Jesu letztes Mahl im „Obergemach“ eines ungenannten Jerusalemers

 

Wenn wir die Evangelien fragen, wo dieses letzte Mahl Jesu mit seinen JüngerInnen stattgefunden hat, stoßen wir auf ein seltsames Verschweigen: Bei Mk und Lk ist es ein Mann mit einem Wasserkrug – was für Männer unüblich ist und deshalb als spezielles Kennzeichen gelten kann –, der die Jünger Jesus zu einem Haus im Innern der Stadt hinführt, dessen ungenannter Herr ihnen ein mit Polstern belegtes Obergemach zur Verfügung stellt. Bei Mt werden die Jünger von Jesus pros ton deîna geschickt, in dessen Haus sie das Pesach-Mahl zubereiten sollen. Der Ausdruck pros ton deîna bezeichnet eine Person, die man nicht namentlich nennen will oder kann und wird meist mit „zu dem und dem“ übersetzt. Bei Joh fehlt jegliche Ortsangabe. Die Evangelien halten also geheim, wo Jesu seine Feier gehalten hat. Weshalb nur? War es ein geheimer Ort Jesu? Oder war es eine Geheimtradition der Christen Jerusalems? Wussten die Evangelisten in der zweiten Hälfte des 1. Jh. es nicht mehr? Oder haben sie die christliche Geheimhaltung – aus welchen Gründen auch immer – weitergeführt?

Dass Jesus und seine Jünger anschließend „zum Ölberg hinausgingen“, legt nahe, dass das letzte Mahl nicht allzu weit davon im Innern der Stadt eingenommen wurde. Aber auch dies ist höchstens eine plausible Vermutung.

Zu Beginn des 4. Jh. n. Chr. hat jedenfalls niemand mehr den Ort gekannt, an dem das letzte Abendmahl stattgefunden hat. Zuerst beging man dieses wichtige Geschehen in der Auferstehungskirche „hinter dem Kreuz“ von Golgota, dann in der Eleona-Basilika auf dem Ölberg und vorübergehend auch in der Verratsgrotte von Getsemani.

Das armenische Lektionar hat in der ersten Hälfte des 5. Jh. das letzte Abendmahl Jesu erstmals in der byzantinischen Hagia Sion-Basilika auf dem Südwesthügel der Stadt erwähnt. Seitdem ist in den Quellen zu beobachten, wie dieses für die Christen denkwürdige Geschehen mit zunehmender Ausschließlichkeit in der Sionskirche gefeiert wurde. Dieser Ort des Abendmahles teilte im Weiteren das Geschick der byzantinischen Basilika und des Nachfolgebaus, der Kreuzfahrerkathedrale Sancta Maria in Monte Sion – bis zu deren Zerstörung durch den aijubidischen Kalifen al-Muʿazzam im Jahr 1219.

Der heute bestehende Abendmahlssaal ist nach den Analysen von C. Enlart als ein Werk erst der 2. Kreuzfahrerzeit (1229–1244) anzusehen: Die Kreuzfahrer, die 1229 in die Ruinen der Sancta Maria in Monte Sion zurückkehrten, übernahmen die alte Tradition vom Abendmahlssaal in der Hagia Sion und errichteten dort in der Südostecke ein „Obergemach“ ihres Stils, mit Pfeilern, Scheidbögen und Querbögen. Auffällig sind im Westen des Raumes die Ansätze zu weiteren Gewölben – deutliche Zeugen der Hoffnung auf eine baldige Wiedererrichtung der einst so bedeutenden Kathedrale. Dazu kam es dann aber in den wenigen Jahren bis zum Einfall der Chwaresmier im Jahr 1244 nicht mehr.

