Der Heilige Horizont des Herzens

Perspektiven einer trinitarischen Soteriologie

As part of the event "Cardinal Wetter Prize Award Ceremony in Regensburg", 20.11.2019

shutterstock

Aktuelle Fragehorizonte

 

Wir leben in einem digitalen Zeitalter. Unser Lebenslauf und unsere Facebook-Chronik sollen gefüllt und möglichst lückenlos fortgeschrieben werden. Junge Menschen haben heute beruflich wie privat so viele Möglichkeiten wie nie zuvor und drohen gerade unter der Last scheinbar unbegrenzter Optionen zu zerbrechen. Wofür setzen wir unsere kostbare Zeit ein?

Latenter Rechtfertigungsdruck und Perfektionismus schaffen eine oft grausame Druckkulisse von Leistungsstandards und zeitlicher Optimierung. Das nur schwer greifbare Phänomen des „Burn-out“ gilt bereits als eine Art Volkskrankheit. Ähnlicher Druck entsteht durch Ideale von Werbung, Photoshop und Instagram. Um ihnen zu entsprechen, gibt man einem Beauty- und Fitnesskult nach. Die Grenzen zwischen gesunder Selbstoptimierung und krankhafter Selbstüberforderung sind dabei fließend. Der Körper wird für viele zum Kultobjekt und Hassobjekt zugleich. Denn Beach-Body, Lifestyle- und Modetrends haben teils gravierende Schattenseiten. Essstörungen und Depressionen, Minderwertigkeitskomplexe und Mobbing sind nicht nur ein Thema an Schulen, sondern in unserer gesamten Gesellschaft.

Wer viele Entfaltungsmöglichkeiten und Potentiale hat, must diese doch möglichst optimal nutzen, heißt es. Was mit der vermeintlich optimierten Förderung in Kindergarten oder Schule beginnt, findet seine Analogie in der Lebens- und Freizeitgestaltung. Man lebt vom jeweils nächsten Event und jagt von Selfie zu Selfie, um das Album des Lebens auszufüllen. Man will am liebsten alles in diesem Leben einholen, nicht nur leben, sondern erleben.

Sind wir nicht geradezu verpflichtet zum Konsum und Genuss an der Tafel des Lebens, bevor das Verfallsdatum der scheinbar unbegrenzten Köstlichkeiten abgelaufen ist? Wer dies nicht tut, nicht will oder einfach nicht kann, gilt im jugendlichen Jargon auch gerne als „Opfer“.

In der Vielfalt dieser Phänomene spiegelt sich eine Angst des Ungenügens und des Versagens angesichts des Möglichen oder Unmöglichen. Sie ist charakteristisch für eine immer schneller beschleunigende, reizüberflutete und funktionalisierte Welt der Komparative. Immer mehr, immer höher, schneller, weiter, effektiver. Körperlich, zeitlich, beruflich: Optimierung und Wachstum.

Die Angst des Ungenügens und Versagens wirft die Frage auf, wie all die hohen Erwartungen mit uns und unseren Schwächen versöhnt werden können. Wer oder was fängt uns auf, wenn wir hinter den gesellschaftlichen oder moralischen Idealen zurückbleiben? Worin liegen Sinn und Ziel unseres Lebens, das so selten ein ideales ist? Was kann es erfüllen, wenn es nicht vergeblich sein soll? Was trägt uns in Freude und Hoffnung, Trauer und Angst? Was trägt uns – über unsere Grenzen und die Grenze des Todes hinaus?

Der Mensch ist ein fragendes und fragwürdiges Wesen. In Zeiten künstlicher Intelligenz und maschineller Perfektion wird seine vermeintliche Unzulänglichkeit umso drängender bewusst. Was oder wer rechtfertigt mich und mein Dasein und welchen Ansprüchen soll es genügen?

Das Christentum hätte ein erlösendes Evangelium, eine frohe und befreiende Botschaft für die bedrückenden Ängste unserer Zeit. Aber man scheint nicht in der Lage, es angemessen zu kommunizieren. Für viele Menschen ist das christliche Verständnis von Erlösung heute kaum nachvollziehbar. Und genau darauf zielt heutige Soteriologie.

