Der Jemen

Bürgerkrieg und regionale Intervention

Im Rahmen der Veranstaltung Situation im Jemen, 28.11.2022

© fahd sadi / Wikimedia Commons

Seit ihrer Gründung im Jahr 1962 wird die Republik Jemen von zahlreichen bewaffneten Konflikten zerrissen, die hauptsächlich zwischen rivalisierenden Stämmen innerhalb des Landes ausgetragen wurden und die Stabilität des Staates gefährdeten. Im Gesamtergebnis haben diese Konflikte die zentrale Regierungsgewalt im Jemen geschwächt und das Land in verschiedene lokale Machtzentren aufgespalten. Seit März 2015 kann man allerdings nicht mehr von internen Konflikten sprechen. Im Jemen tobt ein fürchterlicher Krieg, der von aufstrebenden Regionalmächten auf der Arabischen Halbinsel mit modernsten Waffen und Söldnern aus aller Welt ausgetragen wird – auf dem Rücken der jemenitischen Bevölkerung. Dieser hauptsächlich durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate geführte Angriffskrieg hat bisher geschätzt 400.000 Menschen das Leben gekostet, knapp vier Millionen Menschen vertrieben und nahezu die komplette Infrastruktur des Landes in Schutt und Asche gelegt.

Gründe und Auslöser des Krieges

Die Gründe, die dem Ausbruch des seit nunmehr acht Jahren andauernden Krieges zugrunde liegen, sind vielschichtig und reichen tief in die jüngere Geschichte des Jemen zurück. Der Nordjemen bezwang im Jahr 1962 die Monarchie und nannte sich daraufhin Arabische Republik Jemen. Im Süden des Jemen gab es seinerzeit eine sozialistische Republik. Im Jahr 1990 kam es zur Einheit der beiden Teile des Jemen unter dem Namen Republik Jemen. Der Präsident des Nordjemen, Ali Abdullah Saleh, wurde zum Präsidenten des vereinten Jemen, sein Stellvertreter wurde der bisherige Präsident des Südjemen, Ali Salem Albidh.

Politische, soziale und regionale Verwerfungen führten jedoch nur vier Jahre später zu Sezessionsbestrebungen seitens der politischen Elite im ehemaligen Südjemen. Im Jahr 1994 brach ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen den beiden vereinigten Teilen des Jemen aus. Bei diesem Bruderkrieg unterstützte Saudi-Arabien den Südjemen. Die Armee und die Stämme aus dem Norden des Landes konnten den Krieg für sich entscheiden. Der Jemen blieb zwar politisch ein geeintes Land, jedoch gesellschaftlich weitestgehend fragmentiert. Der bezwungene Südjemen fühlte sich in den Folgejahren stark marginalisiert und durch die Zentralregierung in Sanaa (Hauptstadt des Jemen) seiner wirtschaftlichen Ressourcen beraubt. Die Sezessionsbewegung, AQAP (AlQaeda auf der arabischen Halbinsel) und weitere bewaffnete und politische Kleingruppen formierten sich in den Folgejahren und standen im Clinch mit Saleh und seinem Regime.

Aber auch im Norden des Landes wurden über Jahrzehnte hinweg ganze Regionen marginalisiert bzw. von grundsätzlichen Infrastrukturprojekten im Land ausgeschlossen. Dazu gehört beispielsweise die Region S.a῾da im äußersten Norden des Jemen, an der Grenze zu Saudi-Arabien. Dort entstand seit Anfang der 2000er Jahre eine Bewegung, die vor allem auf ihre soziale und politische Diskriminierung hinwies und mehrere bewaffnete Konflikte mit der Zentralregierung austrug. Auch gegen die wachsende ideologische Unterwanderung des Jemen, als ärmstes Land auf der arabischen Halbinsel, durch die Verbreitung des ultrakonservativen Islam der Saudis lehnte sich dieser Aufstand der Huthis aus S.a῾da auf. Mit den Petrodollars der Saudis wurden Universitäten gegründet, Stipendien vergeben und zusätzlich die Loyalität einiger Stammesführer im Jemen erkauft, um den ultraorthodoxen Islam der Saudis im Jemen hoffähig zu machen. Diese Ideologisierung war den seit jeher mehrheitlich gemäßigten Muslimen im Jemen, und vor allem jenen in der Grenzregion S.a῾da, ein Dorn im Auge.

Die innenpolitischen Ursachen für den aktuellen Krieg im Jemen

Wesentliche innenpolitische Ursachen für die Entstehung des Krieges im Jemen sind die o.g. sozialen und wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den verschiedenen Regionen im Jemen, die signifikant ungleiche Ressourcenverteilung und das weitverbreitete Gefühl in der Bevölkerung, von den Verantwortlichen im Staatsbetrieb im Stich gelassen worden
zu sein. Der Jemen gehörte daher zu den Ländern, die sich relativ schnell der Protestwelle in der arabischen Welt 2010/2011 angeschlossen haben, dem Arabischen Frühling. Die Menschen gingen zu Tausenden auf die Straßen und demonstrierten gegen die Alleinherrschaft des Präsidenten Ali Abdullah Saleh, der das Land seit 33 Jahren beherrschte und ein Mili­tär- und Geheimdienstregime etablierte.

