Kuba – Insel aus einer anderen Zeit

As part of the event "Cuba in Transition? 7th Karl Graf Spreti Symposium", 08.06.2018

Lange hatten wir gegrübelt, wie wir unseren Film über Kuba nennen sollten. Ein Filmtitel muss mindestens zwei Funktionen erfüllen: neugierig machen und einen Eindruck des Inhalts vermitteln. Am Ende beschrieb der Titel schlicht das Gefühl, das mich die ganze Zeit über auf Kuba begleitet hatte: „Insel aus einer anderen Zeit“. Doch dieser Titel ist mehr als ein subjektiver Eindruck. Er ist vor allem eine These, wenn es um den Versuch geht, die Widersprüche Kubas zu beschreiben, was ich im Folgenden entlang und anhand der Entstehungsgeschichte unseres Filmes versuchen möchte. Der Blick hinter die Kulissen unserer Produktion soll einen Blick hinter die malerischen Kulissen Kubas ermöglichen. Die Dokumentation entstand zwar bereits Ende 2011, und seitdem hat sich einiges getan. Die wesentlichen Beobachtungen aber behalten ihre Gültigkeit und wurden für diesen Beitrag wo nötig überprüft und aktualisiert, ergänzt um einen kurzen Abriss der jüngeren politischen Entwicklung und deren Folgen. Warum also „Insel aus einer anderen Zeit“? Der Titel als These lässt sich von vielen Seiten beleuchten.

 

Eine Momentaufnahme Kubas

 

Kuba ist ein Sehnsuchtsort. Das Klischee der Karibik, das Licht, die Musik, die Lebensfreude. Buena Vista Social Club, rund um die Uhr. Eine Utopie jenseits unseres Alltags, abseits unserer auf Effizienz getrimmten Gesellschaft. Kuba hat etwas von einem bewohnten Freilichtmuseum. Oldtimer, alte Paläste, Dampflokomotiven und Ochsenfuhrwerke. Die Regierung wirkt hin- und hergerissen zwischen notwendiger Modernisierung und Beibehaltung, weil letzteres die Touristen fasziniert. Insel aus einer guten alten Zeit, könnte man – leichtfertig – meinen.

Politisch steht Kuba für eine Idee, die bislang den Beweis schuldig geblieben ist, mehr als eine Utopie zu sein: das Ideal des perfekten Sozialismus – unter Palmen. Eine Phantasie, wie es hätte sein können, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Ohne Kubakrise, ohne US-Sanktionen. Ohne den Zusammenbruch der sozialistischen Bruderländer.

Kuba ist auch nach Innen eine Insel aus einer anderen Zeit, so lange das Erbe der Castro-Brüder besteht, was unter dem neuen starken Mann an der Spitze Miguel Diaz-Canel bisher der Fall zu sein scheint. Das nationale Narrativ ist streng rückwärtsgerichtet. Den alten Parolen, den Revolutionshelden, die längst abstrakte Ikonen sind, begegnet man überall. Selbst im allgegenwärtigen Mangel scheinen für die Pflege ihrer Abbilder noch Mittel vorhanden. Dabei handelt es sich um ein abgeschlossenes Narrativ, das nicht hinterfragt werden darf. Die Intrigen und Kämpfe der Revolutionäre untereinander, der mutmaßliche Mord an Camilo Cienfuegos – sie sind tabu. Dabei funktioniert das Narrativ kaum noch: längst sind die westlichen Ikonen bei jungen Leuten angesagter, als die alten Revoluzzer aus dem Dschungel. Dennoch bleibt der Revolutionsmythos unantastbar. Das hat uns während der Dreharbeiten vor Probleme gestellt. Dazu später mehr.

Noch immer definiert sich die Politik über diesen Mythos aus einer anderen Zeit. In ihm ist auch die, für autoritäre Systeme wichtige Abgrenzung nach außen angelegt, die Pflege eines Feindbildes, hier der USA. Auch dies in der Realität ein Relikt aus einer anderen Zeit, da die Beziehungen längst vielschichtig und die USA ein lebensnotwendiger Handelspartner sind.