 

Soteriologie – worum es dabei geht

 

Alle Dogmen des Christentums lassen sich letztlich auf eine ursprüngliche Grunderfahrung zurückführen: Die feste Überzeugung der Urgemeinde, dass Gott selbst sich durch seinen Christus für uns in der Geschichte offenbart hat, um uns in seinem Geist auf den Weg des Lebens, d.h. der Liebe und Gemeinschaft mit ihm zu führen. Auf diesem Kern gründet die Fixierung und Tradierung des Evangeliums. Darauf basieren alle dogmatischen Aussagen der ersten Konzilien sowie die Argumentationen der Kirchenväter.

Bei der Entfaltung und Entwicklung der zentralen Glaubensinhalte steht die Soteriologie immer im Zentrum. Die in ihrer konkreten Gestalt unerwartete und überwältigende Erfahrung des erlösenden Wirkens Gottes durch Jesus, den Messias, wird in der realen Präsenz seines Geistes gleichsam zur Mutter aller Dogmen.

Die Soteriologie versteht sich dabei als erhellende Rede vom Heil, von der σωτηρία des Menschen durch Gott. Der griechische Begriff σωτηρία kann Heil, Rettung, Erhaltung, Wohlergehen, Sicherheit, Dauer, Bestand etc. umschreiben. Das Verbum σῴζειν hat entsprechende Konnotationen: gesund machen, retten, wiederherstellen, am Leben erhalten, glücklich ans Ziel oder nach Hause führen und bewahren.

Aus biblischer Sicht ist der sich offenbarende und in seiner Liebe schenkende Gott selbst das Leben, die rettende und erfüllende Vollendung seines Geschöpfes. Das heißt, Gott selbst ist das Heil des Menschen. Karl Rahner weist zurecht darauf hin, wenn er schreibt: „Von daher ist an sich die ganze Theologie der Heilsgeschichte, von der die Lehre von ‚Gott an sich‘ – Theologie schlechthin – gar nicht adäquat abgehoben werden kann, Soteriologie.“ Sie sollte daher auch „nie auf eine bloße Lehre von der Sündenvergebung allein eingeschränkt werden.“ Die Rede von Erlösung und Vollendung ist kein einzelner Traktat neben anderen, sondern der rote Faden, der alle Teilbereiche der Dogmatik miteinander verbindet.

Erlösung betrifft not nur Sünde und Schuld – das wird erst in der westlichen Theologie seit Augustinus das absolut dominante Thema, das alles andere überlagert. Seitdem denkt man nur noch in juristischen Kategorien von schuldig und unschuldig – eben typisch römisch.

Erlösung betrifft primär die Not und das Leiden der Menschen und muss dafür sensibel sein. Sie betrifft all Dimensionen des Menschseins, negative und positive. Oft reden wir nur über eine Erlösung from…, Befreiung from…, also über das Negative. Aber was ist eigentlich mit dem positiven Ziel? Die Theologie spricht hier vom Heil, also von der Rettung, Bewahrung und Erhaltung dessen, was gut ist und unser Leben wertvoll macht. Die Vollendung dessen, was jetzt vielleicht noch unheil ist. Was wird aus unseren Beziehungen über den Tod hinaus? Was verleiht unserer Freundschaft, Treue, Liebe usw. Bestand? Was vollendet sie?

Die Vollendung der gesamten Schöpfung steht immer noch aus, darauf weist das Judentum uns zurecht immer wieder hin. Paulus weiß noch darum, dass die gesamte Schöpfung seufzt und in den Wehen liegt. Auch für Christen ist nicht einfach schon alles Friede, Freude, Eierkuchen… Die oft so triumphalistische Predigt, dass mit Jesu Kreuzestod alles schon erlöst sei, ist zynisch gegenüber allen, die heute noch leiden – das hat J. B. Metz zurecht betont.

