Hinführung
Das Thema, das mir die Katholische Akademie gestellt hat, ist sehr umfassend und ich hoffe sehr, dass Sie keine vollständige Antwort erwarten. Dennoch: gerade angesichts der rasanten Umbrüche, die uns teils orientierungslos zurücklassen, erscheint es sinnvoll, den Versuch zu unternehmen, unterschiedliche politische und wirtschaftliche Entwicklungen zusammen zu denken und einer sozialethischen Bewertung zu unterziehen. Diese schließt für Christinnen und Christen immer auch eine theologische Perspektive ein. Methodisch folge ich damit den Spuren von Gaudium et spes, das die humanwissenschaftliche Ebene mit der ethischen und theologischen Dimension mit dem Ziel verschränkt, die Zeichen der Zeit in einer bestimmten Epoche zu deuten, das heißt sie auf ihre humanen Potentiale hin abzuklopfen, was immer schon eine theologische Dimension einschließt, da Gott – um es ganz simpel zu sagen – das Gute für die Welt und Menschen in jeder Zeit und an jedem Ort will. Ein Mehr an Humanität entspricht damit allemal dem göttlichen Willen.
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.“ – reimte Heinrich Heine Mitte des 19. Jh.s Dieser Reim lässt sich heute zweifellos auf Europa übertragen. Vielfältige, sich verdichtende Krisensymptome stellen die Europäische Union, aber darüber hinaus auch die Menschen des Kontinents vor eine Vielzahl neuer Herausforderungen. Diese sind in unterschiedlichen Regionen verschieden und unterschiedlich intensiv ausgeprägt. Das Auseinanderdriften der nördlichen und südlichen Staaten nach der Finanzkrise von 2008, die immer offenkundiger werdenden politischen Risse zwischen dem westlichen und östlichen Teil der EU, also den alten und den 2004 (respektive 2007) der EU beigetretenen Mitgliedsländern, sowie die zunehmende Attraktivität nationalistischer Parteien mit europafeindlicher Ausrichtung, die eine Schwächung, ja Zerschlagung der EU anstreben, wie auch sich rasch wandelnde geopolitischen Konstellationen können einem tatsächlich den Schlaf rauben. Dies gilt nicht nur für politische Verantwortungsträger, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger, die ja in Demokratien Mitverantwortung tragen. Besonders auch die Christinnen und Christen unter ihnen stellt dies vor die Frage nach ihrer Aufgabe. Denn: die politischen, wirtschaftlichen wie kulturellen Folgen einer Desintegration der EU wären zweifellos katastrophal.
Das durchgängig düstere Bild soll jedoch durch einen Blick an die Peripherien Europas ergänzt werden. Denn dort befinden sich jene Staaten, die sich weiterhin mit allen Mitteln um den Beitritt zur EU bemühen – in der Hoffnung, dadurch ihre Konflikte entschärfen, den Frieden sichern und am Wohlstand teilhaben zu können. Jeder und jede, die einmal in Albanien, in Mazedonien oder gar Moldawien, in Serbien oder der Ukraine war, kann davon berichten. Auch auf den großen Demonstrationen gegen Korruption in Rumänien und Bulgarien sah man überwiegend EU-Flaggen. Ihre Teilnehmer hofften auf die Durchsetzung europäischer Standards. Dies alles zeigt, dass die ursprünglichen Motive und Ideale der EU überall dort relevant sind, wo sie noch nicht verwirklicht oder gefährdet sind. Die Prozesse europäischer Integration sind jedoch nicht, wie wir lange geglaubt haben, unumkehrbar. Es wird uns heute wieder bewusst, dass Friede und Wohlstand keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern in der Geschichte eher die Ausnahme. Daran gilt es sich heute zu erinnern, um das Erreichte wertzuschätzen und die Probleme mit Entschiedenheit anzugehen.
Wieso – so fragt man sich – treffen diese Krisen die Idee eines vereinten Europas so hart, wo doch – trotz aller Defizite – die letzten 60-70 Jahre zweifellos eine Erfolgsgeschichte waren? Jeder Blick zurück in das 19. Jhdt. und die erste Hälfte des 20. Jhdt. belehrt darüber, dass Europa nie reicher und friedlicher war als heute.