 

Die rekonstruierte Vorgeschichte

Dieser sehr nüchterne, zweischiffige Raum im ersten Stock hat zwar mit dem ursprünglichen „Obergemach“, wo Jesus in Jerusalem sein Abschiedsmahl gefeiert hat (Mk 14,15), nichts mehr zu tun. Er entspricht dem Raum in der südöstlichen Ecke der byzantinischen Hagia Sion, in der auf der Zeichnung des Bischofs Arkulf (entstanden um 680) die Inschrift steht: locus hic caenae Domini (Dies ist der Ort des Abendmahles des Herrn). In vor- oder frühbyzantinischer Zeit war hier, im jetzigen kleinen Raum des Davidgrabes im Erdgeschoss, ein archäologisch aufgewiesener Sakralraum, dessen Ausrichtung auf Golgota und besonders dessen Graffiti auf einen christlichen Gebrauch hinweisen.

Ich identifiziere diesen Sakralraum zögerlich mit jener „kleinen Kirche Gottes“, die Epiphanius von Salamis im Jahr 392 erwähnt. Weiter zurück kann man nicht kommen. Der ursprüngliche Ort bleibt ein Geheimnis.

 

Der ursprüngliche Sinn …

Ein Blick auf die Texte des Paulus und der Synoptiker zeigt, dass diese ein Mahl Jesu in die Erinnerung der Christen rufen, das im Rahmen des jüdischen Pesachfestes stattfand – ob am Abend vor Pesach oder am Pesachabend selbst sei jetzt dahingestellt.

Es ist in diesen Texten deutlich, dass Jesus die einfachen Gesten des gemeinsamen Mahles von Brot und Wein für die Menschen vollzieht: So wie diese Speisen zugrunde gehen – das Brot wird gebrochen, der Kelch ausgeteilt – um die Menschen zu stärken und miteinander zu verbinden, so besteht der Sinn seines eigenen gebrechlichen Lebens darin, für die Menschen bis in den Tod da zu sein. Seine Existenz muss als Pro-Existenz bis in den Tod verstanden werden.

 

… und eine späte, ganz versteckte Verbindung

Der Abendmahlssaal ist – trotz seiner kreuzfahrerzeitlichen Fremdheit – deshalb der erste Ort unter den Orten Jerusalems, die zur Passion Jesu gehören. Im letzten Abendmahl hat Jesus auf schlichtest mögliche Weise seine Passion vorausgenommen und den JüngerInnen in einer Mahlfeier nachvollziehbar gemacht. Deshalb kann Paulus sagen, dass der Vollzug des Gedächtnisses an dieses Mahl eine „Verkündigung des Todes des Herrn ist, bis er wiederkommt“.

Die einzige Verbindung des kreuzfahrerzeitlichen Obergemachs zum Abendmahl Jesu als „Verkündigung des Todes des Herrn“ sehe ich in einem ikonographischen Detail: Das mittelalterliche Kapitell der kleinen Säule des Kuppelbaues über dem Treppenaufgang zeigt das Motiv des Pelikans, an dessen Brust die Jungen picken. Die spätantike Legende, dass der Pelikan sich seine Brust aufreiße, um den Jungen das Überleben zu sichern, und sich selbst dabei opfere, wurde aufgrund der lateinischen Übersetzung von Ps 102,7 (Ich gleiche dem Pelikan in der Wüste) seit dem 3. Jahrhundert besonders als Symbol der Hingabe Christi im Sinne des Abendmahls und der Kreuzigung interpretiert. Damit ist auf ein zentrales Moment des letzten Mahles Jesu mit seinen JüngerInnen ikonographisch auch noch in der 2. Kreuzfahrerzeit vorhanden.

Unmittelbar anschließend führen uns die Evangelien von ihrem geheimen Obergemach an den zweiten Ort der Passion, der nun aber sehr genau verortet und charakterisiert wird.

 

Getsemani – Jesu Entscheidung zum Tod am Fuß des Ölbergs

 

Getsemani in den Evangelien

Die Synoptiker nennen den Ölberg den neuen Ort, zu dem aus der Stadt hinaus- gegangen wird. Zwei topographisch-theologische Aspekte des Ölbergs sind für unser Thema wichtig.