Mit dem offiziellen Festhalten an einer sozialistischen Planwirtschaft verhält es sich ähnlich. Die reine Lehre gilt lange nicht mehr. Die Regierung erlaubt privatwirtschaftliche Initiativen und den Zustrom von Gütern und Geld der US-Exilkubaner an ihre Verwandten auf der Insel. Dies löst einen Teil der Versorgungsprobleme, sorgt aber auch für eine wachsende Ungleichheit. Kurz: „Insel aus einer anderen Zeit“ umschreibt den widersprüchlichen Charakter Kubas in vielerlei Hinsicht. Diese Widersprüche eines Staat gewordenen Anachronismus machen seine Faszination aus. Kuba bietet sich somit auch als vielschichtige Projektionsfläche für die eigene Agenda an. Dies zeigte sich auch an den vielfältigen Reaktionen des Publikums auf unseren Film: Uns erreichte eine große Zahl Zuschriften – von überschwänglichen Lob bis zu wüsten Beschimpfungen. Wir hätten den Sozialismus wahlweise verherrlicht oder diffamiert, die Rolle der USA vernachlässigt oder übertrieben. Auf YouTube erschien sogar eine komplett neu geschnittene Version eines unbekannten Nutzers, die die angebliche „US-imperialistische Propaganda“ zu „korrigieren“ suchte. Kurioser Höhepunkt war die direkt an den Intendanten des ZDF gerichtete Beschwerde eines Verbandes von Zigarrenrauchern, die im Fehlen einer Episode über die kubanische Zigarrenindustrie eine Indoktrinierung der Gebührenzahler mit einer Nichtraucher-Ideologie zu erkennen glaubte. Nichtraucher-Lügenpresse sozusagen. Tatsächlich hatten wir für den Film in einer Zigarrenfabrik gedreht, doch in der Endversion fanden wir andere Geschichten aussagekräftiger, so dass die Zigarrenepisode dem Schnitt zum Opfer fiel. Allerdings brachten wir sie in einer Kurzform in den „heute“-Hauptnachrichten, um mit diesem zugänglichen Thema Lust auf den Film zu machen. Von einer Nichtraucher-Zensur konnte also keine Rede sein.

 

Die Dreharbeiten auf Kuba

 

Jedes Jahr sendet das ZDF einen sogenannten Winterschwerpunkt. Rund um die Feiertage sollen aufwändig produzierte Dokumentarfilme den Fokus auf unterschiedliche Regionen lenken, unter einem Oberthema. Sie sollen ein breites Publikum ansprechen, zugleich aber unserem öffentlich-rechtlichen Anspruch gerecht werden, journalistisch in die Tiefe zu gehen. Zum Jahreswechsel 2011/2012 bestand dieser Winterschwerpunkt aus zwei Dokumentationen über die sogenannten Tigerstaaten in Asien, in denen ein rasanter Aufschwung und Umbruch zu beobachten ist, und aus unserem Film über Kuba, wo dieser Umbruch bestenfalls in Andeutungen zu beobachten ist. Da die Karibik ZDF-intern in das Berichtsgebiet des Studios Washington fällt, war ich als damaliger USA-Korrespondent für diese Aufgabe zuständig.

Eigentlich alles andere als eine ideale Ausgangslage. Das US-Embargo gegen Kuba war noch voll in Kraft. Es gab keine direkten Verbindungen, keine diplomatischen Beziehungen. Allerdings stand, bis 2015 die alte Botschaft wiedereröffnet wurde, auf der 16th Street in Washington, die direkt auf das Weiße Haus zuläuft, ein kleiner grauer Flachbau, kaum größer als eine Garage. Dieser gehörte offiziell zur Schweizer Botschaft, war aber das „Office of Cuban Affairs“, in dem ein einsamer Gesandter Dienst tat.

Diesen galt es als ersten für die Idee zu erwärmen. Wir luden ihn in unser Studio ein, reichten Kaffee und Gebäck und warben für einen Film, der den deutschen Zuschauern die Schönheit seines Landes präsentieren sollte. Wir hatten bereits ein paar Ideen recherchiert, wurden aber nicht allzu konkret. Zur Besprechung kamen wir mit mehr Kollegen, als eigentlich notwendig, um ihn gebührend zu umwerben. Am Ende des freundlichen Gesprächs, als bis auf meinen Studioleiter Ulf Röller und mich alle draußen waren, fragte uns der Gesandte schüchtern, ob er den Rest der Kekse vielleicht mitnehmen könne. Sein Sohn würde sich darüber sehr freuen, solche Süßigkeiten gebe es nicht so oft. Natürlich durfte er, aber wir hatten Mühe, unsere Verblüffung zu verbergen. Die Mangelwirtschaft Kubas machte auch vor dem Gesandten in Washington nicht halt.

