Grundzüge seines Denkens
Wenn ich als Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts die Person Adornos und sein die Grenzen der Einzelwissenschaften sprengendes Werk in den Blick nehme, dann drängt sich als erstes die Frage auf: Haben das Projekt einer Kritik des gesellschaftlichen Ganzen und diese spezifische Gestalt des öffentlichen Intellektuellen uns heute noch etwas zu sagen? Ist Adornos Negativismus veraltet, weil die gegenwärtige Epoche eine ganz andere ist als die, in der er lebte und die er beschrieb bzw. mit den Mitteln der Kritik praktiziert, als bestimmte Negation auf den Begriff zu bringen versucht hat?
Einige aktuelle Stichworte einer Gegenwartsdiagnose sind:
– funktionale Differenzierung der Gegenwartsgesellschaft,
– ihr gestiegenes Niveau der Komplexität,
– Globalisierungsdynamik, verbunden mit einem expansiven, finanzmarktgesteuerten Kapitalismus,
– fortschreitender Klimawandel und wachsende Risiken der Großtechnologien,
– die Verdinglichung und Beschleunigung innerhalb weltweit verknüpfter digitaler Netzwerke.
Signatur fortschreitender Modernisierung sind auf der einen Seite Freiheitsspielräume, Emanzipationschancen und Differenzierungsgewinne wie beispielsweise die Trennung zwischen Staat, Gesellschaft, Ökonomie, Kultur und Individuum sowie auf der anderen Seite Marginalisierung und Exklusion sozialer und ethnischer Gruppen, Gewalt und destruktive Konflikte. Die Besinnung auf das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität des Epochenwandels ruft in Erinnerung, dass es Adorno war, der die aktuell gebliebene Frage aller Fragen aufwarf: „Warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“
Ich überzeichne bewusst, indem ich die Dialektik der Aufklärung, jenes 1944 erstmals als Privatdruck veröffentlichte Buch von Adorno und Max Horkheimer über Aufstieg und Fall der Vernunft, für die ursächliche Deutung der gegenwärtigen Bedrohungen und Konflikte ins Spiel bringe; aber die Autoren sollten zu jener kleinen Gruppe Intellektueller gehören, die sich der historischen Aufgabe stellt, die Absurdität einer Welt zu begreifen, aus deren Schoß die Missgeburten fortgesetzter Gewalt hervorgehen. „Dass es so weitergeht ist die Katastrophe“ (Walter Benjamin). Dieser erschütternden Einsicht musste sich das geschichtsphilosophische Denken der Repräsentanten Kritischer Theorie gewachsen zeigen.
Für diese Denkanstrengungen stehen vor allem zwei Bücher: zum einen die 1944 fertiggestellte, mit Max Horkheimer zusammen verfasste Studie mit dem Titel Dialektik der Aufklärung, die erstmals 1949 veröffentlicht wurde; zum anderen die 1966 erschiene Negative Dialektik von Adorno, die – wenn es bei ihm, der postuliert, alle Gedanken stünden gleich nah zum Mittelpunkt, so etwas gibt – als sein Hauptwerk gelten kann.
Die beiden Autoren bezeichnen die Dialektik der Aufklärung selbst als eine materiale Studie. Thema ist die Transformation bzw. die Universalisierung von Herrschaft am Ende der bürgerlichen Gesellschaft, die sich in eine autoritäre Gesellschaft gewandelt hat: Für den „Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation“ stehen zeitgeschichtlich der Faschismus, Stalinismus und die amerikanische Massendemokratie.