Ich möchte den folgenden Überlegungen die These zugrunde legen, dass es sich heute primär um geistige und ethische Orientierungskrisen mit einer wirtschaftlichen, politischen sowie kulturellen Dimension handelt und erst in zweiter Linie um institutionelle Probleme; ich möchte also die Blickrichtung umdrehen. Ich möchte die Frage „Europa quo vadis?“ dafür entlang klassischer Prinzipien der katholischen Sozialethik – Solidarität und Gemeinwohl und Versöhnung – thematisieren. Max Weber hat geschrieben, dass die Geschichte von Interessen und Ideen bestimmt ist. Ich gehe also davon aus, dass wir es vor allem mit einem Defizit an wirksamen und praktizierten humanen und geistigen Ideen zu tun haben.
Ein zweiter, die folgenden Überlegungen leitender, stärker struktureller Gedanke stammt von dem liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf. Er hat das Verhältnis von liberaler Wirtschaftsordnung und liberaler politischer Ordnung treffend als Quadratur des Kreises charakterisiert. Während die national verankerte demokratische Politik auf dem Grundsatz der Gleichheit basiere (one man one vote), sei die liberale Wirtschaftsordnung tendenziell anti-egalitär. Die Globalisierung hat diese im System grundgelegte Spannung radikal verschärft.
Wirtschaft in Europa: Krise der Solidarität und des Gemeinwohlgedankens
Die soziale, später öko-soziale Marktwirtschaft war ein Kind der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Sie ermöglichte in allen Ländern Europas ein in der Geschichte einmaliges Maß an sozialem Ausgleich, nicht zuletzt durch die Bereitstellung einer Vielzahl öffentlicher Güter und trug so zur gerechteren Verteilung der erwirtschafteten Vermögen bei gleichzeitiger starker Erhöhung der Produktivität bei. Dieser sogenannte ‚rheinische Kapitalismus‘ verlor angesichts der Globalisierung jedenfalls teilweise seine institutionelle Grundlage. „Die Stürme der Globalisierung haben“, wie der deutsche Politikwissenschaftler Hauke Brunkhorst formuliert, „die wichtigsten Funktionssysteme und Wertsphären der Gesellschaft aus ihren nationalstaatlichen Verankerungen gerissen“.
Die der Globalisierung zugrunde liegenden technischen Erfindungen revolutionierten in nur 30 Jahren alle Lebensbereiche. Die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen änderten sich somit seit den 1980er Jahren radikal. Dies gilt vor allem für die Wirtschaft. Durch die Möglichkeit globaler Kommunikation in Echtzeit wurde ein globaler Markt geschaffen und die Entstehung globaler Wertschöpfungsketten ermöglicht. Ein Ende der Entwicklung sowie ihre langfristigen Folgen für Europa sind noch nicht absehbar. Eindeutig ist jedoch, dass neben Produktivitätsgewinnen massive Ungleichgewichte entstanden sind.
Diese Globalisierung wurde zudem von eine ideellen Komponente begleitet, die der deutsche Soziologe Ulrich Beck als Globalismus bezeichnete. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als der Globalismus – anders als die Globalisierung – durch politische Entscheidungen grundsätzlich beeinflussbar ist, sich der dominierenden neoliberalen Ideologie also in konkreten Fragen anschließen kann oder nicht. Deren Grundgedanke ist, dass der von allen Restriktionen befreite entfesselte globale Markt die ultimative Verwirklichung wirtschaftlicher Freiheit darstellt und immer und überall zu mehr Wohlstand führt. Staatliche Eingriffe jeglicher Art sind von daher kontraproduktiv und wirken sich notwendig wirtschaftlich nachteilig aus. Die dahinter stehende Vorstellung eines ökonomischen Gleichgewichtsdenkens geht von der mechanistischen Vorstellung aus, dass sich Markt-Gleichgewichte jedenfalls langfristig immer von selbst einstellen. Bereits John Meynard Keynes, der große britische Ökonom, hat dies mit britisch-pragmatischem Humor quittiert: „but in the long run we are all dead.“ Seine ökonomische Theorie nimmt, basierend auf den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise, den Staat als Stimulator der Wirtschaft in die Pflicht. Die Theorie des reinen Marktes wird heute vor allem von der neuen Rechten in den USA und (wenn auch hier weniger radikal) in Europa propagiert und findet durchaus auch im katholischen Raum ihre Fürsprecher. Doch der „Markt hat nicht immer recht“, wie der Ökonom Wilfried Stadler seine knappe lesenswerte Studie über die Finanzmärkte nennt. Die Dramatik der Finanzkrisen, die sich nach der Deregulierung der globalen Finanzmärkte 1991 multiplizierten, vor allem jene von 2008, haben bis heute spürbare Folgen. Die „Bankenrettungen“ ließen die Staatsschulden in vielen europäischen Ländern stark ansteigen. Noch schwerer wiegt, dass das Menetekel einer weiteren Finanzsystemkrise nach Ansicht praktisch aller Experten bisher in keiner Weise gebannt werden konnte.