Die ganze Vorbereitung war ein Balanceakt aus Wohlwollen bei den Behörden erzeugen und ehrlichem Umgang mit ihnen. Auch während der Dreharbeiten ging es darum, journalistisch unabhängig zu bleiben und gleichzeitig auf Betroffene Rücksicht zu nehmen. Wir konnten schließlich wieder ausreisen, unsere Gesprächspartner nicht.

Schon die Reise in das Land war sehr umständlich und nur über Drittländer möglich. Wir flogen nach Kanada, mussten dort komplett auschecken und dann den separaten Flug nach Kuba besteigen. Das Visum erhielten wir in Havanna auf einem extra Zettel, damit die amerikanischen Grenzbeamten bei der Rückreise den verräterischen Stempel nicht im Pass finden konnten. In Havanna mussten wir dann das Hotel Nacional bewohnen, wo es eine eigene Etage für ausländische Journalisten gibt, vermutlich, so scherzten wir, weil Personal und Technik nicht ausreichten, um das ganze Hotel abzuhören.

Erster Termin war ein ausführliches Treffen mit einer Beauftragten des CPI, Centro de Prensa Internacional, der allmächtigen Pressebehörde. Geplant waren zwei Reisen à ca. zehn Tagen. Sie hatte für jeden Tag Drehpläne erstellt: Treffen mit einer Gruppe alter Musiker. Besichtigung der Pionierschule. Dreh am Strand. Besichtigung eines Vorzeigebetriebes (Zigarren). Dreh in einer Ballettschule. Dreh einer Sportschule. Treffen mit einer Gruppe alter Musiker. Dreh eines Vorzeigebetriebes (Rum). Dreh am Strand. Dreh eines prominenten Künstlers. Dreh einer Gruppe alter Musiker. Eben genau so, wie sich das Regime eine „Dokumentation“ über Kuba wünscht. Viele Vorschläge konnten wir nach langer Diskussion abwenden, andere nicht. Wir haben sie dann brav gedreht, wissend, dass sie wenig Chancen haben, im Film vorzukommen, weil es eine Verzerrung der Realität bedeutet hätte, Kuba auf das Idealbild der Regierung zu reduzieren. Trotzdem war auch dies Teil der Realität, und so waren einige der Vorschläge durchaus hilfreich.

So etwa die berühmte Ballettschule von Lizt Alfonso. Der Legende nach schenkte ihr Fidel Castro einst persönlich das Schulgebäude im Zentrum von Havanna. Tausende Mädchen träumen jedes Jahr davon, aufgenommen zu werden. Das Ballett tourt um die Welt. Abgesehen von den schönen Bildern, war dieser Dreh auch inhaltlich wichtig, und so ließ sich beides verbinden – der Wunsch des Staates und unser journalistischer Anspruch. Denn die Kunst ist ein Weg des Aufstiegs in Kuba, vorausgesetzt, sie hinterfragt das System nicht. Lizt Alfonso, eine kubanische Berühmtheit, gab uns ein souveränes Interview. Sie war glaubhaft überzeugt von ihrem Land, weil es ihr ermöglicht hat, sich ganz auf den Tanz zu konzentrieren. Grenzenlose Verwirklichung in einer abgeschlossenen Nische. Ein klassischer Widerspruch Kubas und eine Form des Überlebens. Alle, die wir getroffen haben, haben sich irgendwie eingerichtet. Die Tendenz der Menschen, sich ihre eigene Welt zu schaffen, ins Innere Exil zu gehen, begegnete uns im ganzen Land. Die Menschen reden nicht offen, sondern verklausuliert. Neigen dazu, das Positive hervorzuheben. Der Rest ist lächelndes Schweigen. Die viel beschriebene Fröhlichkeit in Kuba wird daher oft mit Leichtigkeit verwechselt. Sie ist das Gegenteil, aber notwendig, um nicht negativ aufzufallen, um zu überleben.