Thema des ersten Teils der Studie ist einerseits das Scheitern, das Versagen der Aufklärung und andererseits die Reduktion von Vernunft auf instrumentelle Rationalität. Die Autoren schreiben unmissverständlich: „Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“. In den beiden folgenden Kapiteln geht es darum, den Preis für die Souveränität des Subjekts, die Subjektwerdung des Subjekts zu analysieren, und zwar am Beispiel der Odyssee und der Ilias sowie den Schriften De Sades. An zentraler Stelle heißt es: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“
Im darauffolgenden Teil geht es um „Aufklärung als Massenbetrug“, was an Hand der omnipräsenten Populärkultur, der „Kulturindustrie“, ihrer stereotypen Darstellungsmuster expliziert wird: „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem das System immer dichter zusammenschießt.“ Im Anschluss daran entwickeln die Autoren Thesen über die Genese des Antisemitismus: „Gleichgültig wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild […] trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muss: des Glücks ohne Macht, des Lohns ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen.“ Am Schluss stehen Aufzeichnungen und Entwürfe, Aphorismen ähnlich der Minima Moralia. „Nicht das Gute, sondern das Schlechte ist Gegenstand der Theorie. […] Ihr Element ist die Freiheit, ihr Thema die Unterdrückung.“
Mit der fast drei Jahrzehnte später publizierten Negativen Dialektik gibt sich Adorno Rechenschaft über die Art und Weise seines Philosophierens: Die Negative Dialektik ist ein erkenntniskritisches Buch, in dem begründet und vorgeführt werden soll, was negative Dialektik ist und wie sie verfährt.
Im Mittelpunkt der umfangreichen Introduction steht die Begründung eines Begriffs philosophischer Erfahrung, den Adorno gegen die szientistische Erkenntnisweise absetzte. Das ontologische Bedürfnis (das „Zu den Sachen“ Husserls), das Adorno im ersten Teil behandelt, nahm er insoweit ernst, als er es als den Wunsch nach philosophischer Erfahrung entschlüsselte.
Im zweiten Teil explizierte er die zentralen Begriffe des Nichtidentischen und des Nichtbegrifflichen sowie die methodologische Konzeption eines Denkens in Konstellationen. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie von Kant, in der das Primat des Subjekts vertreten werde, formulierte er eine Kritik des Idealismus im Lichte spezifisch materialistischer Einsichten, um in diesem Kontext seine mehrfach variierte These vom Vorrang des Objekts zu begründen. Dem identifizierenden Denken, das zwischen Subjekt und Objekt trennen müsse, stellte Adorno einen Erkenntnismodus gegenüber, der die Spannung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen der Phänomene nicht zugunsten des ersteren auflösen sollte. Um den Verkürzungen des rein begrifflichen Erfassens, der Abstraktheit klassifizierender Operationen zu entgehen, brachte er die „Utopie der Erkenntnis“ ins Spiel, die darin bestehe, „das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“. Für das Begriffslose führte er die Kategorie der Nichtidentität ein, die er aber nicht als die bessere Alternative zum identifizierenden Denken, sondern als Korrektiv des begrifflichen Vorgehens verstand. Wenn die philosophische Reflexion die Autarkie des Begriffs preisgibt, streift sie „die Binde von den Augen. Ihr werde dann bewusst, dass „Subjekt […] in Wahrheit nie ganz Subjekt, Objekt nie ganz Objekt“ sei.
Im dritten Teil erprobte Adorno seine eigenen kategorial entworfenen Erkenntnisprinzipien an drei Modellen: den Philosophien von Kant und Hegel sowie der Metaphysik. So diskutierte er die Frage der Willensfreiheit in Relation zur Idee der Moralität, wie sie in Kants Theorie der Sittlichkeit ausgearbeitet worden war. Adorno machte Freiheit von einer zukünftigen Weltverfassung abhängig, in der die Menschen „nicht mehr böse zu sein brauchten. Das Böse wäre demnach ihre eigene Unfreiheit: was Böses geschieht, käme aus ihr“. Gegen eine Vorstellung der Willensfreiheit aus dem „principium individuationis“ formulierte Adorno seine Kritik am „Trug konstitutiver Subjektivität“, d. h. an der Verabsolutierung jenes Subjekts, das seine individuelle Selbsterhaltung absolut setze.
Der Erwartung Kants, dass sich Freiheit im transzendentalen Subjekt, sowie derjenigen Hegels, dass sich die Vernunft im Weltgeist verwirkliche, stellte Adorno das historische Faktum eines Misslingens der Kultur gegenüber, das Auschwitz „unwiderleglich bewiesen“ habe. Die zwölf Meditationen zur Metaphysik, die das Buch abschließen, bewegen sich in den äußersten Grenzbereichen dessen, was philosophische Reflexion vermag: Adorno fragte, ob sich die Idee der Humanität des Menschen angesichts der Realität von Todeslagern überhaupt retten lässt.