Globalisierung und Globalismus führten zudem zu Reichtumskonzentrationen, die mit jenen vor dem Ersten Weltkrieg vergleichbar sind. Für wirtschaftliche Großakteure und Unternehmen wie Banken erweist sich der Wegfall nationaler Verankerungen insofern als vorteilhaft, als sie sich staatlichen Regulierungen und ihrer Steuerpflicht teilweise oder zur Gänze entziehen können. Der Wettbewerb unter Staaten führt zudem zu einem bottom down race hinsichtlich der Gewinnsteuern und ermöglicht die nicht marktkonforme Aushandlung von Steuervorteilen und Subventionen. Ein Beispiel dafür ist, dass der Großkonzern Apple Irland, dem Land in der EU mit den niedrigsten Gewinnsteuern und einer der höchsten Staatsverschuldungen aufgrund des bail-outs einer Bank, Steuern von Milliarden Euro nachzahlen sollte. Irland lehnte dies ab, um seinen Standortvorteil für Großunternehmen nicht zu gefährden und sollte dazu von der zuständigen EU-Kommission gezwungen werden. Diese Vermögenskonzentrationen sind aus sozialen wie wirtschafts- und demokratiepolitischen Gründen besorgniserregend. Konzerne können aufgrund ihrer schieren Finanzmacht die Entstehung von Gesetzen durch Lobbying ebenso wie deren Auslegung zu ihren Gunsten beeinflussen. Eine mir bekannte Handelsrichterin antwortete auf meine Frage, warum Prozesse gegen Großunternehmen und Banken so lange dauern, dass die Zahl der Richter in keinem Verhältnis zur Zahl der – überdies um vieles besser bezahlten – Rechtsanwälte steht, die von Seiten der Großunternehmen den Prozess begleiten. Massive finanzielle Ressourcen verschaffen so wirtschaftlichen Großakteuren Vorteile, ohne dass Korruption im Spiel wäre. Sie können zudem eingesetzt werden, um die öffentliche Meinung in eine genehme Richtung zu lenken und Kritik zu unterbinden. So sagte vor einigen Jahren ein Universitätsdozent für Wirtschaftswissenschaften in einer Radiosendung, dass die Hypo-Alpe-Adria ihre mitteleuropäischen (Konzern-)Töchter wohl schwer an den Mann bringen werden, was den Schaden mutmaßlich erhöhe. Wiewohl diese Aussage durchaus fundiert war, erhielt er noch am selben Tag ein Fax der Rechtsanwälte der vom österreichischen Staat mit Milliarden gestützten Bank mit einer Klagedrohung wegen Rufschädigung. Er setzte sich publizistisch zur Wehr, woraufhin die Anklage fallengelassen wurde. Das Beispiel zeigt, wie leicht Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch Einschüchterung umgesetzt werden könnten.
Trotz dieser „Nebenwirkungen“ dominiert die verführerisch einfache wirtschaftliche Gleichgewichtslogik sich selbst regulierender Märkte (ursprünglich übrigens Ausfluss eines optimistischen deistischen Vorsehungsglaubens, der bei Adam Smith durch die unsichtbare Hand – nun des Marktes – repräsentiert wird) im akademischen Bereich wie in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt aufgrund finanzkräftiger Sponsoren. Zu dem wirtschaftstheoretischen Defiziten kommen beachtliche praktische Schwierigkeiten hinzu: Kooperationsabkommen zwischen 196 Staaten mit höchst unterschiedlichen Interessen auf den Weg zu bringen, um Steueroasen auszutrocknen, den Klimawandel zu bekämpfen u. Ä. m. sowie die Überwachung der Einhaltung der Verträge sind beinahe unmöglich. Doch gerade hier böte eine koordinierte Zusammenarbeit innerhalb der EU gewisse Chancen, die bisher jedoch meist nicht ergriffen wurden mit dem Argument, dass dies möglicherweise zu Wettbewerbsnachteilen führen könnte.
