Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie heute gekommen sind, um an der Interdisziplinären Tagung mit dem Thema „Naturverständnisse“ teilzunehmen. Mein herzlicher Dank geht gleich zu Beginn an Professor Sigmund Bonk, dass er mit dem Akademischen Forum Albertus Magnus sich an eines der zentralen Themen der Philosophie- und Theologiegeschichte heranwagt. Mir obliegt die Aufgabe, zu Beginn das Thema in seiner ganzen Bandbreite aufzureißen und zu einzelnen Fragestellungen hinzuführen.
Am jeweiligen Verständnis dieses Begriffes Natur, der sich in unserer Sprache als lateinisches Lehnwort eingebürgert hat, entscheiden sich – wie bei Weichenstellungen – viele weitere Überzeugungen.
Der gegenwärtige empirische Sprachgebrauch lässt beim Wort Natur zunächst einmal an den „Ausflug ins Grüne“ denken, er erweckt, synästhetisch, wenn Sie wollen, die Farbe Grün vor unseren geistigen Augen und macht manchen Lust auf ein Picknick im Grünen im kommenden Frühling, vielleicht im Vorgarten des „Naturfreunde“-Hauses.
„Gut für die Natur“, so kommentierte heute Vormittag jemand im Ordinariat die Tatsache, dass es dieser Tage doch erstaunlich viel regnet und dem trockenen Januar nun ein ziemlich feuchter Februar folgt. „Gut für die Natur, aber schlecht für die Frisur, weil man ständig einen Hut aufsetzen muss, den dann der Wind davonweht“, kommentierte jemand anders. Gut für die Natur, schlecht für die Frisur.
Natur und Frisur, ein erstes interessantes Gegensatzpaar, das voraussetzt, dass die Frisur nicht, wie bei einem in freier Wildbahn lebenden Löwen, eine natürlich gewachsene Mähne, sondern ein nach bestimmten modischen Vorstellungen künstlich erzeugtes Kultur-Phänomen ist. Die Frage ist nur, ob es nicht gerade der Natur des Menschen eigen ist, Haar- und Bartwuchs zu kultivieren, dass die Sorge um die Frisur also nicht un- oder gar widernatürlich, sondern dem Menschen „natürlich“ angemessen ist.
Die Vielschichtigkeit, die ganze Bandbreite des Begriffes Natur lässt sich in einem ersten Schritt in der Tat in der Gegenüberstellung von Gegensatz- oder Komplementär-Begriffen erhellen, so Jakob Hans Josef Schneider.
Das lateinische „natura“ gehört zum Stamm nasci = geboren werden. Im Griechischen ist das Wort für Natur die physis, und damit Oberbegriff für all das, was „von Natur aus“ da ist, und nicht technisch handwerklich oder künstlerisch „hergestellt“ worden ist.
Die Unterscheidung von „zeugen“ und „machen“ gehört hierher. Im großen Glaubensbekenntnis bekennen wir vom ewigen Sohn des Vaters, dass er gezeugt, nicht geschaffen ist, genitum, non factum. Damit ist nicht ein biologischer Sachverhalt, sondern ein ontologischer Sachverhalt benannt: die Gleichwesentlichkeit, die Homoousie von Vater und Sohn. Denn: Was gezeugt wird, ist wesensgleich und hat teil an derselben Natur. Was dagegen gemacht wird, ist seins-tiefer. Von demselben ewigen Wort des Vaters heißt es dann im Credo ja auch, dass er „Mensch geworden ist“, homo factus ist.
Damit sind wir bei einem, vor allem theologisch, trinitätstheologisch und soteriologisch wichtigen Begriffspaar: Natur und Person. Es gehört zu den Grundlagen des christlichen Bekenntnisses, dass die zweite Person der göttlichen Dreifaltigkeit, der in ewiger Zeugung gleichwesentlich aus dem Vater hervorgehende Logos „Fleisch“, also die „menschliche Natur“ angenommen hat. Das Konzil von Chalcedon klärt nach längerem Ringen, dass der Göttliche Logos die göttliche und die menschliche Natur unvermischt und ungetrennt vereint. Jesus ist ganz Gott und ganz Mensch, denn nur was ganz angenommen ist, ist ganz erlöst.
Jesus Christus ist uns Menschen in allem gleich geworden, außer der Sünde. Das heißt, die Sünde gehört nicht notwendig zur menschlichen Natur; sehr wohl die Freiheit. Christus ist wie wir in Versuchung geführt worden, hat aber nicht gesündigt. Die Geneigtheit zur Sünde, das Quasi-sündigen-Müssen, ist Ausdruck der postlapsarischen Natur, aus der schon Maria im Hinblick und durch das Verdienst ihres Sohnes, des Erlösers Christus Jesus, herausgenommen wurde.
Natur und Frisur, Natur und Kunst, Natur und Person. So lauten also einige Gegensatzpaare, die jeweils vom komplementären Gegenüber einen Aspekt von „Natur“ aufleuchten lassen.