Viele Jemeniten protestierten gegen Marginalisierung, Nepotismus und Korruption im Saleh-Regime und waren bereit, ihr Leben für ein Leben in Würde zu opfern. Saleh trat Anfang 2012 ab und übergab die Macht friedlich an seinen bisherigen Stellvertreter Abd Rabbu Mansur Hadi. Letzterer sollte den Jemen als Übergangspräsident in geordnete, demokratische Strukturen führen und den marginalisierten Gruppen ihre Rechte im neuen Staatswesen zubilligen. Doch drei Jahre später, Anfang 2015, wurden Hadi und die gesamte herrschende Elite aus der Hauptstadt Sanaa gejagt und ins politische Exil geschickt. Die Huthis aus dem Norden des Landes hatten mit tatkräftiger Unterstützung des gestürzten Präsidenten Saleh einen Eroberungsfeldzug gestartet und die Macht im Land an sich gerissen.

Die tatsächlichen Kriegstreiber im Jemen

Seit Beginn der Proteste im Jahr 2010/2011 hat der Golfkooperationsrat, angeführt von Saudi-Arabien, die Geschicke im Nachbarland nicht nur minutiös mitverfolgt, sondern auch entscheidend bestimmt und gelenkt. Die Machtübergabe vom Langzeitdiktator Saleh an seinen Stellvertreter Hadi war vom Golfkooperationsrat, angeführt von Saudi-Arabien, ausgehandelt worden. Die Roadmap für die Übergangszeit im Jemen wurde ebenfalls seitens der Saudis vorgegeben.

Kaum war der Übergangspräsident im Januar 2015 aus seinem Amt gejagt worden, begann Saudi-Arabien am 26. März 2015 seinen Krieg mit dem Codenamen Operation Decisive Storm, nach offiziellen Angaben um die gestürzte Regierung wieder nach Sanaa „zurück zu bomben“. Hinter diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, dem sich anfangs auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und weitere arabische Länder angeschlossen haben, steht jedoch eine aggressive Expansionspolitik der beiden aufsteigenden Regionalmächte am Persischen Golf: Saudi-Arabien und die VAE. Beide Länder hegen große Ambitionen und wollen bis zum Jahr 2030 dem Iran, der Türkei und Israel im Nahen und Mittleren Osten die Stirn bieten.

Die Übergriffe seitens Saudi-Arabiens auf den Jemen sind historisch betrachtet keine Seltenheit. Die Provinzen Jaizan, Azir und Najran wurden bereits vor Jahrzehnten durch die Saudis annektiert. Diesmal will Saudi-Arabien jedoch viel mehr: Die geostrategische Lage des Jemen bietet dem Königreich die Möglichkeit, seinen Ölexport nicht mehr durch die Straße von Hormuz schleusen zu müssen. Diese für den internationalen Ölhandel enorm wichtige Seestraße wird maßgeblich vom Iran kontrolliert, dem Erzrivalen Saudi-Arabiens.

Mit Hilfe einer Nord-Süd-Pipeline, die direkt über jemenitisches Gebiet führt und in das Arabische Meer mündet, könnte Saudi-Arabien sein schwarzes Gold viel kostengünstiger in den Welthandel einspeisen und möglichen Konflikten mit dem Iran aus dem Weg gehen. Zudem könnte Saudi-Arabien so den Nordosten und Südosten des Jemen kontrollieren und damit die ressourcenreichen Gebiete für sich annektieren. Die faktische Teilbesetzung des Königreiches Bahrain und die systematische Konfrontation mit Qatar sind weitere Indizien für die Expansionspolitik der Saudis gegenüber ihren Nachbarstaaten.

Die VAE ihrerseits träumen von der Gründung eines Seereiches. Im Gegensatz zu Saudi-Arabien liegt der Fokus der Emiratis nicht auf dem jemenitischen Festland, sondern auf der jemenitischen Küste und auf den vielen ihr vorgelagerten jemenitischen Inseln. Die 1.900 Kilometer lange Küste erstreckt sich vom Arabischen Meer bis zum Roten Meer und beherbergt eine der wichtigsten Seestraßen für den internationalen Schiffsverkehr, Bab al-Mandab (das Tor der Tränen).

Diese Meerenge zwischen dem Horn von Afrika und der Arabischen Halbinsel ist das Nadelöhr der Globalisierung. Die Seestraße ist nur 27 km breit. Der jemenitische Hafen von Aden liegt genau an dieser Meerenge. Wer ihn kontrolliert, kann also den internationalen Schiffsverkehr an dieser Route, die über das Rote Meer und den Suezkanal zum Mittelmeer führt, beherrschen. Die VAE haben den Hafen von Aden und die beiden wichtigen Inseln Perim und Sokotra, am Roten Meer und am Arabischen Meer, unter ihre Kontrolle gebracht. Überall dort errichten die Emiratis Militärstützpunkte und bauen ihre Präsenz entlang geostrategisch wichtiger Seerouten immer stärker aus. Auch am Horn von Afrika haben sie bereits mehrere Häfen gepachtet und für ihre Zwecke genutzt.