Doch die Folgen derartiger ideologischer und wirtschaftspolitischer Einseitigkeiten sind gravierend: wachsende Staatsverschuldung aufgrund des Ausfalls von Steuereinnahmen von Großunternehmen sowie nicht marktkonforme Subventionen für Konzerne (um Arbeitsplätze zu sichern) als auch Bail-outs jener Bankinstitute, die zu groß sind, um sie fallen zu lassen; das sind die wichtigsten Kollateralschäden. Ausgabenreduktionen im Infrastrukturen-, Sozial- und Bildungsbereich und/oder weitere Schulden des Staates sowie der Länder und Kommunen sind die Folge, wobei beides zu Lasten der Zukunft geht. „Lauter kleine Griechenländer“ titelte unlängst eine deutsche Tageszeitung mit Blick auf die deutschen Kommunen. Zusammenfassend: Die wirtschaftliche Globalisierung hat manchen Akteuren in den letzten Jahrzehnten riesige Gewinne gebracht und generell zu Produktivitätszuwächsen geführt; doch zugleich wurden ihre langfristigen negativen Dynamiken gravierend unterschätzt.
In Europa kam hinzu, dass die Globalisierung ebenso wie der Globalismus in etwa zeitgleich mit dem Fall der Berliner Mauer einsetzte. Sie fallen so mit dem Ende der politischen wie ideologischen Nachkriegsbipolarität zusammen. Die Politik in Europa und in der EU war in den Jahren danach wesentlich damit beschäftigt, die Folgen des annus mirabilis 1989 zu bewältigen. Die EU hat diese Herausforderung durch die Integration von 12 (bzw. 13 mit Kroatien) Ländern nach der Implosion kommunistischer Regime in Ost- und Mitteleuropa überraschend gut bewältigt. Aber sie band einen Teil jener Kräfte, die notwendig gewesen wären, um die zeitgleichen Folgen der Globalisierung aufzufangen und ihr – im Idealfall – ein menschliches und europäisches Gesicht zu geben.
Dazu hätte es mehr an Solidarität bedurft, um vor allem die schwächeren Bevölkerungsschichten in den ärmeren Ländern der EU zu unterstützen (assymetrische Solidarität) und die EU als gemeinsamen politischen Raum öko-sozial zu gestalten und ihn in eben dieser Weise angesichts der großen neuen globalen Herausforderungen zu positionieren. Das Fehlen einer vergemeinschafteten Wirtschafts- und Sozialpolitik macht die Staaten anfällig für wirtschaftliche Dynamiken, die in den jetzigen Zustand divergenter Entwicklungen führen. Die heute allgemein als verfrüht eingestufte Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung wurde unter diesen Bedingungen zu einem gewagten Experiment mit ungewissem Ausgang. Die Annahme, dass hier wie in früheren Fällen die europäische Politik nachziehen und der Euro zur Triebkraft einer vertieften politischen Integration Europas werden könnte, bewahrheitete sich jedenfalls angesichts der sich verstärkenden zentrifugalen Kräfte nicht. Die Griechenlandkrise mit ihren dramatischen sozialen Folgen war und ist die tragische Folge. Sie vergiftet das politische innereuropäische Klima bis heute. Bei einer Tagung von Iustitia et pax in Rom im Jahre 2013 beschwerte sich ein Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank über die unverantwortlichen Griechen. Auf meine Frage, ob es stimme, dass ca. 90% der europäischen Finanzhilfen an deutsche und französische Banken zurückgeflossen seien, meinte er etwas verlegen: Ja, sie haben recht. Die Komplexität dieses Vorgangs wird, was zusätzlich beunruhigen muss, selbst von Finanzexperten und Bankmanagern nicht wirklich durchschaut.
Diese wie andere Fälle zeigen, dass unter den gegenwärtigen globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die wirtschaftliche Integration, die als vorrangiges Instrument zur politischen Integration Europas konzipiert war und auch so wirkte – seit 2008 aber eher zu einem Faktor der Desintegration geworden ist und den Zerfall der EU befördert.