Erstens. Der Ölberg war die Grenze zwischen der Stadt und der östlichen Wüste. Wie aus der gesamten Geschichte zu ersehen ist, konnte man sich hinter ihm absetzen, wenn man aus der Hauptstadt floh (wie David). Auf der anderen Seite war Wüste, in der man sich versteckte (wie David) und „Ausland“, in das man deportiert wurde (wie der Patriarch Zacharias; 614 n. Chr.). Deshalb konnte sich in der theologischen Topographie Jerusalems der Ölberg zu einem Entscheidungsort entwickeln, der stark vom Gedanken des Abschieds Gottes oder seines Gesandten und damit des Heils oder Unheils der Stadt geprägt ist.

Zweitens. Als ein Ort, der nach Flavius Josephus fünf oder sechs Stadien, also rund 1 Kilometer außerhalb der Stadt liegt, war der Ölberg nahe und entfernt genug, um im Alltagsleben die Rolle des naturnahen Erholungsraums der Stadt spielen zu können. Die Olivenplantagen waren wegen ihrer Nähe selbst für Spaziergänge am Sabbat geeignet, wo nur kurze Wegstrecken (vgl. Apg 1,12: „ein Sabbatweg“) erlaubt waren. Hier hatten die ankommenden Pilger und Besucher einen Ort, wo man noch nicht den strikten Reinheitsgesetzen und sonstigen Verhaltensvorschriften der Heiligen Stadt unterworfen war. Hierhin konnte man sich – und das ist für unsere Getsemani-Szene wichtig – auch aus dem Festgetümmel und dessen Gefährdungen zurückziehen, wobei die Grotten und Höhlen, die der Verwertung oder Lagerung der Oliven und des Öles dienten, benutzt werden konnten.

Markus und Matthäus geben noch einen genaueren Ortsnamen, während Lukas und Johannes dies unterlassen. Für sie war es der Ort, an dem Jesus sich „nach seiner Gewohnheit“ (Lk) und „oft“ (Joh) aufhielt.

Markus und Matthäus nennen Getsemani ein „Grundstück“, Johannes nennt es „Garten“. Es war demnach ein kultiviertes Stück Land. Zur Art der Kultivierung gibt der Name etwas mehr preis: Getsemani kommt von hebr./aram. gat-schemanim/n, (Presse von Ölen), was dieses Grundstück als eine Olivenplantage, die mit einer Öl-Kelter versehen war, bezeichnet.

Erstaunlicherweise ist der Name Getsemani nur bei Markus und Matthäus und sonst in keinem anderen Dokument der Antike belegt. Es scheint ein Flurname zu sein, der nur in der christlichen Tradition erhalten geblieben ist. Dieser Ort wurde von Mk und Mt nicht geheim gehalten! Vielleicht kommt Getsemani gerade wegen dieser christlichen Belegung in keinem jüdischen Dokument vor.

Die vier Evangelien erzählen hier die traurig-dramatischen Szenen, mit welchen die Leidensgeschichte Jesu real beginnt: das Zurücklassen der Jünger, das einsame Gebet Jesu, der Verrat des Judas, die Gefangennahme Jesu und      die Flucht aller Jünger.

Die Evangelisten stützten sich dabei auf eine gemeinsame alte Tradition; das macht ihre Gesamt-Stimmigkeit aus. Sie gestalten diese szenisch jedoch unterschiedlich aus.

Markus und Matthäus erzählen von drei Szenen an drei Stellen: Jesus bittet die Jünger nach der Ankunft in Getsemani, sich hinzusetzen. Dann nimmt er Petrus, Jakobus und Johannes beiseite und beginnt zu trauern. Schließlich lässt er diese drei auch zurück und „geht ein wenig weiter, fällt auf den Boden und betet“ zum Vater. Von diesem Ort seines einsamen Gebets geht er dreimal zum Ort der drei stets eingeschlafenen Jünger zurück, beim dritten Mal wird er von Judas und den Häschern dort angetroffen und gefangen genommen. Alle fliehen, nur Petrus folgt in sicherem Abstand dem Zug der Häscher in die Stadt. Nur bei Markus tritt seltsamerweise unversehens ein „nur mit einem Leinentuch bekleideter Jüngling“ auf, der dann aber auch, ohne einen eigenen narrativen Beitrag zu leisten, die Flucht ergreift.