Die oft so fromm anmutende Fixierung des christlichen Erlösungsglaubens auf Kreuz, Sünde und Schuld ist eine fatale Verengung des westlichen Erlösungsverständnisses, die Wesentliches ausblendet: Schon im Leben und in der Verkündigung Jesu ereignet sich eine Befreiung und Erlösung: In der Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft, die ihn zwar ans Kreuz führt, aber sich nicht auf dieses Kreuz reduzieren lässt.

Jesus vermittelt eine Beziehung zu Gott, indem er die universale Liebe, die Gott ist, schon hier und jetzt erfahrbar, leibhaftig spürbar werden lässt. In der Zuwendung zu den Armen, in der Vergebung und Versöhnung, im gemeinsamen Feiern, Essen und Trinken, in der Pflege von Kranken und Sterbenden. Darin wird Gott als Dynamik der Liebe erfahrbar und unter uns neu wirksam – auch wenn ihre Erfüllung noch aussteht. Zugleich zeigt sich, wie weit diese Liebe wirklich trägt: Stark wie der Tod ist diese Liebe, die nun jeden Menschen persönlich anspricht.

Die Zusage Gottes – sein Wort – ist durch Christus mit dem Schicksal jedes Menschen auf immer und ewig verbunden. Durch das Schicksal dieses einen Menschen spricht Gott all Menschen als Menschen an: Er wird durch ihn erfahrbar, spürbar präsent, inmitten unserer menschlichen Fragen und Sorgen, Not und Schuld. Papst Franziskus erinnert uns an diesen zentralen Kern des christlichen Glaubens: „Zuerst möchte ich jedem die erste Wahrheit sagen: ‚Gott liebt dich.‘ Wenn du das schon mal gehört hast, egal, ich möchte dich daran erinnern: Gott liebt dich. Zweifle nie daran, egal, was dir in deinem Leben passiert. Egal in welcher Lebenslage du dich befindest, du bist unendlich geliebt.“  (Christus vivit, Nr. 112)

Dieses menschgewordene Wort Gottes, seine Zusage, zielt darauf, dass wir uns und unser Leben verwandeln lassen. Die Wandlung betrifft bei der sonntäglichen Eucharistie nicht nur die Bedeutung von Brot und Wein, sondern auch die Gemeinde, uns selbst. Es geht um einen neuen Lebenswandel und ein Bewusstsein, aus dem heraus wir leben und uns befreit für andere einsetzen.

Die westliche Theologie fixiert sich im Laufe der Zeit auf eine Bilanzierung von Sünde und Schuld und entwickelt daraus Theorien, die allmählich eine fatale Eigendynamik entwickeln. Dieses Denken verzerrte zunehmend das christliche Gottesbild. Plötzlich muss eine Schuld bei Gott bezahlt werden, biblische Motive werden völlig aus dem Zusammenhang gerissen und mit rechtlichem Denken vermischt. Luther fragt sich verzweifelt: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Und Friedrich Nietzsche fragt irgendwann leider zu Recht, was für ein perverser Glaube das eigentlich sei, wenn Gott unbedingt Christi Blut sehen will, um sich mit uns zu versöhnen.

All das entspricht aber gar nicht den Texten und der Botschaft der Bibel, wenn man alte Motive wie Opfer, Sühne etc. nicht aus ihrem Zusammenhang reißt, sondern im Kontext des Kultes Israels liest und versteht. Sühne hat nichts mit Vergeltung zu tun wie im germanischen Recht, sondern ist eine von Gott selbst geschenkte Möglichkeit des Neuanfangs – analog zu unserem Bußsakrament. Will Gott Blut sehen? Nein! Blut kann nach dem Verständnis des AT gar nicht geopfert werden. Eine genaue Analyse der Motive zeigt das ganz deutlich. Vielleicht wird aber auch in diesem Rahmen schon deutlich, warum ich die Rekonstruktion des biblischen, jüdisch-christlichen Gottesverständnisses für the zentrale Aufgabe christlicher Soteriologie halte und warum ich in meiner Arbeit vor allem bei einer präzisen Analyse dieser sperrigen und heute dringend erläuterungsbedürftigen Motive Opfer und Sühne ansetze, die in Liturgie und Lehre (leider) nach wie vor dominieren.