Ein weiteres vor allem philosophisch-theologisches Gegensatzpaar ist „Natur und Gnade“. Wie ist das Verhältnis von Gott und Mensch zu denken, so dass der Mensch einerseits auf die Erlösung von Gott angewiesen bleibt, sich also nicht selbst erlösen kann, andererseits Gott nicht zum Schuldner des Menschen erklärt wird?
Um der Gnade ihren Geschenkcharakter zu wahren, meinte man in einer sich seit dem 17. Jahrhundert durchsetzenden Theologie der „natura pura“, dass der Mensch prinzipiell auch ohne die Gnade in einer Art natürlichen Glückseligkeit vollendbar sei, die nicht in der Anschauung Gottes besteht. War man sich anfangs noch dessen bewusst, dass damit eine Abkehr von der Tradition des Thomas von Aquin und mit ihm der ganzen Theologie vor ihm markiert war, wurde diese Auffassung von da an mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit und man hielt sie seit dem 17. Jahrhundert schließlich für die Theologie des heiligen Thomas selbst. Die Unterscheidung von Natur und Übernatur im Sinne zweier unvermittelter Ordnungen war einer der Grundpfeiler der neuscholastischen Theologie. Man verwendete hierfür gelegentlich das Bildwort vom Zwei-Stockwerk-Denken, dass sich also Natur und Gnade wie zwei getrennte Stockwerke verhalten ohne Aufzug und ohne verbindende Treppenanlage. Henri de Lubac vor allem konnte zeigen, dass dies nicht wirklich der Anthropologie der Tradition der Kirche entsprach. Das zweite Vatikanische Konzil stellt schließlich klar, ohne die Begriffe „Natur und Gnade“ zu verwenden, dass es nur eine Finalität, ein Endziel, eine Berufung des Menschen gebe, nämlich die göttliche, die zur Gemeinschaft mit Gott (vgl. Gaudium et spes 22). Bei der Gabenbereitung spricht der Priester oder der Diakon zur Beimischung eines Tropfens Wasser in den Kelch als begleitende und deutende Worte: „Wie dieses Wasser sich mit dem Wein verbindet zum heiligen Zeichen, so lasse uns dieser Kelch teilhaben an der Gottheit Christi, der unsere Menschennatur angenommen hat.“
Ein weiteres Gegensatzpaar, das geistesgeschichtlich hohe Aufmerksamkeit verdient, ist das Gegensatzpaar von Natur und Geist, vor allem in der Verbindung von Naturwissenschaften auf der einen und Geisteswissenschaften auf der anderen Seite.
Eine der vielen Sternstunden in der Geschichte des „Akademischen Forums Albertus Magnus“ war der Vortrag von Vittorio Hösle mit dem Titel „Was sind und zu welchem Ende studiert man Geisteswissenschaften?“. Darin vertrat er die These, dass die Geisteswissenschaften als Geisteswissenschaften sich nicht auf der Basis der cartesianischen Dichotomie von „res extensa“ und „res cogitans“ entwickelten, sondern dass ihnen das mit der Entdeckung anderer Kontinente verbundene intrinsische Interesse an den anderen Kulturen und Religionen um ihrer selbst willen zugrunde liegt.
Ein weiteres Gegensatzpaar wäre: Natur und Umwelt, Natur und Schöpfung. Zu den wichtigen Meilensteinen der Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik gehört der englische Philosoph Francis Bacon (1561–1626). Ihm ging es um die Wiederherstellung der durch den Sündenfall verlorenen Gottebenbildlichkeit des Menschen. Bacon vollzog damit jedoch eine radikale Abkehr von der kirchlichen Glaubensüberzeugung der Erlösung des Menschen allein durch Christus. Mit Bacon tritt die Vorstellung auf den Plan, der Mensch könne durch wissenschaftliche und technische Naturbeherrschung seine Gottebenbildlichkeit wieder erlangen. Thomas Hobbes hat diesen Sachverhalt so ausgedrückt: „Eine Sache kennen, heißt, sich vorstellen, was man mit ihr machen kann, wenn man ihrer habhaft wird.“ Damit und nicht durch eine vermeintlich kirchliche Fehlinterpretation des göttlichen Herrschaftsauftrages an den Menschen war eine verhängnisvolle neuzeitliche Wirkungsgeschichte initiiert, wie Papst Benedikt 2007 feststellte. Wenn heute von bestimmten Seiten kritisiert wird, der Auftrag des Schöpfers, sich die Erde Untertan zu machen, sei für viele negative Folgen der Umweltzerstörung verantwortlich, so muss man doch darauf hinweisen, dass sich ein solches Verständnis von „sich die Erde Untertan machen“ dem religionskritischen Francis Bacon, und nicht theologischer Argumentation verdankt.
Die Richtigstellung von Papst Franziskus in Laudato si‘ ist deshalb vollkommen korrekt, wenn er sagt, dass natürlich auch der Herrschaftsauftrag an den Menschen durch dessen erbsündliche Verderbtheit in eine Knechtung und Ausbeutung der Schöpfung sich verkehren kann und sich auch tatsächlich dahin verkehrt. Aber dies ist nicht Inhalt des göttlichen Herrschafts-Auftrags, der ganz im Sinne von Gen 2,15 als ein Hüten und Kultivieren interpretiert werden muss.