Biographische Einsichten
Adorno kommt kurz nach der Jahrhundertwende, nämlich am 11. September 1903 zur Welt. Er wird als Jugendlicher zum Zeugen der Zerrissenheit der Moderne, der Erschöpfung des bürgerlich-humanistischen Formenkanons, des krisenhaften Zerfalls geistiger und ästhetischer Werte, zum Zeugen auch zunehmender Radikalität in der Kunst der Avantgarde. Parallel zu dieser Zeugenschaft spielt sich vor den Augen des 30-Jährigen der Absturz der Geschichte in die Katastrophe ab. Wie reagiert ein sensibles Subjekt auf diese historische Erfahrung, auf den real erlebten Untergang und die Versuche seiner Überbietung in der Kunst? Den Boden der Vernunft verlässt Adorno, der es von Anfang an ablehnt, sein Heil im Nihilismus zu suchen, zu keinem Zeitpunkt. Er reflektiert auf eine antinomische Vernunft, von der er hofft, dass sie sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen vermag, auf eine Vernunft, die es „nur in Verzweiflung und Überschwang aushalten kann“. Diese Einsicht, dass sich die Dialektik „durch die Extreme bewegt und so den Gedanken durch äußerste Konsequenz zum Umschlag“ bringt, kann zu den Kerngehalten seines Denkens gerechnet werden. Adorno, für den seinen eigenen Worten zufolge „die Kraft zur Angst und die zum Glück“ eine subjektive Eigenschaft ist, die für seine Persönlichkeit bestimmt sein dürfte, kennen wir als nonkonformistischen Intellektuellen; dies ist die eine Seite des Philosophen, Soziologen, Musik-, Literatur und Kulturkritikers.
Das ist aber keineswegs der ganze Adorno. Es gibt doch die andere Seite, nämlich die des Musikers und Komponisten, der über 30 Werke der unterschiedlichen Gattungen geschaffen hat, zum Beispiel Klavierlieder, Orchesterstücke, Chöre: Ein musikalisches Werk, das stilistisch an Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg orientiert ist.
Adorno hat als behütetes und frühreifes Einzel- und Wunderkind im wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Elternhaus, als Linksintellektueller während der Weimarer Epoche, als deutscher Emigrant in England und den USA und schließlich als wirkungsmächtiger Zeitdiagnostiker im Nachkriegsdeutschland viele Leben gelebt; das liebste war ihm das des Künstlers, wie es nicht zuletzt die von ihm über alles geliebte Mutter Maria Calvelli-Adorno repräsentierte, eine ehemalige Hofopernsängerin. Adornos „zweite Mutter“ Agathe, die unverheiratet gebliebene Schwester der leiblichen, die im Hause des Wiesengrunds, so der väterliche Name, lebte, nahm sich nicht nur der musikalischen, sondern auch der literarischen Bildung des Neffen an, mit dem sie Schubert sang, vierhändig Haydn und Brahms spielte sowie Gedichte Baudelaires in der Originalversion las. Von Kindesbeinen an wuchs der Knabe, der als Zwölfjähriger wie selbstverständlich mit Stücken von Beethoven auf dem Klavier brillierte, in der Welt der klassischen Musik und der europäischen Literatur auf. Während das jüdische Element innerhalb der Familie ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, sorgten Mutter und Tante dafür, dass dem Heranwachsenden, der im Frankfurter Dom katholisch getauft worden war, aber als Schüler zum Konfirmandenunterricht ging, die Bilderwelt des Katholizismus vermittelt wurde.
Die Erfahrung einer geistig anregenden und emotional überaus glücklichen Kindheit war für die spezifisch utopische Grundströmung von Adornos späterem philosophischen Denken grundlegend, bekannte er doch selbst, dass die Fähigkeit zur Utopie „von der Liebe zur Mutter zehrte“. Von solchen Rückbezügen auf den positiven Erfahrungszusammenhang der Kindheitsjahre ist Adornos schriftstellerisches Werk durchdrungen: Er selbst spricht von „Erinnerungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob alleine um ihretwillen zu leben sich lohnte“.