Das Kreuz ist kein Erlösungsmechanismus. Auf so eine Idee kommt nur, wer den Kreuzestod Jesu von seinem Leben und seiner Botschaft völlig isoliert und die alttestamentlichen Motive, die zur Deutung seines Todes im Neuen Testament herangezogen werden, nicht mehr versteht. Die Aufarbeitung biblischer Grundlagen ist angesichts ihrer fatalen Rezeptionsgeschichte essentiell notwendig.

In Jesus begegnet die bedingungslose Liebe des göttlichen Vaters, die sich an freie Adressaten wendet. Sie kann abgelehnt werden. Liebe zwingt nicht. Und doch zeigt sich ihre Macht, weil diese Liebe – Gott selbst – letztlich den längeren Atem hat als Hass, Gewalt und Vernichtung. Die gesamte Existenz Jesu wird zum Zeichen einer ebenso grenzenlosen wie siegreichen Liebe. Ein Zeichen und Werkzeug Gottes, das nicht mehr übersehen werden kann – wie auch immer man sich dazu verhält. Es ist eine universal offene Einladung, sich von dieser Liebe berühren und verwandeln zu lassen, die uns unter die Haut geht, mitten ins Herz. Es wäre die primäre Aufgabe der Kirche, die Spürbarkeit und Tragweite solcher Liebe zu transportieren: Vermittler, nicht Kontrolleure der Gnade zu sein, wie Papst Franziskus völlig zu Recht betont (vgl. EG 47).

 

Perspektiven einer trinitarischen Soteriologie

 

Nur grob seien drei Perspektiven skizziert, die sich im Anschluss an Karl Rahner entfalten lassen:

a) Im soteriologischen Zentrum steht das Mysterium schlechthin, das Heilige Geheimnis unserer Existenz, in das hinein sich der Mensch gelassen und gelöst – erlöst – loslassen kann und letztlich loslassen muss. Damit verbunden ist ein existentieller Exodus, ein Auszug in glaubender und liebender Hoffnung auf Gott hin, den Ursprung und das Ziel allen Lebens. Denn der biblische Gott sprengt die selbstgemachten Götzen unserer Egoismen und Projektionen. Er unterwirft sich weder der menschlichen Vorstellung noch lässt er sich in das Koordinatensystem gegenständlichen Zugreifens und Begreifens einordnen. Nur die nüchterne Wahrnehmung und aktive Annahme des unverfügbaren Mysteriums, das (scheinbar) stumm über uns waltet, lässt uns wahrhaft frei werden, um das Mögliche zu tun und das Unmögliche Gott zu überlassen. Ein Gott, der nach dem Zeugnis Jesu als barmherziger Vater jeden Menschen abgrundtief liebt und seine Sonne aufgehen lässt über Gut und Böse (vgl. Mt 5,43-48). Zur Offenheit für diesen Gott, über den wir nicht verfügen, gehört die liebende Annahme unserer selbst, unserer Grenzen und Begrenzungen, sowie des Nächsten in seiner letzten Unverfügbarkeit. Der Mensch, der offen bleibt für den je größeren Gott, seinen Willen und sein undurchsichtiges Walten, erlangt die höchste Freiheit, die denkbar ist: die innere Freiheit von sich selbst, dem Zwang seiner Ideale, Erwartungen und Eigeninteressen. All dies gelassen loszulassen – auch sich selbst – führt dazu, sich im Vertrauen auf Gott dieser Welt neu zuwenden zu können und die Not des Anderen zu sehen. Es ist eine unkalkulierbare Transzendenz, die uns über uns selbst hinausführt. Nur der sich in diese Transzendenz hinein loslassende Mensch überwindet die starren Grenzen seiner angstvollen Selbstbehauptung und seine krampfhafte Egozentrik zugunsten einer gelösten und erlösten Proexistenz: Er ist frei, um für den Anderen da sein zu können. Solche Liebe „macht glücklich; aber nur, wenn sie nicht ihr eigenes Glück sucht“, so Karl Rahner. Sie verlangt einen Exodus des Egos, der nicht Gleichgültigkeit oder resignative Selbstpreisgabe bedeutet, sondern echte Selbstwerdung durch vertrauende, hoffende und liebende Selbsttranszendenz, ohne das Ziel dieser Dynamik schon ausloten zu können. Spätestens im Sterben, das das gesamte Leben schon durchwaltet, wird uns der Absprung ins Bodenlose abverlangt. Die Frage, ob wir uns in diese Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit loslassen können, ist eine Frage, die sich nicht erst am Ende stellt, sondern bereits mitten im Alltag: Kann ich mich auf den Anderen/das Andere, das Undurchschaubare und nicht Beherrschbare einlassen?