Doch die europäische Wirtschaftspolitik basiert auf politischen Entscheidungen, die – vor allem wenn innerhalb der EU koordiniert – trotz der Globalisierung bis zu einem gewissen Grad steuerbar sind. Es wäre daher durchaus möglich, die Idee innereuropäischer Solidarität sechzig Jahre nach Gründung der EU angesichts der neuen geopolitischen und -wirtschaftlichen Situation neu zu denken. Wie könnten – so die zentrale Frage – neue kreative Ideen aussehen, die jenen der Vordenker der europäischen Ordnung entsprechen? Was käme heute der genialen Idee eines Jean Monnet gleich, der bereits in der Zwischenkriegszeit den Plan für eine europäische Nachkriegsordnung entwarf, die eine Vergemeinschaftung der wichtigsten Kriegsmaterialien (Kohle und Stahl) vorsah, und zwar mit dem Ziel, weitere Kriege in Europa zu verhindern? Sie war die Grundlage des Schuman-Plans, der bereits sechs Jahre (!) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Gründung der Montanunion als Nukleus einer neuen europäischen Friedensordnung führte. Wie müssten derartige weitsichtige Pläne aussehen, um unter den um vieles besseren ökonomischen und politischen Bedingungen der Gegenwart grundlegende Probleme zu lösen? Dazu gehören u. a. eine europäische Sozialordnung, effiziente EU-Regeln gegen Steuerevasion und zur Eindämmung der Finanzspekulation, die Bereitstellung und der Erhalt öffentlicher Güter vor allem im ländlichen Raum, die Drosselung des Energieverbrauchs durch eine Energiesteuer und – last but not least – eine europaweit koordinierte Flüchtlingspolitik. Dies immer mit dem Blick auf die Folgen für sozial Schwächere, Arbeitslose, kinderreiche Familien und Pensionisten – also einer „Option für die Armen“, wobei die Bedingungen in den einzelnen Ländern zu berücksichtigen wären. Der bereits zitierte Jeffrey Sachs hat von einem therapeutischen Entwicklungsmodell für einzelne Länder gesprochen. Für eine derartige weitsichtige innereuropäische Solidaritätspolitik gibt es gegenwärtig leider kaum Anzeichen (außer in den Reden des französischen Präsidenten Macron). Es fehlt die ideelle und moralische Vision sowie der politische Wille, diese durchzusetzen, ja mehr noch: Begriffe wie Solidarität werden (auch im katholischen Milieu) abgewertet aus der Angst heraus, dass der eigene Wohlstand irgendwie geschmälert werden könnte. Hier ist daran zu erinnern, dass nach christlichem Verständnis Eigentum und Vermögen dem Menschen anvertraut sind, um seine materiellen Grundbedürfnisse zu decken. Sie begründen kein absolutes Recht. In diesem Sinne spricht Gaudium et spes wie die gesamte kirchliche Sozialverkündigung von einer „universalen Bestimmung der Erdengüter“. Eine Reflexion darüber, was diese Sozialpflichtigkeit des Eigentums in einer Zeit großen materiellen Wohlstands in Europa bedeuten könnte, wäre angebracht, um Solidarität als sozialethisches Leitbild europäischer Politik wieder neu zu beleben.
Zu den beachtlichen Flurschäden einer ökonomistischen Ära gehört die Aushöhlung der Idee des Gemeinwohls als Zielwert von Politik. Die liberalistische Vorstellung, dass Gemeinwohl ausschließlich die Summe der Einzelwohle sei, ist einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Partei- und Individualinteressen haben ihren Ort, aber sie sind nicht oberstes Ziel von Politik und können es nicht sein. Es schadet der Dignität von Politik und entspricht nicht ihren realen Gegebenheiten, wenn das gesamte politische Handeln als von (bestenfalls langfristigen) Eigeninteressen geleitet begriffen wird. Menschen handeln keineswegs nur aus Eigeninteresse. Sie wissen, dass sie für das Wohl von Anderen verantwortlich sind. Dies gilt in besonderer Weise für Verantwortungsträger in Leitungsfunktionen, die auch rechtlich verpflichtet sind, ihrer Verantwortung für das Wohl der ihnen anvertrauten Gruppe bis hin zur Nation und darüber hinaus gerecht zu werden. Diese Wiederentdeckung des Gemeinwohls als Zentralbegriff politischer Ethik fordert zugleich zur Klarstellung heraus, wie sich unter gegenwärtigen Bedingungen das nationalstaatliche, europäische und internationale Gemeinwohl zueinander verhalten. Es ist offenkundig, dass aufgrund der europäischen Integration und der Globalisierung zwischen diesen drei Ebenen starke Verflechtungen bestehen. Es bleibt jedoch jeweils zu klären, wie sich dies in einzelnen Sachfragen auswirkt. Zu warnen ist dabei vor einer grundsätzlichen Entgegensetzung von nationalem und europäischem Gemeinwohl respektive vor einer Überordnung von ersterem über letzteres. Die Schwierigkeiten, die sich so aufbauen lassen, zeigen die Brexit-Verhandlungen dieser Tage überdeutlich, wodurch ihnen – so ist zu hoffen – eine abschreckende Wirkung zukommt.