Der Vater Oscar Wiesengrund hatte als akkulturierter Jude und als wirtschaftlich erfolgreicher Weinexporteur eine weltoffene Haltung, die ihm zusammen mit seiner ausgeprägten kulturellen Neugier einen Zugang zu jener Welt der Musik und der Kunst eröffnete, in der sein Sohn, seine Frau und deren Schwester ganz aufgingen. Bei der Erziehung hielt er sich zwar im Hintergrund, brachte dem Sohn gegenüber aber seine Wertvorstellungen zum Ausdruck, ohne dass er deshalb als patriarchale Autorität oder gar strenger Despot in Erscheinung trat. Die souveräne Position des sozial anerkannten Wirtschaftsbürgers und seine kosmopolitische Weltsicht, verknüpft mit sozialistischen Tendenzen, hat es für seinen heranwachsenden Sohn eher leichtgemacht, zugleich mit der inneren Orientierung am mütterlichen Ideal sich mit personalen Eigenschaften sowie Werthaltungen des Vaters zu identifizieren. Dass diese Identifikation eine sehr schwache war, dürfte zutreffen. Der Konflikt mit dem Vater fand offenbar in milder Form statt. Denn durch die eigene Bindung Adornos an die beiden Frauen und durch die häufige Abwesenheit des Exportkaufmanns fehlte dem Sohn die Erfahrung des inneren Konflikts mit dem gleichgeschlechtlichen Teil.
Adorno blieb im Schutz seiner von den „Müttern“ repräsentierten Welt wie in einem narzisstischen Kokon. Während der Kindheitsphase fand er kaum einen Widerpart im Vater, wenngleich die Wesensunterschiede zwischen ihm und dem Sohn unübersehbar waren. Ein kleiner Beleg dafür ist die Tatsache, dass Adorno das Rebellische der Jugendbewegung und die politisch radikale Kampfstellung des Expressionismus stets fremd blieben. Adornos Vater förderte nicht nur in generöser Weise die früh ausgeprägten künstlerischen und geistigen Interessen des Sohnes, sondern er war Garant des Wohlstandes der vierköpfigen Familie und ihres relativ großzügigen Lebensstils.
Ein Grundgefühl emotionaler und materieller Sicherheit zusammen mit der Aufgehobenheit in der sinnlichen Sphäre der Musik kann als strukturgebend für Adornos Identitätsbildung unterstellt werden. Die Musik war das primäre Medium, in dem sich die Intensität der Bindung Adornos an die beiden Frauen innerhalb der Familie herstellte. Zugleich war der intensive Umgang mit der Musik für den Heranwachsenden eine frühe Quelle höchst persönlicher Erfolgserlebnisse.
Die erzwungene Emigration, zunächst 1934 nach England, dann 1938 in die USA, bewirkt einen Politisierungsprozess und eine Radikalisierung in Adornos Denken. Erst während der Exiljahre gewinnt es die Signifikanz an der ganz originären dialektischen Gesellschaftskritik. Die Reflexion des eigenen, des existenziellen und intentionellen (Hans Meyer) Außenseitertums versetzt ihn in die Lage, das Exil als Signum einer ganzen Epoche zu begreifen. Wenn er sich Thomas Mann gegenüber als einen „gleichsam professionell Heimatlosen“ beschreibt, dann bringt er damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Fremdheitserfahrung des Exils mit der generellen Außenseiterposition des intransigenten Intellektuellen übereinstimmt.
