Scheitert Ökumene an ethischen Fragen?

Anliegen und Argumentation der Studie "Gott und die Würde des Menschen"

As part of the event "Consensus and dissent in ethics", 08.03.2019

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Auftrag und Anliegen der BILAG-Studie „Gott und die Würde des Menschen“

 

Bei ethischen Fragen drücken wir aus, was uns am Herzen liegt, was wir für gut halten und wovon wir uns in Anspruch genommen sehen. Daher schmerzen ethische Dissense oft besonders. Das ist in Familien so, in Freundschaften, in Organisationen und eben auch zwischen Christen. Bestimmte ethische Dissense zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland haben manche irritiert, so zum Beispiel in der Stammzell-Debatte.

Für manche liegt es nahe, in solchen einzelnen Dissensen zwischen den Kirchen nun doch einen konfessionellen Grund-Dissens am Werk zu sehen. Haben die anti-ökumenischen Skeptiker auf beiden Seiten nicht doch recht? – fragten sich sogar einige bisher offensiv ökumenisch engagierte Theologen. Scheitern die ökumenischen Bemühungen daher an ethischen Fragen? Beruht die Pluralität der Kirchen und ihrer Konfessionskulturen auf fundamentalen Differenzen oder sogar Prinzipien-Differenzen? Wenn dieser gravierende Verdacht zuträfe, wären ökumenische Gespräche, zumindest über theologische und ethische Inhalte, in der bisherigen Form sinnlos. Um diesem Verdacht nachzugehen, wurde die Arbeitsgruppe BILAG von der Deutschen Bischofskonferenz und der VELKD im Jahre 2009 eingesetzt, in Nachfolge der katholisch-lutherischen Dialogprozesse zu „Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament“ (1984) und „Communio Sanctorum“ (2000).

Die Arbeitsgruppe hat die Untersuchung in drei Hauptfragen unterteilt. Falls es einen solchen Grund-Dissens gäbe, der sich in der Ethik auswirkt, könnte er in einer der drei folgenden Hinsichten (oder mehreren) bestehen:

a) Hinsichtlich der Anthropologie, zugespitzt auf das Verständnis von Menschenwürde.

b) Hinsichtlich des Ethiktyps, also hinsichtlich der grundsätzlichen Weise, in welcher ethische Urteile gebildet

c) Hinsichtlich des Verhältnisses von individueller ethischer Urteilsbildung und lehramtlicher Autorität.

Die BILAG-Studie hat sich eingehend mit diesem dreifachen Verdacht auseinandergesetzt und ist zum Urteil gekommen, dass die bestehenden einzelnen ethischen Dissense not auf einer prinzipiellen Grunddifferenz beruhen. Für die Aspekte ethische Urteilsformen and Verhältnis von ethischer Urteilsbildung und lehramtlicher Autorität (Kapitel 2 der Studie) sei das im Folgenden skizziert.

 

Die Typisierung konfessioneller ethischer Urteilsformen

 

Wie kommt man argumentativ zu einem ethischen Urteil? Dazu haben sich in der europäischen Tradition bestimmte Konzepte herausgebildet. Diese werden immer wieder neu interpretiert, verfeinert, weiterentwickelt, verworfen und innovativ kombiniert. Von diesen werden in der BILAG-Studie fünf genannt: Naturrecht, Verantwortungsethik, Tugendethik, Güterethik und Diskursethik. Sie werden in philosophischer Ethik wie auch in theologischer Ethik verwendet. Doch lässt sich die gegenwärtige Ethik in Theologie und Philosophie nicht mehr adäquat allein mit diesen Groß-Konzepten erfassen, denn mindestens drei Entwicklungen haben das Feld des Ethischen transformiert:

  • Die Ethik in den letzten Jahrzehnten hat sich so entwickelt, dass die Forschung sich in immer mehr spezialisierte und hochkomplexe Bereichsethiken (früher Angewandte Ethik genannt) ausdifferenziert hat, wie zum Beispiel Medizinethik, Technikethik, Tierethik und Medienethik.
  • Außerdem hat sich die normative Ethik auf zwei Grundbegriffe fokussiert, von denen die allermeisten Argumentationen ausgehen: auf den Begriff Gerechtigkeit und auf den Begriff Menschenwürde Menschenrechte. Einige Konzepte sehen den Gerechtigkeitsbegriff als den grundlegenderen Begriff an, aus dem sich dann auch Menschenrechte und das Konzept der Menschenwürde ableiten lassen.
  • Drittens wendet sich allgemein die wissenschaftliche und darunter auch die theologische Aufmerksamkeit zunehmend den Realisierungen und Realisierungsbedingungen von Ethik Ethikerinnen und Ethiker bemühen sich also zu verstehen, was Menschen zu ethischem Handeln motiviert, wie das verstärkt werden kann, welche Rolle Gefühle und Narrative spielen, wie Erziehung auf ethisches Handeln Einfluss nimmt etc.

Angesichts dieser Entwicklungen fällt es in gewisser Hinsicht etwas aus der Zeit, ethische Differenzen zwischen den Konfessionen mit den Großtypen an ethischen Konzepten unmittelbar zu identifizieren. Doch geschieht das in der kontroverstheologischen Debatte immer noch und immer wieder. Folgende Vorwürfe bzw. Stereotypen seien näher beleuchtet:

a) Stereotyp: Der katholischen Ethik geht es um Prinzipien (Naturrecht), während es der evangelischen Ethik um die konkreten Menschen Auf den Begriff gebracht: Naturrecht auf katholischer Seite versus Verantwortungsethik im evangelischen Feld.

Hierzu sei die Argumentation der Bilag-Studie etwas ausführlicher vorgestellt. Das Naturrecht ist eine philosophische Konzeption aus der Antike. Sie wurde entwickelt, um geschriebenes, also von Menschen gesetztes Recht zu unterscheiden von dem, was auch unabhängig von menschlicher Setzung gilt. Das Naturrecht hat den Anspruch, universal gültige Normen zu formulieren, welche von allen Menschen vernünftig eingesehen werden können und eingesehen werden. Die Naturrechts-Argumentation wurde im Mittelalter zur Grundlage christlicher Ethik, wie sie zum Beispiel von Thomas von Aquin entfaltet wurde. Sehr komplex ist dabei die Verhältnisbestimmung zu biblischen Orientierungen, das sei hier unberücksichtigt gelassen. Kritisiert wurde und wird am Naturrecht aus philosophischer Sicht, dass die Vernunft selbst nicht einfach und nicht unmittelbar universal ist, sondern stets kulturell, historisch und sozial verortet, sodass es eben keine zeitenthobene vernünftige Erkenntnis des Naturrechtes geben kann. Auch aufgrund dieser und anderer Kritik hat sich die Naturrechtsauffassung der katholischen Theologie stark weiterentwickelt, die geschichtlich-dynamische und die kulturelle Dimension wurden in ihren Begriff integriert. Inzwischen spricht man katholisch eher von natürlichem Sittengesetz oder von Vernunftrecht.

Aus reformatorischer Sicht wurde vor allem kritisiert, dass der sündige Mensch in allen seinen Vollzügen von Sünde geprägt ist, so eben auch seine Vernunftvollzüge. Den Weg zum Heil und zum Leben kann ihm daher nicht die Vernunfterkenntnis, sondern nur die Offenbarung weisen. Daher kritisierten die Reformatoren und ihre Nachfolger die Naturrechtsbegründung von Ethik sehr harsch. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Luther kann dem Naturrecht für das politische Recht, also im Rahmen staatlicher Ordnung durchaus einen legitimen Platz einräumen. Auch Luthers Lehre von den drei Ständen (ecclesia, politia, oeconomia) trägt naturrechtliche Züge. Die aktuelle lutherische Theologie, v.a. in Skandinavien führt vor, wie man mit Hilfe naturrechtlicher Denkfiguren theologisch sinnvoll argumentieren kann, zum Beispiel um die Menschenrechte dezidiert theologisch zu begründen.