Das Potential einer theozentrischen Soteriologie, die diese offene Transzendenz in die Mitte rückt und die existentielle Bedeutung des biblischen Gottesverständnisses in seiner Tragweite erschließt, ist enorm. Dies führt fast zwangsläufig in eine zweite Perspektive. Denn wer oder was gibt uns eigentlich die Zuversicht, dass der Weg in den unverfügbaren – Heiligen – Horizont unserer liebenden Hoffnung wirklich glückt?

b) In der soteriologischen Vermittlung stellt sich die Frage, ob und inwieweit der Mensch das Wagnis seiner Existenz in Liebe überhaupt eingehen kann. Was berechtigt zu der Hoffnung, dass unsere Selbstlosigkeit sich nicht in totaler Sinnlosigkeit verliert und wir letztlich doch die Dummen sind? Ist der Einsatz unserer Zeit für den Anderen nicht nur Zeitverschwendung? Bringt er nicht nur Leid und Schmerz? Wie ließe sich die Liebe und ihr hoffender Exodus in das unverfügbare Mysterium Gottes rechtfertigen? Was trägt unseren Vertrauensvorschuss, den Glauben an die Erfüllung solcher Liebe? Was oder wer schenkt uns die gelassene Freiheit von uns selbst für echte Proexistenz, ein Dasein-Für? Damit ist der existentielle Zusammenhang zwischen unserer Gottesbeziehung und dem Messias erreicht, der uns die Macht der Liebe, die Gott ist, produktiv vor Augen führt. Das Ausmaß und die Wirksamkeit göttlicher Liebe begegnet dabei in der Barmherzigkeit des Gekreuzigten; aber ihre Tragweite und rettende Kraft ist für uns erst durch die Erfahrung seiner Vollendung in der Auferstehung greifbar. Der eschatologische Heilsmittler ist für Karl Rahner jene Existenz, durch die der siegreiche Durchbruch der Herrschaft Gottes endgültig für alle Menschen greifbar, erlösend erfahrbar wird, insofern sie in diesem einen Menschen das Ziel und die Vollendung jedes Menschen erkennen: Ein Leben in der Liebe, die nicht nur Ausgrenzung, Hass und Gewalt, sondern auch die Grenzen des Todes durchbricht. In der Nachfolge Jesu ergibt sich schließlich eine dritte Perspektive.

c) Die soteriologische Wandlung im Heiligen Geist, der immer schon als innere Dynamik der gesamten Heilsgeschichte auf die erlösende Selbstoffenbarung Gottes hindrängt. Es ist der Geist des Trostes und der Freiheit, der Liebe und der Suche nach der Ausdrücklichkeit dessen, was im Herzen jedes Menschen immer schon wirksam ist. Der Mensch muss diese existentiale Bestimmung und Ausrichtung auf das geschichtlich greifbare Wort Gottes „nur“ zu einer frei vollzogenen existentiellen Haltung, zur Wirklichkeit seines Lebens werden lassen. Und zwar im Vertrauen darauf, dass diese unbedingt für uns da sein wollende Liebe tatsächlich alles überwinden kann, wenn wir uns ihr übereignen. Solche Liebe beseitigt zwar nicht die Schuld, das Leid und die Not dieser Welt – obgleich sie diese zu lindern vermag. Aber der Mensch kann in ihr spürbar Hoffnung schöpfen, Beistand mitten im Elend – ein Licht in der Finsternis.