Nationalismus: europäischer Frieden- und Versöhnung in der Krise?
Das zentrale Leitwort der Generationen nach 1945 war: Nie wieder Krieg! Diesem fundamentalen ethischen Impuls verdankt sich nach den Schrecken der Weltkriege und Totalitarismen die europäische wie internationale Nachkriegsordnung. Mehr als siebzig Jahre später erscheint die Rede von Europa als Friedensprojekt etwas abgenutzt. Nach Jahrzehnten des Friedens ist die Erinnerung an die einmalige historische Leistung von damals verblasst. Zugleich beginnen viele zu ahnen, dass diese europäische Friedensordnung in Europa weder selbstverständlich noch unzerstörbar ist. Kriege im europäischen Umfeld (Krim, Syrien etc.) sowie Konflikte wie um die Sezession Kataloniens, die bitteren Töne bei der „Scheidung“ von Großbritannien und revisionistische Tendenzen in manchen EU- Ländern (z. B. die Austeilung von Pässen an Angehörige anderer Nationen) zeigen, wie fragil Friede ist und wie leicht Spannungen in echte Konflikte umschlagen könnten.
Eine nationalistisch ausgerichtete Politik spielt hier angesichts der vielen „Leichen im Keller“ leichtsinnig mit dem Feuer. Die Gründe für die nationalistischen Renaissancen sind unterschiedlich, weisen jedoch ähnliche Muster auf. Nationalistische Parteien stützen sich vor allem auf sogenannte Modernisierungsverlierer, vor allem in ländlichen Regionen, die sie durch Sozialleistungen für Angehörige der eigenen Nation gewinnen. Großzügige Unterstützung für kinderreiche Familien, ebenso wie für nach der Wende stark benachteiligte Pensionisten und ländliche Regionen (Polen), die Beschränkung der Gewinne von Banken beim Umtausch von Devisenkrediten (Ungarn) haben dort das Fundament für die sich etablierenden illiberalen Demokratien gelegt. Es handelt sich demnach zuerst um soziale Nationalismen. Kehrt man die Worte um, könnte man von nationalen Sozialismen sprechen, wobei der schockierende Nebenklang die potentielle Sprengkraft deutlich macht. In anderen Ländern handelt es sich noch weitgehend um Protestparteien, die jedoch gleichfalls unter sozialem Vorzeichen die politischen und wirtschaftlichen Eliten und das europäische Projekt als Ganzes herausfordern. Die Migrationsthematik spielt immer und überall eine zentrale ideelle Rolle. Die soziale Rhetorik verbindet sich dabei mit einem verführerischen Geschichtsnarrativ, das die Nationalisten in West- wie Mitteleuropa mit populistischer Unverantwortlichkeit verbreiten. Es zielt letztlich auf die offene Flanke liberaler Gesellschaften und Politik, da – so nochmals Ralf Dahrendorf – Marktwirtschaft und Demokratie „kalte, ja eisige Projekte“ sind. Die Erinnerung an nationale Größe sowie an die Rolle der eigenen Nation als Opfer, verbunden mit der Nostalgie nach einer besseren Vergangenheit, sind demgegenüber herzerwärmend. Sie stärken zudem das Selbstbewusstsein aller, die dazu gehören, vor allem jener, deren eigene Leistung den Hochglanzanforderungen der Gegenwart nicht entsprechen kann. Dass diese neue nationalistische Rechte sich ökonomisch mit libertären und vielfach auch militaristischen Ideen verbindet, ist ebenso wie ihre Unterstützung durch Russland, das ein geopolitisches Interesse am Zerfall des europäischen Projekts hat, besorgniserregend. Die gesellschaftspolitische Orientierung an sogenannten traditionellen Werten (für die Familie, gegen Homosexualität), macht sie, wie Wähleruntersuchungen zeigen, durchaus auch für Christen attraktiv. Die anti-demokratischen Positionen – wie die Verletzungen des Rechtsstaats – werden dafür vielfach unreflektiert in Kauf genommen.