Fazit: Auch die reformatorische Theologie hat Ansätze von Naturrecht integriert. Und die katholische Theologie vertritt, wenn überhaupt, eine weiterentwickelte und ausdifferenzierte Form von Naturrecht. Manche katholischen Ethiker verwenden diese Argumentationsform gar nicht mehr. Also besteht hier kein absoluter Gegensatz.

Wie sieht es mit der Verantwortungsethik aus? Der Begriff selbst stammt von dem Soziologen Max Weber, welcher 1919 Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterscheidet und zumindest für die Politik die Verantwortungsethik präferiert. Sie besagt, dass beim Handeln nicht nur die Prinzipien, sondern auch die konkreten, absehbaren Folgen als handlungsrelevant in den Blick zu nehmen seien, auch wenn das in bestimmten Situationen eine Relativierung der Prinzipien bedeute. Verantwortungsethik steht seitdem für ein Abwägen von Prinzipien für eine bestimmte Situation mit den komplexen Handlungsfolgen. Verantwortungsethik nimmt ernst, dass Ethik gerade in Dilemma- und Konflikt-Situationen zum Tragen kommt und dass Folgen stets ambivalent und komplex sind. Einfacher gesagt: Gut ist oft nicht identisch mit gut gemeint.

Die Verantwortungsdimension jedes ethischen Handelns und Entscheidens wird in beiden christlichen Traditionen herausgestellt: der Mensch ist verantwortlich vor Gott, vor dem konkreten Nächsten und vor der Gesellschaft. Diese Verantwortungsbezüge gehören zusammen und müssen zusammen bedacht werden. Daher sind im Bereich des Ethischen, vor allem im Bereich des Sozialethischen, oft sehr komplexe Lösungen erforderlich, die möglichst viele Aspekte berücksichtigen müssen. Und das heißt auch: vor allem im Bereich des Sozialethischen gibt es kaum einfache und schlichte Lösungen, sondern hochdifferenzierte und kenntnisreiche Abwägungen. Zwar werden die Besonderheit und Konkretheit von Situationen von evangelischer Ethik oft deutlich mehr betont, während katholische Ethik noch stärker nach universal gültigen Antworten sucht: so bestehen im Fokus auf der Verantwortung doch große Gemeinsamkeiten zwischen den konfessionellen Perspektiven. Also ist auch hier kein grundsätzlicher Gegensatz auszumachen. Vielleicht aber – so der Verdacht – liegt dann ein prinzipieller Unterschied darin, ob aus der Sicht kirchlicher Lehre der Einzelne aufgrund seines Gewissens oder aufgrund einer kirchlichen Autorität entscheiden und handeln soll? Wenden wir uns exemplarisch einem weiteren Stereotyp konfessioneller Entgegensetzung zu.

b) Stereotyp: Für katholische Christinnen und Christen entscheidet das Lehramt, während evangelische Christinnen und Christen aus ihrem Gewissen heraus entscheiden sollen.

Für evangelische und für katholische Lehre gilt: letzte und ausschlaggebende Orientierung für den Einzelnen ist immer das Gewissen. Diesem seinem Gewissen muss der Einzelne folgen, auch wenn er sich damit aus dem Konsens mit seiner Glaubensgemeinschaft hinausbewegt. Auch das ist schon Lehre des Thomas von Aquin gewesen: auch einem irrenden Gewissen muss der Einzelne folgen. Das ist Grund und Inbegriff der Personalität des Menschen. Das Gewissen und die Verantwortung gegenüber Gott im eigenen Gewissen kann in keiner Weise delegiert werden, auch nicht an Synoden, Bischöfe oder andere Autoritäten. Wohl aber betont die katholische Tradition, dass das Gewissen sich nicht einfach vorfindet, sondern sich bildet, und zwar in der Gemeinschaft der Glaubenden, orientiert vom Lehramt und im Hören auf das Wort der Schrift, welches vom Lehramt ausgelegt wird.