Lukas kennt nur zwei Stellen: Jesus kommt mit seinen Jüngern am Ölberg zu „dem Ort“. Dass er ohne Namen ist, aber einen bestimmten Artikel hat, gibt an, dass es der gleiche bekannte Ort ist, den Jesus nach Lk 21,37 jeweils für sein Nachtlager am Ölberg benutzte. Da „reißt er sich los“ von allen Jüngern. Am zweiten Ort, „etwa ein Steinwurf“ entfernt, findet dann die nur bei Lukas überlieferte „Agonieszene“ mit dem Engel und dem Blutschweiß Jesu statt. Daraufhin kehrt Jesus zu allen Jüngern zurück, wo Judas mit seinen Häschern erscheint. Dann geht die Erzählung weiter wie bei Mk und Mt.

Bei Johannes gibt es schließlich nur eine Stelle und alles geht entsprechend schnell: Jesus geht mit seinen Jüngern über den Kidron, dann in den allen, auch Judas bekannten Garten (ohne Namen) hinein. Judas kommt gleich danach mit seinen Häschern zum Garten. Jesus „tritt hinaus“, erweist – typisch johanneisch – seine hoheitliche Macht und wird dann sofort zum Hohepriester Hannas abgeführt. Petrus und „ein anderer Jünger“ folgen ihm, während die übrigen offenbar im Garten zurückbleiben.

In keinem neutestamentlichen Text wird eine Grotte erwähnt, wie sie in der späteren Tradition bis heute eine wichtige Rolle spielt. Die Versuche, in der Bibel doch Anhaltspunkte für eine solche zu finden („hinausgehen“ oder der Jüngling als Wächter), sind gekünstelt.

Getsemani ist in den Evangelien der Ort nicht nur des Abschieds Jesu von den Jüngern, sondern auch von jeder gewalttätigen oder wunderhaften Durchsetzung seiner Sache. Es ist vor allem der Ort, wo Jesu freie Entscheidung zum Tod für seine Sache fiel: Man kann nicht in Getsemani verbleiben, wenn man seine Haut retten will. Der Gefährdete, der von hier nicht flieht (im Gegensatz zu David), bleibt dem Zugriff der Feinde in der Stadt ausgeliefert.

Und Jesus floh nicht, obwohl er wusste, dass es „das Geschick der Propheten ist, in Jerusalem den Tod zu finden“ (Lk 13,33b; Mt 23,34–38). Getsemani ist deshalb nach dem Neuen Testament der topographische Beweis für Jesu Entscheidung, seiner Vision von Versöhnung und Liebe auch in Leiden und Untergang treu zu bleiben.

                                                                                                         

Getsemani in der ältesten Geschichte

Aus den ersten drei Jahrhunderten ist über die Ortslage von Getsemani gar nichts bekannt.