Die Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten Jahre haben die nationalistischen Positionen massiv gestärkt. Aus für die Zukunft Europas wichtigen politisch zu behandelnden Fragen wurden so Identitäts- und Kulturkämpfe, die rational-politischer Lösungen kaum mehr zugänglich sind. Konrad Ott hat dies in der Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik überzeugend analysiert. Die Dynamik selbst ist jedoch, dies sei wenigstens angedeutet, im politischen Projekt der Moderne angelegt, insofern seine Trias ‚Grundrechte, Demokratie und Nation‘ als deren vorrangiger Realisationsraum zusammen gehören. Die Europäische Union als politisches Gebilde und das Schengen-Abkommen haben hier neue Realitäten geschaffen, deren institutionelle Ausgestaltung sich jedoch politisch wiederum als schwierig erwiesen hat. Was die Zukunft der europäischen Integration betrifft, so ist die Frage der Verteilung von Flüchtlingen dennoch mehr ein Symptom denn die Ursache für das Auseinanderdriften von – vereinfacht gesagt – West und Ost. Wichtiger für die Entfremdung scheinen unaufgearbeitete historische Hypotheken, vor allem der jüngeren Vergangenheit. Eine potentielle Geschichtsvergessenheit des liberalen Projekts schafft hier ein Vakuum, in das nationalistische Leitideen eindringen und Ressentiments gegen Angehörige anderer Völker, außereuropäisch wie europäisch, schüren. Das erste Opfer bei Ausschreitungen nach dem Brexit war ein polnischer Installateur. Hier besteht ein nicht zu unterschätzendes Sprengpotential zu einer Zeit, da die historische Distanz vergessen lässt, dass Nationalismen in die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs führten. In einer globalisierten Welt mit neuen Großmächten wie China, für die auch ein geeintes Europa eine mittelgroße Macht ist, sind derartige Nationalismen eine Sackgasse sowie irreal anmutende Flucht in die politische Bedeutungslosigkeit. Die einzelnen Nationen eines „Europas der Vaterländer“ wären ein Spielball alter und neuer Großmächte. Eine nationalistische Politik ist von daher parasitär, da sie davon lebt, dass die europäische Gemeinschaft einen gewissen Schutzraum bietet.
Die Europäische Union bietet das wohl historisch eindrucksvollste Beispiel dafür, dass die Aussöhnung von Völkern nach Kriegen möglich ist. Sie gilt daher außerhalb Europas – mehr als vor Ort – als höchst nachahmenswertes Modell konstruktiver Politik. Das Wie des Umgangs mit vergangenem Unrecht erweist sich angesichts menschlicher Fehlbarkeit und Sündhaftigkeit dabei als politisch zentral. Hannah Arendt schrieb einmal, dass die Einsicht in die Notwendigkeit von Versöhnung aus dem Neuen Testament stamme, aber dies „kein Grund ist, sie nicht in einem durchaus diesseitigen Sinne so ernst zu nehmen, wie sie es verdient“.
Versöhnungsprozesse sind, so zeigt sich, nie endgültig abgeschlossen. Geschichte kann nie zur Gänze „aufgearbeitet“ werden. Aufgabe der Politik bleibt es daher, die negativen Potentiale der Geschichte immer wieder zu entschärfen. Den Kirchen, denen das „Evangelium von der Versöhnung“ (2. Kor 5,18) anvertraut ist, kommt hier eine besondere zivilgesellschaftliche Rolle zu. In Europa ruft dies nach einer Ökumene, besonders unter Einschluss der Orthodoxen Kirchen, um Zäsuren zu setzen, ethische Maßstäbe angesichts historischer Gräuel zu klären und den Opfern posthum wie immer unvollkommen jene Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die die Lebenden mit der Geschichte ein wenig versöhnt.
Christliche Inspirationen: Elefantengedächtnis und eine Ethik der Hoffnung
Am Schluss sollen einige knappe Überlegungen stehen, welche Impulse die Kirchen des Kontinents in dieser Situation geben könnten. Denn trotz aller Säkularisierungen sind sie die größten zivilgesellschaftlichen Institutionen in Europa und tragen dementsprechend eine Verantwortung, der sie verstärkt nachkommen sollten.
