Für die christliche Tradition ist Judas Iskariot der Problemjünger schlechthin. Das demonstrieren die synoptischen Evangelien schon dort, wo sein Name zum ersten Mal fällt, nämlich bei der Aufzählung der Zwölf um Jesus: Als ob man zögern würde, diesen Namen überhaupt in den Mund zu nehmen, wird Judas Iskariot als letzter nachgeschoben, nicht ohne an seine alles überschattende Rolle zu erinnern: „… und Judas Iskariot, der ihn auch verriet“ (Mk 3,19, vgl. Mt 10,4). Judas arrangiert Jesu Verhaftung. Er führt die mit Schwertern und Knüppeln bewaffneten Gegner Jesu in der Nacht nach Getsemani, um den wehrlosen Beter festzusetzen. So hat man es seit jeher im Ohr. Schon die Mentelin-Bibel, die erste, im Jahr 1466 unter Rückgriff auf einen mittelalterlichen Text gedruckte deutsche Bibel, spricht ebenso wie die Lutherbibel an dieser und anderen Stellen vom „Verrat“ des Judas. Gibt es einen Grund zu bezweifeln, dass Judas „der Verräter“ ist?

Unsere Ohren werden sich in Zukunft umstellen müssen. Denn so selbstverständlich diese Ausdrucksweise seit Jahrhunderten daherkommt, sie ist meist nicht korrekt. Das Verb im griechischen Original bedeutet an dieser Stelle neutral „übergeben“. Die neue Einheitsübersetzung von 2016 hat dies berücksichtigt und deshalb mit „ausliefern“ übersetzt. Einmal schert allerdings Lukas aus diesem neutralen Sprachgebrauch aus. In seiner Jüngerliste ist Judas explizit der prodotes, der „Verräter“ (Lk 6,16). Und dieser Begriff setzt sich durch, bereits in den Schriften der alten Kirche und auch in der Legende des Mittelalters.

Doch ist diese wertende Deutung des Geschehens nicht auch sachgerecht?

Einhellig erzählen die Passionsgeschichten der kanonischen Evangelien vom Aufeinandertreffen in Getsemani – und von einem Judas, der die Seiten gewechselt hat. Er führt ein Verhaftungskommando zu seinem Lehrer und Freund, der eben noch mit ihm am Tisch saß. Die Übermacht ist abzusehen und damit die Konfrontation Jesu mit den religiösen und politischen Machthabern. Sollte Judas so naiv gewesen sein, die Gefahr für Jesus nicht zu riechen? Sollte er nicht abgeschätzt haben, dass im Trubel des Pilgergetümmels zum Pessachfest Jesu Auftreten unterdrückt würde, wenn nicht gar eine empfindliche Strafe auf der harten Hand läge? Das spricht dafür, dass Judas seinem ehemaligen Lehrer und Freund in den Rücken gefallen ist. Bei Nacht und Nebel verrät Judas den schutzlosen Jesus, so die Evangelien.

Die synoptischen Evangelien erzählen sogar von einem Kuss als verräterischem, heuchlerischem Zeichen, mit dem Judas Jesus identifiziert habe: Sei es ein Freundschaftskuss, sei es eine Ehrerbietung, dieser Kuss hat in jedem Fall einen doppelten Boden. Judas kommuniziert nur vordergründig mit Jesus, sein eigentliches Publikum sind die Schergen im Hintergrund. Ein falsches Spiel.

Diesen Zug einer verräterischen Falschheit reizen die Evangelien auf unterschiedliche Weise aus: Matthäus lässt seinen Judas, der Jesus zuvor regelrecht verkauft hat, beim Mahl scheinheilig fragen, ob er der angekündigte Auslieferer sei (Mt 26,14–16.25). Bei Johannes ist es allein Judas, der diebische Kassenwart, der die Salbung Jesu in Bethanien für eine Verschwendung hält – weil er den Erlös des Salböls lieber selbst behalten hätte. Und doch schlägt er scheinheilig vor, das Geld könne den Armen gegeben werden (Joh 12,4–6).

Das Johannesevangelium pointiert schliesslich ein weiteres Erzählmotiv, das Lukas nur kurz andeutet: Von Judas hätte der Teufel, der Herr der Finsternis, Besitz ergriffen (Joh 13,27). Damit inszeniert Johannes den Freundesverrat als Brennpunkt eines kosmischen Dramas: Licht und Finsternis, Herrlichkeit und Welt kämpfen gegeneinander. Jesus kennt die Hintergründe, für ihn ist von Anfang an klar, dass Judas auf der anderen Seite steht (Joh 6,70; 17,12); als Judas das Mahl verlässt, tritt er ein in die „Nacht“ (Joh 13,30), die versucht, das Licht zu erfassen – was ihr, so Johannes, im Letzten aber nicht gelingt (Joh 1,5).

Im Johannesevangelium ist es die Stimme des wissenden Jesus, die Judas der anderen Seite zuordnet. Doch auch in den übrigen Evangelien distanziert sich Jesus: Beim letzten Mahl spricht er selbst das Wehe über den „Überlieferer“ (Mk 14,21 par).

Die christliche Tradition hatte es also nicht schwer, aus den biblischen Erzählungen den dunklen Judas, den Verräter herauszukristallisieren. Darin spiegelt sich wohl auch Lebenserfahrung. Bedenkt man die Anfänge der Jesusbewegung, steht uns eine marginalisierte, oft angefeindete Minderheitengruppe vor Augen. Sie wird verhört vor Ortsversammlungen und Statthaltern, denunziert von den eigenen Familien, in Frage gestellt von den Freunden, die schliesslich doch ausstiegen und sich auf die andere Seite schlugen (z. B. Mk 13,9–13; Joh 8,31.37). Die Figur des Judas scheint von diesen Erfahrungen überschattet. In Judas, dem „Verräter“, potenziert sich eine Urangst: die Angst, ausgeliefert zu werden von einer Person, der ich nicht trauen kann – deren Vorderseite ich sehe und zu glauben gezwungen bin, und die doch das Messer hinter dem Rücken hat.

Solche undurchschaubaren, doppelgesichtigen Beziehungen sind im Zusammenleben letztlich unerträglich, das Misstrauen zerfrisst den Geist. Der Figur des Judas wird nun die Last dieser Angst vor den schädlichen Beziehungen aufgeladen. An ihr wird aufgezeigt, dass es nicht akzeptabel ist, wenn die Nächsten ihre Loyalität aufkündigen oder sogar in den Rücken fallen. So wird die literarische Judasfigur zur Metapher des Unerwünschten. Unter seinem Verrat steht als markante Warnung und Hoffnung: „So nicht!“

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