Wer am Geiste Jesu teilhaben will, an seiner befreienden und erlösenden Liebe, der kann nicht anders als sich der Grenzenlosigkeit dieser Liebe anzuvertrauen. Daraus ergibt sich, wie Ch. Theobald betont, eine bestimmte Haltung der Gastfreundschaft als christlicher Lebensstil. Papst Franziskus macht deutlich, dass wir durch die Begegnung – oder Wiederbegegnung – mit der Liebe Gottes „von unserer abgeschotteten Geisteshaltung und aus unserer Selbstbezogenheit erlöst“ werden, um uns selbst zu überschreiten. Diese Haltung weckt in uns neue Sensibilität für die Sorgen und Nöte unserer Mitmenschen (vgl. EG 8 f.).

Das bedingungslose Angenommensein durch eine unbegreifliche Liebe, die allen Menschen zugedacht ist und jeden einzelnen in seiner Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit bejaht, die uns je persönlich anspricht, über uns hinausführt, einen Horizont von Sinn und Hoffnung eröffnet, den wir nicht erst selbst verdienen oder gewährleisten müssen – das dürfte eine zeitlos frohe Botschaft sein, die in einer Leistungsgesellschaft globaler Märkte, zeitlicher Optimierung, funktionaler Nutzenmaximierung und ästhetischer Ideologisierung aktueller denn je ist. Dieses bedingungslose Angenommensein aus reiner Gnade gibt uns die Kraft und die Gelassenheit, unsere kostbare Zeit für andere einzusetzen, sie mit ihnen zu teilen und dabei Beziehungen zu knüpfen, deren unendliches Geflecht in jener unsterblichen Wirklichkeit geborgen ist, die wir stammelnd Gott nennen.

Christliche Erlösung ist dabei kein fertiger Zustand, sondern eine befreiende und ermutigende Dynamik, auf die man sich einlassen muss, um sich selbst immer wieder gelassen loslassen zu können. Eine Haltung, die man nicht „hat“, sondern der man sich je neu anvertrauen muss. Das christliche Verständnis von Erlösung trägt die Signatur der Hoffnung. Aber wie würde Paulus sagen: Ich weiß, worauf bzw. auf wen ich meine Hoffnung gründe. Es ist also eine begründete Hoffnung, die in der Ostererfahrung und festen Überzeugung gründet, dass die Macht der Liebe – Gott – stärker ist als Hass und Vernichtung, stärker sogar als der Tod. Und dies, meine Damen und Herren, ist und bleibt aus christlicher Sicht die „Mutter aller Dogmen“.

More media by the author / Topic: Theology | Church | Spirituality

Current events on the topic: Theology | Church | Spirituality

Heinrich-Böll-Stiftung Berlin / Wikimedia Commons
Vom Großen und Ganzen
Der Podcast der Katholischen Akademie in Bayern und der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“
Friday, 04.04. - Wednesday, 31.12.2025
Supply chains, dependencies and responsibility
Tuesday, 29.04.2025
Zukunftsverantwortung für Gesellschaft, Politik und Land-Wirtschaft
Tuesday, 13.05.2025
Zeichnungen von Alf Lechner (1925-2017) anlässlich seines 100. Geburtstags
Monday, 19.05.2025
Eine Denkwerkstatt
Monday, 26.05.2025
BR Astrid Ackermann
How can music change a life?
Bernhard Neuhoff in conversation with Sir Simon Rattle
Tuesday, 27.05.2025
EBEN European Business Ethics Network Annual Conference 2025
Thursday, 29.05. - Saturday, 31.05.2025
happymore/shutterstock
Wenn das Wachstum endet
Neue Perspektiven für Religion, Wirtschaft und Gesellschaftlichkeit
Tuesday, 01.07.2025