Das Gegenstück zu Lizt Alfonso haben wir ganz in der Nähe gefunden. In Alamar, einem Vorort von Havanna, in den sich kein Tourist je verirren dürfte. Heruntergekommene Plattenbauten mit abblätternder Farbe, Müll und tiefe Pfützen in gewaltigen Schlaglöchern. Dort haben wir David d’Omni getroffen, einen Rapper, der international einen immerhin bescheidenen Erfolg hat, ohne Hilfe des Staates. Anhand seines Beispiels konnten wir zeigen, was es heißt, wenn das System einem die kalte Schulter zeigt. Aber auch, wie ineffizient der Apparat sein kann. In einem Regime, das Individualität und Eigeninitiative misstraut, stoßen deren Vertreter schnell an Grenzen, wenn jemand nicht ins Schema passt. So hat David es geschafft, sich aus der Wehrpflicht herauszureden. Vor den Militärs hatte er eine philosophische, aber augenscheinlich systemtreue Abhandlung vorgetragen. Er erklärte den irritierten Offizieren, worunter der Geist der Revolution im real existierenden Kuba leide und warum ihm diese Erkenntnis so viel Freiheit schenke, dass ihn die Aussicht auf Gefängnis, womit die Verweigerung des Wehrdienstes normalerweise bestraft wird, nicht schrecken könne. Die Folge war, dass ihn die Militärs erst zum Psychiater und dann nach Hause geschickt haben.

Als wir dort mit ihm drehten, tauchte irgendwann eine Aufpasserin der Partei auf. Die Dame verbot uns, zu drehen, verlangte Papiere, verfügte selbst über unzählige eigene, und lieferte sich vor allem mit unserer Producerin Steffi Riess, die sich verbal sehr zu wehren weiß, ein längeres Wortgefecht. Irgendwann hat auch sie dann einfach aufgeben. Widerworte war sie nicht gewohnt. Interessant zu beobachten war, dass viele Anwohner zugeschaut haben, aber Abstand hielten. Keiner wollte sich einmischen, dabei musste jemand die Dame gerufen haben. In dem Moment hatte ich eine schwierige Entscheidung zu treffen: Die Episode drehen oder nicht? Ein Dreh hätte als Provokation aufgefasst werden können. Da wir noch am Anfang unserer Reise waren, wollte ich nicht riskieren, wegen so einer Geschichte des Landes verwiesen zu werden.

Weniger Glück hatten wir einige Zeit später, bei einem Dreh in Santiago de Cuba, im Süden des Landes. Hier sind weniger Touristen. Die Stadt wirkt ärmlicher, rauer. Santiago gilt als die Wiege der Revolution. Das Regime ist strikter als in Havanna. Unser Ziel war die Pionierschule der Castro-Brüder, die im ehemaligen Familiensitz der Rum-Dynastie Bacardi untergebracht ist. Dort wurden wir Zeuge, wie die Jüngsten mit den Parolen von einst indoktriniert werden. Natürlich ging dieser Dreh auf einen Vorschlag der Pressebehörde zurück. Wie bizarr das Szenario auf ein ausländisches Publikum wirken musste, blieb ihnen anscheinend verborgen. Ebenfalls verborgen blieb ihnen, dass die Kinder nach den brav und lauthals aufgesagten Parolen auf dem Schulhof („Nieder mit den USA!“) keine Che Guevaras auf den Asphalt malten, sondern Nike Turnschuhe und andere amerikanische Markenikonen.