Die VAE haben sich von Anfang an am Krieg im Jemen beteiligt. Jedoch zogen die letzten emiratischen Truppen bereits im Jahr 2018 aus dem Jemen ab und hinterließen eine Söldnertruppe von geschätzt 70.000 Mann, die ihre Interessen im Land bewahren und durchsetzen soll. Darüber hinaus unterstützen die Emirate die Sezessionisten im Jemen. Deren politische Führung, der Südliche Übergangsrat, kämpft für einen unabhängigen Staat namens Arabischer Süden und erhält große finanzielle und militärische Unterstützung von den Emiratis.

Der Einfluss und die Gestaltungsmacht der Emiratis über ihren politischen Arm, eben den Südlichen Übergangsrat, und ihren militärischen Arm, die Söldnertruppe Giants von bis zu 70.000 Mann, übertrifft den Einfluss und die Gestaltungsmacht der Saudis im Südjemen aktuell um Längen. Es kam in den vergangenen Jahren sogar zu heftigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern. Am Ende hatten die von den Emiraten unterstützten Truppen ihre Nase vorn. Die „Spielwiese“ für diese konkurrierenden militärischen Interessen ist der Jemen und die Opfer sind ebenfalls mehrheitlich Jemeniten.

Ein weiterer externer Akteur, allerdings mit wesentlich geringerer Gestaltungsmacht auf jemenitischem Boden, ist der Iran. Die Huthis, die den Nordjemen unter ihrer Kontrolle haben, suchten mit Beginn des Krieges nach Verbündeten. Für den Iran kam ihr Hilferuf gerade recht. Die Iraner sicherten den Huthis politische und finanzielle Hilfe zu und generierten so Anhänger für sich an der Südflanke ihres Erzfeindes Saudi-Arabien. Bisweilen konnten militärische Berater aus dem Iran die Huthi-Kämpfer unterstützen und leichtes militärisches Gerät ins Land schmuggeln. Die Expertise zum Bau von Drohnen haben die Huthis dem Knowhow aus dem Iran zu verdanken.

Die Waffen für diesen Krieg werden hauptsächlich aus dem Westen bezogen. Die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland verdienen am Krieg in Jemen durch den Verkauf von modernstem Waffengerät an Saudi-Arabien und an die VAE. In den Kommando- und Lagezentren der beiden Golfstaaten sitzen Militärberater und Sicherheitsexperten aus dem Westen und schauen den Stabsoffizieren aus Saudi-Arabien und den VAE über die Schulter. Viele Militäroperationen, insbesondere aus der Luft, könnten beide Staaten ohne die Unterstützung des Westens gar nicht erst leisten. Somit ist der Westen unmittelbar an diesem Krieg beteiligt.

Das Ausmaß der humanitären Katastrophe im Jemen

Sowohl die Vereinten Nationen als auch UNICEF stufen die Lage im Jemen als größte humanitäre Katastrophe der Welt ein. Es wütet eine Hungersnot, die Versorgungslage verschlechtert sich von Tag zu Tag und die staatliche Infrastruktur liegt in Trümmern. Zu den Leidtragenden gehören insbesondere Frauen und Kinder, die aufgrund mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. Alle zehn Minuten verstirbt im Jemen ein Kind an den Folgen übertragbarer Krankheiten. Mehr als 11.000 Kinder sind seit dem Kriegsbeginn getötet, verstümmelt oder verletzt worden. Etwa 2,2 Millionen Kinder sind lebensbedrohlich unterernährt.

Durch den Krieg können mehr als drei Millionen Mädchen und Jungen keine Schule besuchen. Dies liegt nicht nur daran, dass etliche Lehreinrichtungen zerstört wurden, sondern auch daran, dass Lehrkräfte als Angestellte im öffentlichen Dienst aufgrund des kollabierten Staatswesens keine Gehälter mehr erhalten. Folglich können sie ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen und müssen sich anderweitige Einkunftsquellen zur Versorgung ihrer Familien suchen. So bleibt den Schulkindern der Zugang zu Bildung verwehrt. Dadurch sind die Mädchen und Jungen einem hohen Risiko der Frühverheiratung und Kinderarbeit ausgesetzt. Zudem sind die Jungen gefährdet, als Kindersoldaten missbraucht zu werden. Seit dem Jahr 2015 wurden mehr als 3.600 Kinder im Jemen als Kämpfer rekrutiert. Waisenkindern, die ihre Eltern im Zuge des Krieges verloren haben, bleibt oft keine andere Wahl, als auf den Straßen zu betteln. Dort können sie leicht in die Hände von Verbrechern, Menschenhändlern oder Pädophilen geraten.

Das Ausmaß der humanitären Katastrophe im Jemen kann letztendlich nicht in Worten wiedergegeben werden: ein grauenvolles Bild von unendlich viel Leid, Tod und Zerstörung. Es bleibt auf ein baldiges Ende dieses schrecklichen Krieges zu hoffen, denn Hoffnung und Glaube ist das, was den Menschen im Jemen Zuversicht schenkt.

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