  • Der älteste Zeuge, Eusebius von Cäsarea, gibt in seinem Onomastikon (um 330) zwei Orte an, an welchen die Getsemani-Traditionen der Evangelien schon vor seiner Zeit von den Christen besucht wurden: Erstens das „Grundstück Getsemani, wo Christus vor dem Leiden gebetet hat, das am Ölberg liegt, wo noch jetzt die Gläubigen eifrig ihre Gebete verrichten“. Und zweitens der „Winterbach Kidron, vor Jerusalem, wo Christus verraten wurde“. Eusebius kennt also einen viel besuchten Ort des Gebets Jesu „am Ölberg“ ohne Heiligtum und einen Ort des Verrats, der so weit unten im Talgrund liegt, dass er ihn zum Kidron selbst rechnet.
  • Fast gleichzeitig gibt der Pilger von Bordeaux (um 334) den genauen Ort des Verrats des Judas im Kidrontal an: „Wenn man dann Jerusalem durch das Osttor verlässt, … ist da ein Tal namens Josafat [= Kedron]. Auf der linken Seite (also nördlich), wo es Weinberge gibt, ist auch der Felsen, wo Judas Iskariot Christus verraten hat“. Es war also eine Steinformation (nicht eine Höhle!) im Talgrund, an der die Erinnerung an den Verrat haftete.
  • Bei Kyrill von Jerusalem (um 348/50) ist Getsemani nur mit der Erinnerung an den Verrat des Judas belegt, während der gesamte Ölberg als Ort angesehen wird, „wo diejenigen beteten, die nachts bei Jesus waren“. Eine Kirche gab es nach diesen ältesten Zeugen bis zu dieser Zeit offenbar an keinem der beiden Orte. Der eingezäunte Ölbaumgarten, an dem man zuerst vorbeikommt, mit seinen alten knorrigen Ölbäumen, entspricht sicher am ehesten dem Zustand dieses Bereichs zur Lebenszeit Jesu. Die sorgfältig angelegten Blumenbeete erinnern jedoch eher an den „Blumengarten“, den die Kreuzfahrer hier trostvoll angelegt hatten.
  • Die Nonne Etheria trifft in den Jahren 381–384 erstmals eine Kirche an, am Ort, wo der Herr gebetet hat. Dies ergibt sich aus ihrer Beschreibung der Jerusalemer Liturgie vom Hohen Donnerstag, ein Text, der wegen seinen topographischen und liturgischen Angaben äußerst kostbar ist. Die Liturgie des Hohen Donnerstag beginnt am Vorabend um 19 Uhr in der Eleona-Basilika auf der westlichen Kuppe des Ölberges mit der Lesung der johanneischen Abschiedsreden (Joh 14–17) und wird im Imbomon, einer (noch) freien Fläche „auf der Anhöhe“ (en tô bômô), mit vielfachen Gebeten, Lesungen und Hymnen von Mitternacht bis zum frühen Morgen weitergeführt. Danach beginnt der Abstieg. „Wenn die Hähne zu krähen beginnen, steigt man vom Imbomon mit Hymnengesang hinunter und gelangt zum Ort, wo der Herr gebetet hat, wie im Evangelium geschrieben steht: „Und er entfernte sich etwa einen Steinwurf weit und betete“. An diesem Ort ist nämlich eine vornehme Kirche (ecclesia elegans). Dort tritt der Bischof und das ganze Volk ein, dann wird ein für Ort und Tag geeignetes Gebet gesprochen, auch ein entsprechender Hymnus wird rezitiert und es wird der Text aus dem Evangelium gelesen, wo Er seinen Jüngern sagte: „Wacht, dass ihr nicht in Versuchung fallt!“ (Mk 14,33–42). Und der ganze Text wird zu Ende gelesen und schließlich noch ein Gebet gesprochen. Und schon steigen sie, (alle) bis zum kleinsten Kind, zu Fuß unter Hymnen(gesang) mit dem Bischof von dort nach Gessamani hinunter. Dorthin gelangen sie wegen der großen Menschenmenge und müde von den Nachtwachen und erschöpft von den täglichen Fasten – sie mussten ja einen so großen Berg hinabsteigen – ganz langsam unter Hymnen(gesang). Mehr als 200 Kirchenleuchter sind aber dort als Licht für das ganze Volk bereitet. Wenn man dann in Gessamani angelangt ist, wird zuerst ein geeignetes Gebet gesprochen, dann ein Hymnus rezitiert, schließlich wird jene Stelle aus dem Evangelium gelesen, in welcher der Herr gefangen genommen wurde (Mk 14,43–52). Während der Lektüre des Textes entsteht ein solches Gebrüll und Geschrei des ganzen Volkes in Tränen, dass das Stöhnen des ganzen Volkes vielleicht bis in die Stadt gehört wird. Und gleich danach geht man zu Fuß unter Hymnen(gesang) zur Stadt und kommt an jenem Zeitpunkt zum (Ost-)Tor, an dem man den einen Menschen vom anderen zu unterscheiden beginnt.“ Im unteren Teil des Westabhangs werden somit zwei liturgische Stationen erwähnt: Die „vornehme Kirche“ mit der Erinnerung an Jesu Gebet und den Schlaf der Jünger und ein tiefer im Talgrund liegender Ort Gessamani zum Gedenken an die Gefangennahme Jesu. In der Kirche wird ein Wortgottesdienst gehalten, in Gessamani findet bei stimmungsvoller Kerzenbeleuchtung im Freien eine sehr emotionale Abschiedsliturgie statt. Dies ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie in Jerusalem die Orte mit jesuanischer Tradition mit Leib und Seele und bis zu Erschöpfung ergangen wurden. Seit dem 6. Jahrhundert ist von einer Grotte die Rede, an der auch – wie schon einmal gesagt – die Abendmahlstradition haftete, die aber vor allem mit dem Verrat des Judas in Verbindung gebracht wurde. In der Abtei „Unserer Lieben Frau vom Tale Josafat“ der Kreuzfahrer bilden die beiden Orte die Besuchsstätten der Pilger: Eine Grotte des Verrats und eine neue, mit dicken Mauern befestigte Kirche des Erlösers, am gleichen Ort, aber in der Richtung leicht abweichend. Beide gehen im Schutt der Zerstörung unter Saladin im Jahr 1187 unter. Diese beiden Traditionen werden dann im 14. Jh. diametral verkehrt. Erst mit der archäologischen Wiederentdeckung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. durch die Franziskaner wurde die Traditionsverschiebung wieder rückgängig gemacht. Das heutige Heiligtum, erbaut 1924, ist ein von 16 Nationen unterstützter Neubau, der deshalb „Kirche der Nationen“ heißt. Unter und neben diesem Neubau sind noch Strukturen der byzantinischen und der kreuzfahrerzeitlichen Kirche zu sehen. Die älteste elegante Kirche war eine dreischiffige Basilika mit schlanken Mauern, deren Grundriss noch an Markierungen im Fußboden der modernen Kirche erkannt werden kann. Die Böden waren mit prachtvollen floralen und geometrischen Mosaiken bedeckt, die in den Seitenschiffen unter Glas noch erhalten sind. Im Presbyterium lag ein ca. 35 cm herausragendes Felsstück frei, das als Ort des Gebets und der Todesangst Jesu verehrt wurde und offenbar seit Beginn das Herzstück dieses Ortes war. Es liegt auch heute noch vor dem Altar frei und ist von einer die Dornenkrone Jesu symbolisierenden Schranke umgeben und geschützt. Dies ist das älteste Stück gläubiger Erinnerung an den Ort, wo Jesus nach den Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas in letzter Einsamkeit zu seinem „Abba, Vater“ gebetet und sich in dessen Willen ergeben hat. Der Ort Getsemani, an dem Jesus Halt gemacht hat, ist zudem ein topographischer Beweis, dass er sich freiwillig ins Leiden begeben hat.