Die Schule liegt in einem malerisch heruntergekommenen Villenviertel. Auch diese Umgebung filmten wir, zunächst unbehelligt. Am Nachmittag drehten wir schließlich die vom Ministerium bereitgestellten alten Musiker, eine im Rahmen des „Buena Vista Social Club“-Hypes auch international bekannt gewordene Formation namens „Los Jubilados“. Doch dann wurden wir festgenommen. Es kamen mehrere Motorräder und Polizisten in Zivil. Schnell machte ich ein paar Fotos. Unsere bis dahin so fröhlichen und glücklich-in-Kuba-leben-zu-dürfenden Musiker hielten mit ernster Miene Sicherheitsabstand. Keiner war dazu bereit, für uns ein gutes Wort einzulegen. Wir mussten mit auf die Wache. Dort erfuhren wir, was der Grund für die Festnahme war. Wir hatten am Morgen in der Nähe der Pionierschule in einer Straße gedreht, in der Fidel Castro ein Haus besitzt. Wo genau, sei geheim. Eine Staffel der Zivilpolizei hätte uns daraufhin den ganzen Tag über beschattet, sei zu dem Schluss gekommen, dass unser Verhalten verdächtig sei und habe nun zugegriffen. Von unserem genehmigten Dreh wussten sie nichts. Stichwort: Effizienz. Ich persönlich fand die Episode zwar unangenehm, weil sie den eng gesteckten Drehplan durcheinander brachte, aber auch amüsant, weil ich mir sicher war, dass wir die Sache aufklären könnten. Doch als ich sah, dass unser kubanischer Tontechniker, ein gestandener, erfahrener Kollege, tatsächlich Angst hatte und überhaupt nicht mehr er selbst war, wurde mir klar, was es heißen kann, in so einem System verhaftet zu werden. Zum Glück ließ sich die Angelegenheit nach anderthalb Stunden aufklären. Ich sollte die Bilder meiner Kamera löschen. Kontrolliert wurde es nicht. Insgesamt soll es Dutzende solcher Straßen geben, in denen Aufnahmen streng verboten sind, weil die Castros dort Häuser besitzen. Tatsächlich weist ein kleines Schild darauf hin, wie wir nachher sahen. Das habe ich dann aber lieber nicht fotografiert.

 

Havanna – die Stadt der Widersprüche

 

Unsere Reise durchs Land hat nicht nur das Widersprüchliche Verhalten der Staatsmacht – omnipräsent, aber wenig effektiv – dokumentiert. Auch die vom sozialistischen Ideal weit entfernten Unterschiede, was Wohlstand und Wohnsituation betrifft, werden sichtbar, wenn man sich umschaut. Das breiteste Spektrum findet sich in und um Havanna. Mit mehr als zwei Millionen Einwohnern die größte Metropole der Karibik. Weite Teile der Stadt zerfallen, aber ein kleiner Teil wird intensiv restauriert für den Tourismus, überwiegend mit Hilfsgeldern und Joint Ventures aus dem Ausland.

Das Problem Havannas ist, dass der pittoreske Zerfall jedes Jahr teurer wird und das Leben für die Einwohner immer beschwerlicher. Ein alter kolonialer Palast ist nur so lange malerisch, wie man ihn nicht selbst bewohnen muss, mit seinen undichten Dächern und Fenstern, den baufälligen Treppenhäusern, den Leitungen, aus denen nur ein Rinnsal braunes Wasser fließt. Je länger man wartet mit Investitionen, desto teurer wird es. Das führt zu einer Konzentration auf wenige Bereiche. So die Gegend zwischen Kapitol und Plaza Vieja. Diese bilden die Kulissen für die Kataloge. Nicht nur für Touristen.

Wir trafen zufällig auf ein Fotoshooting einer kanadischen Modefirma. Ein Fotomodell präsentierte Mode für eine Jahreszeit, die es hier nie gibt: Herbst. Kuba als Kulisse für alles, was man darin sehen möchte, so lange man nicht hinter die Fassaden schaut. In der restaurierten Altstadt würde man dabei auf frischen Stahlbeton treffen. Die Bausubstanz der Paläste ist meist bis auf die Fassade nicht mehr zu retten.

Im Rest der Altstadt erlaubt der Blick hinter die Kulissen auch einen Blick hinter die Fassade der staatstragenden Mythen. Denn hier trifft man auf Menschen, die in einem Elend leben, das mit dem kubanischen Selbstverständnis nicht vereinbar ist. Einer von ihnen ist ein alter Veteran namens Eduardo, den aber alle wegen seines Bartes nur „Hemingway“ nennen. Nur zwei Blöcke vom touristischen Teil Havannas entfernt, sitzt er täglich auf den Stufen vor seiner Wohnung. Seine Geschichte ist einzigartig und doch typisch. Hätten wir sie im Film vollständig berichtet, hätten wir und das ZDF Schwierigkeiten bekommen, denn sie greift die Fundamente des nationalen Narrativs an. Ein marodes Viertel zu zeigen wie beim Rapper David ist das eine. Den Revolutionsmythos zu hinterfragen, etwas ganz anderes.