Hier liegen gewiss größere Unterschiede darin, wie ein solches Lehramt gedacht wird, wie und ob es verbindlich in synodale Prozesse eingebunden ist und wie die Partizipation des allgemeinen Priestertums an solchen synodalen Prozessen aussieht. Aus evangelischer Sicht bleiben da gewiss viele Fragen offen, u.a. auch die Frage, wie mit innerkirchlicher Pluralität und Dissens umgegangen wird. Die katholische Kirche macht aber nun gerade auch das zu einem zentralen Thema ihrer inneren Debatten und Reformbemühungen. Doch kein Dissens besteht in der radikalen Vorordnung des Gewissens als Ausgangspunkt für alles verantwortliche Handeln und Entscheiden der Individuen und darin, dass für die Bildung des Gewissens der argumentative Dialog in der Glaubens- und Auslegungsgemeinschaft und darüber hinaus wichtig ist. Kein Dissens besteht auch in der Zielbestimmung des öffentlichen kirchlichen Redens: Kirchen wollen einen argumentativen Beitrag zur gesellschaftlich-politischen Debatte leisten, um damit die einzelnen Menschen in ihrem selbständigen ethischen Urteil zu fördern. Dabei geht es zentral darum, sich für das konkrete Wohl konkreter Menschen in einer je kulturell und sozial bestimmten Welt einzusetzen.

Diese Selbstrelativierung der Kirchen – nicht die Relativierung ihrer Anliegen – in einer demokratischen Zivilgesellschaft ist zukunftsweisend. Autoritäres Auftreten von Kirchen und Kirchenvertretern in der Öffentlichkeit schadet den inhaltlichen Anliegen. Sachlich gebotene Selbstkritik der Kirchen, zum Beispiel hinsichtlich ihres jahrzehntelangen Kampfes gegen das Konzept Menschenwürde und gegen die politische Gültigkeit von Menschenrechten, erhöht die Glaubwürdigkeit heutigen Eintretens für Menschenwürde.

 

Bestimmung der Ursachen für einzelne ethische Dissense zwischen und in den Konfessionen

 

Wenn die einzelnen ethischen Dissense nicht aus einer prinzipiellen Differenz erwachsen, wie sind sie dann zu erklären? Dazu ist ein Blick darauf nötig, wie Ethik funktioniert und wie sie nicht funktioniert. In der Ethik kann man sinnvoll unterscheiden: Prinzipien, einzelne Normen und konkrete Handlungen.

Manchmal stellt man sich fälschlicherweise und vereinfacht vor: Wenn man klare Prinzipien hätte, würde man durch eindeutige Ableitung zu Normen kommen und aus den Normen ließen sich eindeutig entsprechende Handlung bzw. Handlungsimperative ableiten. So aber funktioniert Ethik nicht, wie schon Aristoteles (382-324 v. Chr.) in dem ethischen Grundlagenwerk der europäischen Geistesgeschichte, in der „Nikomachischen Ethik“, darlegte. Zur ethischen Theoriebildung selbst gehört das Bewusstsein der Differenz von Theorie und Praxis, genauer der Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit von ethischen Regeln hinsichtlich konkreter Situationen. Handeln in einer individuellen, einzigartigen Situation mit unübersehbar vielen Aspekten, welche sinnlich, leibhaft wahrgenommen wird, muss mit abstrakten moralischen Handlungs-Normen in Zusammenhang gebracht werden. Der grundlegende Ethiker der (europäischen) Neuzeit Immanuel Kant (1724-1804) widmet sich dieser Eigenart ethischer Theorien in seinen Werken „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788 und in „Kritik der Urteilskraft“ von 1790. Wie eine allgemeine Regel auf einen konkreten Fall zu beziehen sei, ist durch die Regel selbst nicht geregelt; den Bezug auf das Konkrete kann also nicht (allein) das schlussfolgernde Denken leisten. Dafür sieht Kant ein eigenes Vermögen vor: die Urteilskraft, genauer die „bestimmende Urteilskraft“. Diese ist das „Vermögen zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel stehe oder nicht“. Dieses Vermögen bildet und formt sich durch Übung und Erfahrung; es ist daher als Kunst anzusehen.

