche. Aber ich muss Ihnen sagen, dass damit die chronische Verspätung, die die Kirche in Bezug auf zeitgenössische Kunst an den Tag legt, nicht beendet ist. Denn als in den 1980er und 1990er Jahren die abstrakte Kunst endlich in der Kirche angekommen ist, waren die zeitgenössischen Künstler schon wieder auf dem Weg zurück in die Realität, in die realen Verhältnisse des Menschen. Daher scheint es höchste Zeit, wieder aufzuholen und zu begreifen, dass Kunst in den letzten 20 Jahren zu einem aktiven Faktor geworden ist, und Künstler bereit und willens sind, sich unmittelbar in die Gesellschaft einzumischen.
Dritte These: Kunst im öffentlichen Raum ist weltlich und nicht sektiererisch. Soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren bestimmen den Prozess.
Christo – Sie werden sich alle daran erinnern – verhüllte mit einem aluminiumbedampften Polypropylengewebe den gesamten Reichstag in Berlin. Das war 1995, kurz nach der Wende in Deutschland. Wir waren alle gleichermaßen stark aufgewühlt von diesem völlig unerwarteten Umbruch, und Christo setzte mit der Verhüllung des Reichstags, mit diesem temporären Entzug des deutschen Parlamentsgebäudes aus der öffentlichen Wahrnehmung, das nun aber erst recht die öffentliche Wahrnehmung auf sich zog, ein wirksames und hochgradig poetisches Zeichen für den politischen Neuanfang.
Der New Yorker Zefrey Throwell, den wir gerade in die Kunsthalle Mannheim eingeladen haben zu unserer Ausstellung „Konstruktion der Welt“, die den Einfluss der Ökonomie auf die Kunst in zwei Epochen untersucht, beschäftigt sich immer wieder mit der Sichtbarmachung soziopolitischer Bedingungen, die unser Leben bestimmen und verändern. 2011 trat Throwell mit einer Nudisten-Performance in der Wall Street auf, die natürlich prompt einen Polizei-Einsatz provozierte: ein 10-minütiger Striptease, in dem er darauf aufmerksam macht, dass in der Wall Street keineswegs nur Banker unterwegs sind, sondern auch ganz normale Leute – Anwohner, Leute, die Straße kehren, Hunde ausführen, Zeitungen kaufen etc.
Vierte These: Kunst im öffentlichen Raum ist eine auf Zusammenarbeit ausgerichtete Produktion.
Die Betonung, dass allein der individuelle Künstler Schöpfer von Werken sei, ist missverständlich und unwahr. Hier haben wir den schon erwähnten Perspektivwechsel vom Künstler zum Rezipienten oder, im Fall von Kunst in der Kirche, zum Gläubigen, der aufgerufen ist, mitzutun, mitzudenken. Im Moment arbeiten wir in der Kunsthalle mit der Künstlergruppe „Volume V“ zusammen, die vor unserem Neubau eine Baracke errichtet hat. Dieser temporäre Ort dient als Plattform für Diskussionen, Kunstaktionen, für die Einbeziehung der Mannheimer Bevölkerung in ein großes, sich sukzessive entfaltendes Kunstprojekt. Die Baracke ist eine Art Satellit der Kunsthalle, ein künstlerisches Labor.
Fünfte These: Soziale wie kulturelle Bedürfnisse und Notwendigkeiten bilden die Grundlage der künstlerischen Tätigkeit im öffentlichen Raum.
Tobias Rehberger ist Professor an der Frankfurter Städelschule. Ein nicht realisiertes Projekt zeigt, wie es funktionieren könnte, wenn Bedürfnisse des Menschen zum Ausgangspunkt von Kunst gemacht werden. Rehberger entwirft im Auftrag des Literaturhauses Frankfurt am Main einen Lesegarten mitten zwischen Hochstraßen, einen aus der Realität ausgeschnittenen Raum mit Obstbäumen und Blumen. Und in der Mitte ist ein Bücherautomat, aus dem man sich Werke der Deutschen Romantik ziehen kann. Kunst wird ein Werkzeug, das wir für die Verbesserung unseres Lebens nutzen könnten.
Sechste These: Es gibt keine besonderen Modellvorstellungen für Kunst im öffentlichen Raum. Einzig die Einschätzung einer Situation für ein spezielles Werk an einem gegebenen Ort und zu einer gegebenen Zeit ist ausschlaggebend.
Ich führe als Beleg dafür ein hochprovokantes Werk, das Katharina Sieverding 1992 zum Projekt „Platzverführung“ beigesteuert hat. Eine Reihe internationaler Künstler war eingeladen, für verschiedene Städte in Baden-Württemberg Kunstwerke zu entwerfen. Sieverding – eine der wenigen deutschen Künstlerinnen, Meisterschülerin von Joseph Beuys, die sich im bundesdeutschen Kunstbetrieb wirklich durchsetzen konnten – macht das Plakat „Deutschland wird deutscher“. Das war natürlich nach der Wende eine enorm kontroverse Aussage. Es geht um die Identität der deutschen Nation, und erstaunlicherweise ist die Frage heute 2018 aktueller denn je.
Der israelische Künstler Dani Karavan schuf im Gedenken an den jüdischen Kulturphilosophen Walter Benjamin in Portbou an der Costa Brava in Spanien das Werk „Passagen“. Finanziert wurde es von zwölf deutschen Bundesländern. Portbou ist der Ort, an dem sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten völlig verzweifelt und am Ende seiner Kräfte umbrachte. Er hat den Sprung in die Freiheit nicht geschafft, und es ist dieser Blick in den dunklen Korridor, der geradewegs in das Meer führt, der uns daran sehr emotional erinnert.