Eduardo war ein echter kubanischer Held. Sein Leben lang Soldat und überhäuft mit Orden. Als Kind hatte er in der Schweinebucht gekämpft, später in Afrika. In der DDR war er an sowjetischen Raketen ausgebildet worden. Eine seiner Auszeichnungen trug die Unterschrift Fidel Castros – sein ganzer Stolz. Im Film deute ich an, dass er uns die Erinnerungsstücke draußen zeigt, weil seine Wohnung zu eng ist. Das war das maximale, was ich sagen wollte. Er wäre durchaus bereit gewesen, uns auch seine Wohnung zu zeigen. So überschwänglich glücklich wirkte er, mit Fremden seine Lebensgeschichte teilen zu können. Doch mein Kameramann, der in Kuba lebt und unser kubanischer Tontechniker baten mich inständig, darauf zu verzichten. Denn seine Wohnung, in der er mit Frau und Sohn lebte, bestand nur aus einem dreckigen fensterlosen Raum voller Habseligkeiten, einem Campingkocher als Herd, einer Schüssel als Waschbecken und einer verdreckten Matratze. Eduardo schien seinen Frieden damit gefunden zu haben, dankte gar dem Staat, dass er mitten in Havanna wohnen durfte. Er hatte sich buchstäblich in seiner Nische eingerichtet. Wenn aber das deutsche Fernsehen zeigen würde, was der Staat für einen vielfach ausgezeichneten Helden der Revolution tatsächlich übrig hatte, hätte es einen Skandal gegeben, der auch meinen beiden Kollegen Schwierigkeiten hätte bereiten können. Und so blieb die Kamera draußen.

 

Ein Blick über den Tellerrand

 

Sobald man Havanna verlässt, wird die Situation übersichtlicher. Kuba ist ein Paradies für Naturfreunde. Weites, weitgehend ungenutztes Land. Fruchtbare Brachen und Wildnis. Da Kuba die Ressource Natur kaum nutzt, kann sich das Land immer noch nicht ernähren, ist auf Importe angewiesen. In Havanna klappt das in der Regel gut. Doch weiter draußen gibt es immer wieder Engpässe. Dabei ist die Versorgung für alle nicht nur aus den offensichtlichen Gründen essenziell. Sie ist eines der zentralen Versprechen der Revolution gewesen. Manifestiert in der Libretta, dem Gutscheinheft mit den Grundnahrungs- und Konsumgütern, auf die jeder Kubaner Anspruch hat. Vor ihr und dem Mangel, den sie symbolisiert, sind alle gleich. Denn die staatlichen Gaben reichen nicht zum Leben.

Besonders deutlich wurde das, als die Menschen fast vollständig auf sie angewiesen waren, während der sogenannten Sonderperiode nach 1989. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks fielen die wichtigsten Partner Kubas weg. Kuba verlor 85 Prozent seines Außenhandels. Zeitweilig gab es sogar wieder Hunger auf der Insel. Die Sonderperiode gab den entscheidenden Ausschlag für wirtschaftliche Entwicklungen, die noch heute andauern. Als Gegenmaßnahme setzte die Regierung fortan auf Tourismus und auf eine vorsichtige wirtschaftliche Öffnung. So sind im Tourismusbereich Joint-Ventures mit ausländischen Partnern möglich. Etwa in Varadero, unweit von Havanna, wo internationale Touristikunternehmen einen Küstenstreifen aus Sand und Beton gebaut haben, der sich überall in den Tropen befinden könnte. In den letzten Jahren wurde die Öffnung noch ausgeweitet. Inzwischen gibt es im begrenzten Maße Landwirtschaft in Eigenregie. Wer Brachland urbar macht, darf einen Teil des Ertrags für eigenen Profit vermarkten. Auch können Kubaner sogenannte Case Particulares, eine Art Bed and Breakfast, oder Paladar genannte private Restaurants betreiben. Allerdings bringt dies auch neue Probleme. Im gleichen Maße, wie die Kubaner Geld und Profit entdecken, wächst die Ungleichheit, die sozialen Sprengstoff mit sich bringt. Beschleunigt wird diese Entwicklung durch die zwischenzeitliche Annäherung an die USA. Harte Währung erreicht das einfache Volk. Ursprünglich hatte die Regierung 1994 extra eine eigene, an den Dollar gekoppelte Währung, den CUC, eingeführt, um dieses Einsickern in den geschlossenen sozialistischen Kreislauf des kubanischen Peso zu verhindern. Doch diese Schlacht gilt als verloren. Der CUC soll in naher Zukunft abgeschafft werden.