Diese begrenzte Offenheit und Interpretationsbedürftigkeit findet sich aber nicht nur bei den ethischen Normen im Hinblick auf das konkrete Handeln, sondern auch auf der höheren Abstraktionsebene zwischen Prinzipien und einzelnen ethischen Normen. Aufgrund der Komplexität und Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit kann man aus den gleichen Prinzipien durchaus konträre oder zumindest verschiedene Normen gewinnen.

Das will ich an einem Beispiel verdeutlichen: Ein weithin anerkanntes Prinzip lautet: der Staat und die Staatengemeinschaft müssen die Menschenwürde schützen. Was bedeutet das nun für die Frage, ob ein Staat kriegerische Gewalt anwenden darf, um Menschenwürde-Missachtungen in einem anderen Staat zu unterbinden? Man kann die Norm ableiten, dass die Staatengemeinschaft das darf, wenn es zu strukturellen und massenhaften Menschenwürde-Missachtungen kommt. Oder man kann die Norm ableiten, dass ein Staat das nie bei einem anderen Staat darf, weil zur Menschenwürde der Staatsangehörigen anderer Staaten gehört, dass sie gerade vor der Gewalt anderer Staaten durch ihren eigenen Staat zu schützen sind oder auch, dass niemals Unschuldige zu Opfern werden dürfen, damit andere in ihrer Würde geschützt werden. Selbst wenn man sich auf eine Norm geeinigt hätte, dass strukturelle und massenhafte Menschenwürde-Missachtungen staatliches Eingreifen rechtfertigen: auch dann ist in vielen konkreten Fällen strittig, ob es sich um ein solches strukturelles Problem handelt und ob man die Situation durch ein gewaltsames Eingreifen verbessert – oder nicht eher verschlimmert.

Die m. E. zentrale und zutreffende These von der nur begrenzten Eindeutigkeit ethischer Prinzipien im Hinblick auf Handlungsnormen und von Handlungsnormen im Hinblick auf konkretes Handeln ist in der BILAG-Studie genannt, aber kaum argumentativ ausgeführt. Die Argumentation könnte und sollte im von mir eben skizzierten Sinne erfolgen. Der Schlüssel zu einem differenzierten Verständnis der Reichweite und Eigenart ethischer Urteile liegt jedenfalls in einer weiteren Ausarbeitung des Konzepts der (ethischen) Urteilskraft. Von der Seite konkreter Handlungsentscheidungen oder ethischer Normen her betrachtet heißt das – so auch das Fazit der BILAG-Studie: Auch mit gleichen Prinzipien kann man zu unterschiedlichen Normen kommen; auch bei gleichen Normen zu unterschiedlichen Einschätzungen von realen Handlungsoptionen. Unterschiede in einzelnen ethischen Normen zeigen also mitnichten notwendigerweise eine Prinzipiendifferenz bzw. einen Unterschied im Verständnis der Prinzipien.

 

Der ökumenische Umgang mit einzelnen ethischen Dissensen

 

Was wir in den letzten Jahren überall erleben, besonders dramatisch in politischer Hinsicht: Gesellschaften polarisieren sich. Diese Polarisierung führt zu Gesprächsabbrüchen und zu den sogenannten Echokammern. Hier sind Christinnen und Christen, hier sind Kirchen und Gemeinden zum christlichen Zeugnis der Versöhnung berufen: Christinnen und Christen können vorleben, wie man auch im Konfliktfall im Gespräch bleibt, wie man Differenzen immer wieder neu mit dem Gemeinsamen vermittelt, wie man Unterschiede geduldig aushält und sich bemüht, diese produktiv zu wenden. Das ist gegenwärtig das besonders notwendige christliche, ökumenische Zeugnis. Für einen produktiven, dialogischen Umgang mit einzelnen Dissensen formuliert die BILAG-Studie folgende Einsichten und Impulse:

  1. In ethischen Fragen verbinden sehr weitreichende Grundlagen die Kirchen: wir stimmen überein, dass die Bibel unsere normative Grundlage ist, dass theologisch uns die Rechtfertigungs- Gnadenlehre orientiert und dass wir anthropologisch die Menschenwürde und die Personalität des Menschen als Zentrum ansehen.
  2. Die Unterschiede in theologischer, ethischer Hinsicht lassen sich entdramatisieren, wenn wir selbstkritisch einsehen, dass wir Menschen jeweils von konkreten Erfahrungen und von kulturellen, sozialen Hintergründen geprägt sind, oft mehr als wir uns das eingestehen wollen und tiefgreifender als wir das theoretisch einholen können. Auch Theologinnen und Theologen sind stark von Kultur, geschichtlichen Erfahrungen und Kontaktnetzwerken bestimmt. In theologischen Differenzen wirken sich vor allem auch soziale, kulturelle und biographische Unterschiede aus. Das wird beispielsweise überdeutlich an den Unterschieden im Lutherischen Weltbund, die vor allem zwischen westlichen und afrikanisch-asiatischen Kirchen zu Spannungen führen, oder innerhalb der GEKE (Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa), in welcher sich durchaus große theologische Unterschiede auftun zwischen Kirchen in Mehrheits- und Kirchen in Minderheitensituationen.
  3. Ein neuer Blick auf Unterschiede im Sinne eines Paradigmenwechsels steht an. Bisher betrachtete man konfessionelle Unterschiede unter der Leitfrage: Habe ich hat meine Kirche recht oder die andere Kirche? Dabei stellte sich genau genommen die Oder-Frage schon meistens nicht mehr. Unterschiede bedeuteten faktisch für die Theologen und Theologinnen: die Anderen haben Unrecht und müssen davon überzeugt werden, damit sie ihre falsche Position aufgeben. Ein anderer Zugang zu den Unterschieden steht an: Wie wäre es, die Unterschiede zunächst einmal als Möglichkeiten zu sehen, wodurch ich selbst mich weiterentwickeln, von denen ich lernen und selbst noch differenzierter in meiner eigenen Theorie-Bildung werden kann? Genau diesen Paradigmenwechsel vollzieht der sog. Receptive Ecumenism. Im Dialog gilt es, von den Anderen zu lernen, sich beschenken und inspirieren zu lassen, doch so, dass jede Seite selbst sieht, was sie lernen kann und möchte – und nicht, dass die Einen den Anderen vorschreiben, was sie zu lernen haben. Das gegenseitige Voneinander-Lernen kann dann auch dazu führen, in der eigenen Tradition etwas wieder zu entdecken, was an den Rand gedrängt oder vergessen wurde. Oder neu etwas zu schätzen, was man für zu selbstverständlich hielt. In diesem ökumenischen Paradigma werden Menschen und Institutionen als Prozesse verstanden, dynamisch und lernend. Ein GEKE-Papier formuliert es so: Kirchen sind “learning communities“.

Receptive Ecumenism heißt aber auch: selbst da, wo ich angesichts von Unterschieden nichts vom anderen lernen kann oder will – weil es mir einfach zu fremd oder in keiner Weise plausibel ist, will ich zumindest verstehen, warum der andere es so sieht und einschätzt. Ich unterstelle dem Anderen nachvollziehbare Gründe. Die Perspektive des Anderen ist weder rein zufällig noch böswillig. Dies sich im ökumenischen Gespräch gegenseitig zuzugestehen ist ein fundamentaler Schritt.

Ökumenischen Beziehungen eignet die Chance, zum Vorbild zu werden in polarisierten Gesellschaften. Beflügelnd wirkt dabei: Humorvolles Innewerden des eigenen Anderssein und angstfreies Interesse für das Anderssein der Anderen, neugieriges Lernen und die Offenheit für freundschaftliche Beziehungen, gewaltfreie Kommunikation über Irritierendes, gemeinsames Leiden aller an ihren Kirchen/Gemeinschaften und konkretes Zusammenwirken und Zusammenfeiern, wo immer es möglich ist.

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