 

Das theologische Todesurteil im Palast der Hohepriester

 

Im Neuen Testament

Den Ausgangspunkt für diese heilige Stätte bilden die durchaus sehr unterschiedlichen Texte der Evangelien von den Verhören Jesu vor dem amtierenden Hohepriester Kajafas und – nur im Johannesevangelium – auch bei dessen Schwiegervater Hannas.

Die Synoptiker haben die gleichen topographischen Angaben: Das erste Verhör, die Misshandlungen und der Tötungsbeschluss geschehen alle im Haus des Hohepriester, den Matthäus Kajafas nennt. Lukas hat eine zeitliche Verschiebung zum nächsten Morgen und vermeidet es, das theologisch begründete Todesurteil zu überliefern. Bei Johannes ist das Geschehen etwas anders gestaltet: Jesus wird zunächst zum Haus des Hohepriesters Hannas geschickt, wo er verhört wird und wo auch Petrus ihn drei Mal verleugnet. Erst danach wird er zu dessen Schwiegersohn, dem amtierenden Hohepriester Kajafas geschickt, ohne dass ein Verhör bei Kajafas erwähnt wird. Erst beim „Statthalter“ (Mt) Pilatus, der weltlichen Instanz, treffen sich die verschiedenen Erzählstränge, doch dann sind wir schon im Prätorium.