Der Blick des Exilierten auf den verhängnisvollen Gang der Geschichte findet seinen bezeichnenden Auszug in den Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In den 1951 erstmals erschienenen Minima Moralia gibt sich Adorno Rechenschaft über den Kultur- und Sprachverlust in der Fremde, über den Schwebezustand zwischen Sicherheit und Fremdheit. In ihrer Summe bringen die Minima Moralia jene Trauer und Verzweiflung zum Ausdruck, die der Autor auf seine eigene Erfahrung eines existenziell und international Heimatlosen zurückführt. Als Marginalisierter lernt Adorno die soziale Zwischenstellung jenes Kritikers der Gesellschaft kennen, der sich in ihr aufhält und doch zugleich nicht ganz integriert ist. Es gelingt ihm, den Blick auf das gesellschaftliche Leben vom exterritorialen Bereich des Niemandslandes aus zu richten. Trotz seiner rückhaltlosen Kritik an Erscheinungsformen der Massenkultur spielt er keineswegs die vergangenen bürgerlichen Formen universaler Bildung und Kultur gegen die nivellierenden Konformitätszwänge der Gesellschaft aus, in der er lebt. Er betont, dass die guten Eigenschaften der bürgerlichen Lebensformen längst ihre Kehrseite enthüllt hätten: „Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, die Unabhängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht, ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre ökonomische Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, dass man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, dass es anders und besser möglich wäre. Die Bürger haben ihre Naivität verloren und sind darüber ganz verstockt und böse geworden.“
In den Minima Moralia, seinem persönlichsten Buch, artikuliert Adorno auch erstmals die schockhafte Erfahrung von Ausschwitz. Die totale Dehumanisierung der Menschen in den Vernichtungslagern sei der extreme Ausdruck einer Gesellschaft, die alles Lebendige zum Ding mache. Alles Abweichende, die Besonderheiten des Individuums, seien als „Schandmale“ des Andersseins vernichtet worden. Die integrale, zunehmend vergesellschaftete Gesellschaft erzeuge aus sich heraus einen Vernichtungswillen. Vor diesem düsteren Hintergrund reduziert sich für ihn die Idee einer richtigen Gesellschaft auf eine, in der man „ohne Angst verschieden sein kann“.
Adornos Distanz zu den Konformitätszwängen der Gesellschaft war eine geistige Bedingung der Intellektualität Adornos. Im Maße, wie er sich lebensgeschichtlich seiner Position als Außenseiter bewusst wurde, formte sich der auf Begabung und Bildung zurückgehende Intellektualismus des jungen Erwachsenen zu jenem Selbstbild des Intellektuellen, der aus der Fremdheitserfahrung seine kritische Haltung zum Weltlauf gewinnen sollte. So war für Adorno das existenzielle Außenseiterdasein als jüdischer Emigrant die Bedingung dafür, dass er sich selbst als einen jener antibürgerlichen und damit politisch positionierten Intellektuellen definierte, für den „unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt (ist), in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag.“
Schon in einem Brief vom Sommer 1937, während der Emigrationsjahre in England, äußerte sich Adorno Horkheimer gegenüber, dass er ein Schriftsteller besonderer Art sei, „der die tiefste Einsamkeit und die prinzipielle Unmöglichkeit, das was er denkt und sagt, je einzufügen sich zum a priori gemacht hat“. Als Intellektuelle bezeichnete Adorno selbst jene Bürger, die sich den Herrschaftsansprüchen der Bourgeoisie entziehen: die Intellektuellen seien die letzten Bürger und zugleich deren Feinde.
Fünf Jahre nach seiner Einbürgerung als US- Amerikaner, im Spätherbst 1949, konnte sich Adorno erstmals ein Bild von Europa und dem vom Krieg verwüsteten Land seiner Herkunft machen, das er vor 15 Jahren zu verlassen gezwungen war. Der 46-jährige war von der ersten Berührung mit dem europäischen Kontinent nach den langen Jahren des Exils zutiefst erschüttert. Nach seiner Ankunft in Paris schrieb er an seinen Freund Max Horkheimer: „Die Rückkunft nach Europa hat mit einer Gewalt mich ergriffen, die zu beschreiben mir die Worte fehlen. Und die Schönheit von Paris leuchtet durch die Fetzen der Armut rührender nur noch als je zuvor (…). Was hier noch ist, mag historisch verurteilt sein und trägt die Spur davon deutlich genug, aber dass es noch ist, das Ungleichzeitige selber, gehört auch zum geschichtlichen Bild und birgt die schwache Hoffnung, dass etwas vom Menschlichen trotz allem überlebt“. Adornos spontane Freude ging so weit, das Motto seiner Minima Moralia zu variieren und zu behaupten, dass hier „das Leben noch lebt“.