 

Sorgenkind USA

 

Die USA waren immer wieder Thema auf unseren Reisen. Beide Staaten waren einander stets eng verbunden, auch in der Feindschaft. Beide Seiten nutzen das Verhältnis bis heute vor allem innenpolitisch.

Das US-Embargo gehört zu den wichtigsten Propagandainstrumenten der kubanischen Regierung. Es ist schlicht die Wurzel allen Übels. Jeder Gesprächspartner erinnert einen daran, wenn er nicht mehr weiter weiß. Dieses Mantra schweißt zusammen. Es dient als Entschuldigung für Versäumnisse und als Rechtfertigung für die repressiven Maßnahmen des Staates. Dabei ist die Realität längst eine andere. Zum einen haben die USA das Embargo zur Zeit der Sonderperiode gelockert, Medikamente und Nahrung weitgehend ausgenommen. Zum anderen hat Raul Castro schon 2010 angedeutet, dass Kuba weitergehende Probleme als das Embargo hat. Tatsächlich sind die USA einer der wichtigsten Handelspartner Kubas.

Auch die USA betrachten Kuba inzwischen primär innenpolitisch. Die Exilkubaner sind ein wichtiger Machtfaktor in Florida und über den US-Kongress auch in Washington vertreten. Florida ist ein wichtiger Swing State, mit vielen Wahlmännerstimmen. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts kommt es gerade hier auf jede Stimme an. Florida kann darüber entscheiden, wer Präsident wird und wer nicht. Zuletzt haben wir das im Jahr 2000 erlebt, nämlich bei George W. Bush gegen Al Gore. Da waren es wenige tausend Stimmen. Und auch bei den Zwischenwahlen im November 2018 machten wenige Stimmen den Unterschied. Diesen können allein die Exilkubaner ausmachen. Das erklärt den besonderen Fokus von Republikanern und Demokraten auf Kuba. Inhaltlich wird jede Entscheidung bezüglich Kuba heftig diskutiert. Gerade die Vertreter der Exilkubaner versuchen sich an dem Spagat, Maßnahmen zu ermöglichen, die das Leben der Landsleute erleichtern, ohne dabei Gefahr zu laufen, damit auch das verhasste Regime zu stabilisieren.

Es war daher nicht ohne Risiko, als Barack Obama nach seinem Amtsantritt einen vorsichtigen Annährungskurs einleitete und folgerichtig erst in seiner zweiten Amtsperiode, als er nicht mehr zur Wiederwahl antreten konnte, die wirklich großen Schritte vollzog: Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen 2015 sowie des Post- und Flugverkehrs und 2016 gar der Staatsbesuch bei Raul Castro.

Obama hat damit auch in Kuba etwas bewegt. Es kam zu einer spürbaren Aufbruchstimmung. „Hope“ – das Versprechen, das Obama den Amerikanern gegeben hatte, erreichte Kuba. Es floss Geld. Zum einen, weil Obama die Beschränkungen des Kapitalflusses vonseiten der Exilkubaner aufheben ließ. Zum anderen, weil die neuen Töne auf beiden Seiten die Bereitschaft wachsen ließ, die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten stärker auszunutzen. Die kapitalistischen Tendenzen verstärkten sich. Die erwähnten case particulares (Bed and Breakfast) vermehrten sich, der Tourismus nahm zu. Es entstand eine Art Immobilienmarkt. Standen zur Zeit unserer Dreharbeiten die Kubaner noch auf dem Prado, einer Prachtstraße in Havanna, und versuchten, ihre geerbten Häuser eins zu eins zu tauschen, standen nun Exilkubaner aus den USA daneben und versuchten, mit harten Dollars Häuser aufzukaufen. Welten prallten aufeinander. Kubaner übten sich im Kapitalismus, ausgerechnet mit Amerikanern, die dies von klein auf gelernt hatten. Dazu kam das Internet nach Kuba. Zunächst in Form öffentlicher WLAN Hotspots. Eine echte Revolution, aber anders, als erwartet. Nicht die von vielen Regimekritikern erhoffte und von der Regierung befürchtete Welle unzensierter ausländischer Nachrichten prasselte auf das Land ein, um eine neue Revolution zu beschwören, sondern die sozialen Netzwerke. Die Menschen wollten kommunizieren, raus aus der Isolation. Rührende Szenen spielten sich ab, unter den Hotspots an der Straßenecke, wo ganze Familien unter Tränen erstmals mit den Verwandten in Miami Videotelefonate führen konnten.