Siebte These: Es sind die Menschen, die einem Werk im öffentlichen Raum (in der Kirche) seine Existenzberechtigung verleihen, dadurch, dass sie in Verbindung mit diesem treten und es benutzen.
Tomás Saraceno, ein argentinischer Künstler, arbeitet mit naturnahen Gebilden, die er monumentalisiert, z. B. Spinnennetze. Er nimmt sie sich zum Vorbild, um seine utopistische Kunst in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Ingenieuren umzusetzen, also ein interdisziplinärer Ansatz, von der Natur inspiriert. Es geht um das Leben in der Zukunft, und er hat für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf ein große Netz „in orbit“ aufgespannt, das man betreten und dabei eine ganz existenzielle Erfahrung machen kann. Ich habe es selber versucht und bin an mir gescheitert; das war sehr eindrücklich.
Bruce Nauman arbeitete an der Erweiterung des Kunstbegriffes aus amerikanischer Sicht in den 1960er-70er Jahren. Er hat große Rauminstallationen entworfen, in die hinein das Publikum fast gezwungen wird. Ich nehme Bezug auf das großartige Werk „Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care“ im „Hamburger Bahnhof“ – Museum für Gegenwart in Berlin vor. Naumann nimmt die Kreuzform auf. Man geht in diese korridor-kreuzhafte Vierungssituation hinein und findet sich dann in der Mitte über einem Gitterrost wieder und stellt fest, dass die Kreuzform dreidimensional ist, die Korridore also in alle vier Richtungen führen. Sie haben über sich so etwas wie einen großen Schornstein und unter sich den Abgrund, alles dunkel, zugig, kalt. Und Sie merken, dass es hier schlussendlich um die Verhandlung des Nichts, der Leere um uns herum und vielleicht auch in uns geht, die am Anfang meines Vortrags stand.
Um Sie jetzt aber nicht zu stark auf sich selbst zurückgeworfen zu entlassen, möchte ich zum Schluss James Turrell, einen anderen amerikanischen Pionier aufrufen, mit seinem neuesten Werk, das wir vor 14 Tagen in der Kunsthalle Mannheim anschalten konnten. Es ist ein Lichtkunstwerk, das den Betrachter in eine traumhafte, bezaubernde Situation involviert, die gleichzeitig an die Grundfesten unserer Wahrnehmung rührt. Sie öffnet uns für eine meditative Erfahrung. Und das kann manchmal ein Trost sein.
Vorhang auf: Aussicht auf Zukunft
Zum Schluss nun meine kleine Erinnerung, die gleichzeitig Ausblick ist. Die Frage ist ja, was Kunst im Weichbild der Kirche – von Religiosität heute, von Spiritualität, die nicht Ausflucht in Esoterik oder Wellness ist – überhaupt leisten könnte. Auf der Suche nach Antworten muss jeder künstlerische Eingriff als Reflexion über die Bedingungen der Kirche als öffentlicher Raum ernst genommen werden. Denn es geht im Grunde genommen um nicht weniger als eine Menschlichmachung bestehender Kontexte durch künstlerische Strategien. Kunst kann neue Orientierungspunkte setzen, und wenn sich die Kirche als ein Interventionsraum zur Verfügung stellt, dann wird es dort möglich sein, auch eine neue Lebensqualität zu verorten, vielleicht sogar eine neue Spiritualität, die sich stärker mit dem Leben verbindet, mit den Bedingungen unserer Existenz, und nicht nur mit einem privaten Wohlfühl-Bedürfnis.
Mit Walter Zahner verbindet mich die gute Erinnerung an ein gemeinsames Kunstprojekt, das wir 2015 nicht von ungefähr zum 50. Jahrestag des Zweiten Vatikanischen Konzils in Würzburg verwirklichen konnten. Eine der eingeladenen Künstlerinnen war die in Paris lebende Ulla von Brandenburg, die mit labyrinthischen, theatralen Konstellationen arbeitet, aber eben auch mit existenziellen Themen, bei denen sehr klar wird, dass Kunst letztlich nichts anderes ist als eine poetische Chirurgie der Zeit. Mit einem Werk von ihr will ich daran erinnern, dass schon das Zweite Vatikanische Konzil 1965 den kirchlichen Antimodernismus-Eid konsequent verabschiedet hat, und zwar im Sinne des Menschen und seiner realen Lebensfragen, denen sich die Kirche vordergründig stellt, genauso wie das Museum.
Sie zeigt einen fast barocken Vorhang: Er markiert eine Schwelle zwischen zwei Welten, vielleicht auch zwischen zwei Zeiten, und er erzeugt sofort Neugier darauf, was wohl hinter diesem Vorgang liegt. Er öffnet sich. Hier und heute sollte er sich auf einen tatsächlich zeitgemäßen Kunstbegriff in der Kirche öffnen, der die Anfangsworte von „Gaudium et spes“ ernst nimmt und darauf mit künstlerischen Mitteln so reagiert, dass es uns wirklich betrifft und wir uns getroffen fühlen. Denn Kunst kann so viel mehr, als Transzendenz nur in verwässerter abstrakter Form dazustellen. Also hören Sie es noch einmal: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“