Es sollte nicht lange dauern, bis Adorno im Nachkriegsdeutschland – ähnlich wie Karl Jaspers – als der Prototyp jenes öffentlichen Intellektuellen wahrgenommen wurde, der es riskierte, die tabuisierten Themen im restaurativen Nachkriegsdeutschland aufzugreifen. Wer anders als Adorno hätte gewagt, das Diktum zu formulieren: Nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch? Damit hat er sich in einer Weise exponiert, die den Rückzug in den Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft kaum mehr zulassen sollte. Als er sich schließlich im späten Herbst 1959 mit der (auch schon von Jaspers aufgeworfenen) Frage beschäftigt, was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? stand er vollends im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Der Frankfurter Philosoph und Soziologe bot die Reputation seiner wissenschaftlichen Stellung als Sozialforscher auf, um nachträglich vor Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu warnen. Er erklärte: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“
Historische Einordnung
Mit seinem doppelten Engagement als bedeutender Hochschullehrer und als öffentlicher Intellektueller spielte Adorno eine eminent politische Rolle, die sich als Glücksfall für die Bildung demokratischen Bewusstseins in der Bundesrepublik erwies. Mit der Nachdrücklichkeit seiner Zeitkritik trug er dazu bei, dass einer ganzen Generation deutlich wurde: Demokratie bedarf des Elements des Widerspruchs, der nicht bloß im privaten Kreis, sondern in der Öffentlichkeit zu Gehör gebracht werden muss. Wie Adorno dem ‚juste milieu‘ opponierte, wie er überkommene Meinungen und Wertungen infrage stellte, das war in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik eine der besten Schulen, um etwas über Demokratie als kultureller Lebensform zu erfahren. Insofern ist Adorno von den Generationen seiner Schüler durchaus als eine politische Identifikationsfigur gesehen worden, obwohl er selbst, der im Grunde ein unpolitischer Mensch war, dem Glauben an eine sinnvolle politische Praxis immer höchst skeptisch gegenüberstand. Gerade, weil Adorno als Außenseiter wahrgenommen wurde, der sich institutionell aber so wenig integriert wie er sich einer der akademischen Disziplinen eindeutig zuordnen ließ, galt er in den Augen der Jüngeren als im höchsten Maße glaubwürdig.
Als von den Nazis Vertriebener hatte Adorno einen generellen Vertrauensvorschuss. In dem Maße, wie er das geschichtlich gerechtfertigte Misstrauen der Nachkriegsgeneration gegenüber einer blinden Verherrlichung deutscher Dichtung, deutscher Musik und Philosophie aufnahm, öffnete er wieder einen Zugang zu Goethe, Beethoven und Kant. In unkonventioneller Weise stellte er diese geistige Tradition in den Kontext einer Avantgarde, die sich des historisch erzeugten Leidens schmerzhaft bewusst war. So fanden die Jüngeren beispielsweise über Franz Kafka und Samuel Beckett zu Stefan George und Rudolf Borchardt, über Arnold Schönberg und Anton Webern zu Bach und Mozart, über Marx und Freud zu Hegel und Nietzsche. Die seit den sechziger Jahren wachsende Hoffnung, dass ein ‚anderes Deutschland‘ unter dem Nazischutt verborgen sei und sich freilegen lasse, war im wesentlichen Adornos geistiger Wirkung zu verdanken.
Adornos publizistisches Engagement für die Erziehung zur Mündigkeit hatte für die Pädagogik geradezu revolutionäre Auswirkungen und erwies sich als Impuls für die Schul- und Hochschulreformen der siebziger Jahre. Sich die hybride Rolle eines intellektuellen Oberhaupts anzumaßen, war Adornos Sache jedoch nicht. Indem er die Augen dafür zu öffnen versuchte, dass jenes verbreitete Bedürfnis nach Leitbildern in konformistischer Weise Substanzialität unterstellte, wo es keine substanziellen Normen geben könne, wurde deutlich, dass die Verpflichtung zu Ewigkeitswerten der Eigenständigkeit des Denkens und Handelns entgegensteht.