Historisch lässt sich wohl nur sagen, dass Jesus von den entscheidenden jüdischen Amtspersonen (Hohepriester, Älteste, Schriftgelehrte) und Institutionen (Hoher Rat, Ältestenrat) im Lauf eines nächtlichen oder frühmorgendlichen Schnellverfahrens aus theologischen Gründen (wegen Tempelkritik und Gotteslästerung) zum Tode verurteilt und dann der weltlichen Hand, dem Statthalter Pilatus, übergeben wurde.

 

In der Literatur des 4. nachchristlichen Jahrhundert

Es gibt im Neuen Testament keine Angaben zur Lage des Palastes oder der Paläste. Für eine nähere Bestimmung sind wir auf die ältesten Berichte, auf die Archäologie und topographische Überlegungen zur Stadt Jerusalem angewiesen.

Die älteste christliche Lokaltradition kennt und verehrt am Ostabhang des Sion eine Ruine als Stätte der Verurteilung und Geißelung Jesu durch Kajafas und der Verleugnung Jesu durch Petrus.

 

Eine Ruine mit hohem katechetischem Wert

Der Pilger von Bordeaux (334) bezeugt als erster eine Ruine am Ostabhang des Sionshügels. Er kommt vom „Tempelplatz“ her, passiert das Misttor, steigt zum Siloabecken hinunter und dann die Ostflanke des Sion hinauf. Dort trifft er auf den Ort, wo „das Haus des Hohepriesters Kajafas war“, also offensichtlich auf eine Gebäuderuine. Darin hatte ein Säulenstumpf eine besondere Bedeutung: „Und die Säule ist bis heute da, an welcher sie Christus mit Geißeln schlugen“. Dann geht der Pilger weiter über den Sion Richtung Neustadt, in deren Tal er die nächste Station, das Prätorium des Pilatus, sieht.

Kyrill von Jerusalem (348/50) trifft auf einem katechetischen Rundgang mit seinen Gläubigen am gleichen Ort ebenfalls eine Ruine und eine Säule an. Er sieht darin den Palast des Kajafas und die Geißelungssäule des leidenden Jesus. Die Ruine bietet ihm eindrückliches katechetisches Anschauungsmaterial: Sie lehrt „durch ihre jetzige Zerstörung die Macht dessen, der damals in dem Haus gerichtet worden war.“ Dies scheint mir der theologische Grund zu sein, weshalb der Ort als Ruine belassen worden ist. Ähnlich wie der verödet belassene Tempelplatz bezeugt hier die Ruine die erfolgte Umkehrung der realen Machtverhältnisse.

Etwa 100 Jahre später ist im armenischen Lektionar eine liturgische Station für die Nacht vom Hohen Donnerstag zum Karfreitag bezeugt: Die Prozession kommt von Getsemani (um den verwüsteten Tempelplatz herum) zum „Palast des Hohepriesters an den Ort der Reue Petri“, wo Mt 26,57–75 gelesen wird.

 

Eine Kirche des hl. Petrus (6. Jh.)

Eine „Kirche des hl. Petrus“ ist jedoch erst bei Theodosius (um 520), eine „große Basilika des hl. Petrus“ erst im Breviarius (um 550) erwähnt. Unterdessen hatte die Hagia Sion-Basilika auf der Sionskuppe, die wir beim letzten Mahl Jesu schon angetroffen haben, das Haus des Kajafas, die Geißelungssäule und zudem die Dornenkrone und die heilige Lanze an sich gezogen. Dem Ort am Ostabhang blieb nur noch die Teiltradition von der Reue Petri, die nach Matthäus und Lukas ja außerhalb des Kajafashauses (droben auf dem Sion) stattfand: „ … und er ging hinaus und weinte bitterlich“ (Mt 26,75). Diese Situation ist im 10./11. Jh. bei Epiphanius Monachus festgehalten: „Außerhalb der Stadt ist rechts, nahe bei der Mauer, eine Kirche, wohin Petrus hinausging und wo er bitterlich weinte“.