Wenn die obige These stimmt, dass sich Europa heute zuerst und vor allem in einer ethischen Orientierungskrise befindet, dann sollte dies eigentlich ein kairos für die Kirchen sein. Auch weil sie in diesem Europa ein in der Geschichte kaum je gegebenes Maß an Freiheit (und vielfach auch Wohlstand) genießen und ohne den eigenen Kopf zu riskieren, kritische, ja prophetische Positionen in die Öffentlichkeit bringen können. Ihr historisches „Elefantengedächtnis“ (Johann B. Metz) sollte sie zudem dazu befähigen, sozialethische Leitlinien in die Gesellschaft einzubringen und so die Hoffnung in die Möglichkeit eines konstruktiven Umgangs mit den Problemen zu stärken. Sie könnten so jenem Pessimismus, ja Zynismus sowie überzogenen Erwartungen entgegenwirken, die sich ausbreiten und die zunehmend die Fähigkeit zu effektivem politischem Handeln lähmen. Unterschwellige Hoffnungslosigkeit und drohende Resignation sind nicht nur eine Folge sich verschärfender Krisen, sondern – so scheint es – selbst wesentlicher Teil der Krise. Ist hier ein überoptimistischer Fortschrittsglaube breitenwirksam dabei, in sein Gegenteil zu kippen? Die Schwachstellen und die Fragilität des Projekts der Moderne sind heute offenkundig. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gibt es bestenfalls im Fragment. Zugleich gibt es jedoch in Europa ein Maß an sozialer Sicherheit, Lebenserwartung und Lebensqualität, für das Dankbarkeit schlicht angesagt ist. Die „große Gereiztheit“ (Bernhard Pörksen) entspringt demnach weniger den materiellen Bedingungen als einem Verlust von Wissen um die conditio humana an sich.
Sich deshalb vom Projekt der Moderne innerlich zu verabschieden, ohne lebenswerte Alternativen anzubieten, wäre in höchstem Maße unverantwortlich. Es gilt vielmehr, seine Fundamente – last but not least – aus den Ressourcen einer christlichen Kultur zu stärken. Dazu gehört auch, die Ethik als eine Art humane Weisheitslehre mit ihrer eigenen Rationalität zu begreifen. Die modernen Naturwissenschaften und damit verbundene Ideen eines social engineering haben ein Vakuum zuerst in der Theorie entstehen lassen. Der Ablehnung von Moral überhaupt steht dabei zunehmend eine Art von Hypermoral oder maßloser Moral (Konrad Paul Lissmann) gegenüber, die jedoch gleichfalls den Charakter ethischer Rationalität als Umrisswissen (Aristoteles) verkennt. Moral ist menschlich und hat es daher immer mit Ungewissheit, Abwägungen und Unvollkommenheiten zu tun. Anders gesagt: Menschliches Handeln in Freiheit steht, wie immer man es dreht und wendet, unter „eschatologischem Vorbehalt“ (Johann B. Metz).
In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreises im Mai 2016 hat Papst Franziskus drei Maximen für Europa aufgestellt: es sei Zeit zu integrieren, Dialoge mit Feingefühl zu führen und kreativ Neues zu generieren. Dies könnte durchaus ein Programmentwurf für Christen sein, um sich in zivilgesellschaftliche und politische Prozesse einzubringen und gemeinsam mit anderen um humane Lösungen zu ringen. Die dafür notwendige Innovationsbereitschaft und Risikofreudigkeit kommen aus der Hoffnung, die aus der Geduld stammt und aus der Bewältigung von Bedrängnis resultiert (Röm 5,3-5). Das Christentum lässt das Weltliche nicht hinter sich, sondern vermenschlicht, kultiviert und transzendiert es. Es lebt aus der Verheißung, dass Friede und Gerechtigkeit am Ende der Zeit triumphieren werden. Diese große Vision der Gottesgerechtigkeit als kritisches Korrektiv jeder Gegenwart und Hoffnungslosigkeit ist heute in Europa mehr denn je gefragt. Dass wir keine vollkommene Welt schaffen können, entbindet uns nicht von der Verpflichtung, diese Welt zu verbessern, wo immer es möglich ist.
Ein Rückblick in die Geschichte kann hier durchaus stimulierend sein. Vor einiger Zeit las ich in einem bayrischen Benediktinerkloster in der Chronik des Stifts. Beeindruckt hat mich, wie oft im Laufe der Jahrhunderte dieses Kloster zerstört und wieder aufgebaut wurde. Diese Haltung, die man modern als Resilienz bezeichnet, ist Ausdruck einer unbesiegbaren Hoffnung und Kraft. Ein wenig davon wäre Europa heute zu wünschen.