 

Der Maßstab der Realität

 

Bewirkt hat dies eine echte Veränderung des Stadtbildes, zumindest in Havanna. Die Restauration der Altstadt ist weiter vorangeschritten. Allerdings auch nur dort. Der Rest der Stadt und des Landes verfallen weiter.

Besitz ist nach wie vor Kubanern vorbehalten, doch als Ausländer kann man dies durch Heirat umschiffen. Wie viel Geld so tatsächlich von außen einfließt, ist unbekannt. Es gibt Indizien, dass ein großer Teil der Immobilien über kubanische Stroh-Verwandte längst in amerikanisch-exilkubanischen Händen ist. Auf diesem Sektor geht der Goldrausch weiter.

Der Aufbruch Obamas dagegen war wohl nur ein Strohfeuer. Große Gesten, doch der eigentliche Annäherungsprozess scheiterte bislang am komplexen „Klein-Klein“, und nicht zuletzt an Donald Trump. Er hat einige Erleichterungen wieder zurückgenommen, vor allem, was das Reisen angeht. Schnelle, auch eher symbolische Maßnahmen, an jene Klientel daheim gerichtet, die das Regime hasst und vom Prinzip Wandel durch Annäherung nichts hält. Eine kohärente Strategie ist dagegen nicht erkennbar, wie so oft bei Trump. Desinteresse scheint das überwiegende Leitbild der gegenwärtigen Beziehungen zu sein. Auch der neue Staatschef, Miguel Diaz-Canel, der in erster Linie als Apparatschik gilt, hat bisher noch nicht klar erkennen lassen, was er mit Kuba vorhat.

Die Folgen sind gravierend. Die Euphorie in Kuba ist verflogen. Der Geldfluss geht zurück. Mit dem Zusammenbruch Venezuelas hat Kuba den letzten starken Partner verloren. Das Regime steuert innenpolitisch wieder stärker gegen. Zwar will man die Öffnung nicht aufgeben, aber es gilt nun erst recht, die Kontrolle zu behalten. Gegen Regimekritiker wird hart vorgegangen. Für Journalisten ist es schwerer geworden, von dort zu berichten. Genehmigungen werden kaum noch erteilt. Kollegen berichten, dass immer öfter Aufpasser der Pressebehörde CPI auftauchen und aktiv eingreifen, Interviewpartner einschüchtern, Teams mit Ausweisung bedrohen. Unseren Film könnten wir heute so wahrscheinlich nicht mehr machen.

Insofern sind unsere Eindrücke von der Drehreise im Kern aktuell. Die Kubaner müssen sich weiter irgendwie arrangieren, improvisieren. Die Führung kämpft ums Überleben des alten Apparates, weiß aber, dass dazu Reformen notwendig sind, die diesen gleichzeitig gefährden. Das erklärt die zuletzt wieder stärkeren Repressionen bei gleichzeitigem Aufwind im privaten Sektor. Gleichzeitig dürfte der Goldrausch, der Ansturm auf die Immobilien, eine Eigendynamik entwickeln, die nicht mehr aufzuhalten sein wird. Die Ungleichheiten nehmen zu.

Am Schluss unseres Filmes zog Tommy, ein ehemaliger Ballettstar, der, geschützt durch Ruhm und Alter, so offen sprach, wie kein anderer, das traurige Fazit, dass in Kuba „tropischer Surrealismus“ herrsche. Eine „Insel aus einer anderen Zeit“ eben. Oder besser: Eine Insel, auf der sich mehrere Zeiten in einem Kollisionskurs aufeinander zubewegen. Je nach Tempo und Art des absehbaren Wandels scheint dabei keineswegs sicher, dass alles so gemütlich und friedlich bleibt, wie wir und die meisten Kubaner die Insel gerne sehen würden.

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