Und wenn wir schon bei Fragen der Schöpfungstheologie sind: Ein erster und entscheidender Schritt der Entmythologisierung wird durch den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1 markiert, der in Korrektur religionsgeschichtlicher Schöpfungsmythen, die die Gestirne vergöttlichen, Sonne und Mond als bloße „Leuchten“ am Himmel bezeichnet, die im Dienst der Abwechslung von Tag und Nacht stehen. Weil nach christlicher Vorstellung die gesamte Schöpfung durch den göttlichen Logos hervorgebracht wird, ist die Gesamtwirklichkeit logos-haft und daher auch einer wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich. Kein Wunder, dass etwa ein Gelehrter wie Albertus Magnus im Hochmittelalter in Fortführung christlicher Rezeption der aristotelischen Naturphilosophie auch empirisch geforscht hat, etwa die „Barben“ in der Donau beschrieben hat.
Eines der großen Rätsel ist für mich deshalb auch, wie es zu dem Zerwürfnis zwischen Naturwissenschaften und christlichem Schöpfungsglauben kommen konnte zwischen 1582 und den frühen Jahren des 17. Jahrhunderts. Noch 1582 hatte Papst Gregor XIII. auf der Basis auch des kopernikanischen Weltbildes und in Kooperation mit den besten Astronomen seiner Zeit den heute noch und vermutlich noch auf Jahrtausende hin gültigen nach ihm benannten Gregorianischen Kalender eingeführt. Nur wenige Jahrzehnte später bahnt sich der Konflikt zwischen Kardinal Bellarmin und Galileo Galilei an. Wahrscheinlich hat Walter Brandmüller recht: Bellarmin war der bessere Naturwissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker, Galileo Galilei der bessere Theologe und Bibliker. Freilich hat erst das 19. Jahrhundert daraus einen Grundsatzkonflikt gemacht.
Zu erinnern ist hier aber auch an den heiligen John Henry Newman, einen Zeitgenossen von Charles Darwin, der im Blick auf die sich auf die Beobachtung von Fossilien stützende Evolutionstheorie in den Philosophischen Aufzeichnungen von 1863 schrieb: „Die Vorstellung von der Erschaffung unterschiedlicher Arten ist ebenso wenig eingängig wie die von der Schaffung voll ausgewachsener Bäume und von Felsen mit darin enthaltenen Fossilien. Ich halte dafür, dass es genau so merkwürdig ist, dass Affen dem Menschen so sehr ähneln, ohne dass eine historische Beziehung zwischen ihnen bestehen soll, wie dass es keine Faktenfolge geben sollte, durch die fossile Knochen in Felsen gelangen.“
Ein weiterer und vorerst letzter Gedanke, ohne dass ich damit im Geringsten Vollständigkeit anzielen möchte, wäre im Bezug auf die Begründung von Rechtsnormen die Unterscheidung von Natur-Recht und positivem Recht und anderen Begründungsformen von Rechtsnormen.
Papst Benedikt XVI. hat in seiner denkwürdigen Rede im Bundestag im September 2011 mit Recht darauf hingewiesen, dass das Christentum dem Staat nie ein Offenbarungsrecht vorgegeben habe. In der Geschichte der Menschheit sei es allerdings meistens der Fall, dass die Gottheit zeigt, was unter den Menschen recht ist, und was nicht. Das Christentum, so Papst Benedikt XVI. in dieser Rede vor dem Bundestag, „hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt.“
Das Christentum schloss sich damit einer Bewegung an, die seit dem 2. Jahrhundert vor Christus in der Berührung von Recht und Philosophie die abendländische Rechtskultur entstehen ließ, die für die gesamte Menschheit von Bedeutung wurde, bis hin zur Erklärung der Menschenrechte. Bereits Paulus hatte die Entscheidung der späteren Theologen, sich gegen das Offenbarungsrecht und für das Naturrecht zu entscheiden, im Römerbrief vollzogen (vgl. Röm 2,14f.). Dass nun das Naturrecht nicht mehr als Bestandteil der abendländischen Rechtskultur, sondern als katholische Sonderlehre wahrgenommen wird, ist einer, wie der Heilige Vater sagt, „dramatischen Veränderung“ der Situation „im letzten halben Jahrhundert“ geschuldet.
Als Grund benennt Benedikt XVI. das positivistische Verständnis von Natur und Vernunft. Eines der großen Ziele seines Wirkens sowohl als Professor als auch als Papst war deshalb die sogenannte „Entfesselung der Vernunft“.
Mit seinem vorsichtigen Plädoyer für das Naturrecht verbunden mit einem Plädoyer für eine Ökologie des Menschen hat Benedikt XVI. einen bemerkenswerten Impuls gegeben, der noch lange nicht wirklich ausgeschöpft ist, und ich hoffe, dass uns diese Tagung hilft, in einigen der genannten Fragestellungen mehr Klarheit zu bringen. Denn oft ist schon viel damit gewonnen, die Fragen richtig zu stellen.