Archäologisch ist für das 5./6. Jh. eine bescheidene christliche Kultstätte im Bereich der jetzigen Kirche aufgewiesen. Ein rechteckiges Gebäude war so über mehreren Felsgrotten errichtet, dass ein ehemaliges Ritualbad als „hl. Grotte“ in sein Zentrum zu liegen kam. Dazu waren hangabwärts Stützmauern notwendig. Eine Apsis ist nirgends ersichtlich, doch kamen zahlreiche Gegenstände zum Vorschein, die zu einem kirchlichen Raum gehörten: Korinthische Kapitelle, Fragmente einer Chorschranke, ornamentale Mosaiken, eine Tabula ansata mit Ps 121,8 und eine Stiftungsinschrift „zum Heil Marias“. Auch Kleinobjekte wie eine Hostienpresse, ein Inzens-Gefäß und ein Kerzenhalter mit einem Auffangteller, auf dessen Rand sich ein „niedriger Josef“ aus dem „Kloster St. Theodosius“ als Spender festhält, unterstützen diese Deutung.

Daraus hat sich dann die bis heute dominante Tradition der Hahnenschrei-Kirche der Kreuzfahrer entwickelt, von der aber hier keine Spur vorhanden ist. Auch die Grotte der Reue Petri, die spätere Besucher erwähnen, ist unauffindbar, da sie nach den Berichten neugieriger Pilger am Ostabhang herum wanderte.

 

Die heutige Situation in der modernen Petrus-Kirche

Die 1931 eingeweihte Petruskirche hat drei Stockwerke, die seit 1997 durch einen sinnvollen und diskreten Besucherrundgang erschlossen sind. Die Krypta im untersten Stock besteht aus einem komplexen unterirdischen Grottensystem, von dem ein Teil restauriert und zugänglich gemacht wurde. Der kleine Pfeilerhof, der ursprünglich offen und von der Talseite her über die kleine Treppe zugänglich war, ist jetzt wegen der Betondecke zum unterirdischen Verließ geworden. Dies soll der Ort sein, wo Jesus verhört und ausgepeitscht worden sei. Die Löcher in den Pfeilern hätten dazu gedient, sie sind jedoch zum Anbinden von Tieren oder Aufhängen von Sachen angebracht – und nicht zur Geißelung von Menschen.

Von einer Auspeitschung steht in den Texten der Evangelien übrigens nichts, nur von Misshandlungen und Verhöhnungen durch die Knechte ist die Rede. Erst der Pilger von Bordeaux spricht von einer Säule, an welcher Jesus bei Kajafas gegeißelt worden sei. Eine Folteranlage im Hausbereich des jüdischen Hohepriesters ist jedoch eine Vorstellung, die historisch unrichtig, nach jüdischem Religionsgesetz unmöglich und zudem den Juden gegenüber unfreundlich ist.

Wir sind hier einfach im Keller eines großen Hauses aus frühjüdischer Zeit, mit Räumen zur Lagerung von Lebensmitteln und allerhand Materialien und zur Speicherung von Wasser. Jetzt ist dort die Steintreppe mit einer doppelten Öffnung freigelegt, die zur „heiligen Grotte“ führt. Bei allem Respekt vor der religiösen Lokaltradition kann einem nicht entgehen, dass dieser doppelte Zugang typisch ist für ein jüdisches Ritualbad der Zeit Jesu. Das Becken wurde in einer zweiten Phase durch eine Vertiefung – wodurch die Steintreppe ihre Funktion verlor – und eine Öffnung in der Decke zu einer Zisterne umgestaltet. Eine moderne Stiege führt an vielfachen Aushöhlungen vorbei bis auf den Grund der Zisterne hinunter, die als „hl. Grotte“ des Gefängnisses Jesu während dessen letzter Nacht verehrt wird. Das gut sichtbare Kreuz in der Zisternenöffnung und weitere rote und schwarze Kreuze an den Wänden zeigen, dass sich Christen in diesem unterdessen durch eine Türe zugänglich und durch ein Fenster belüftbar gemachten Ort aufgehalten haben. Der ursprüngliche Keller und das Kultbad sind offensichtlich sehr sekundär mit dem Aufenthalt Jesu im Palast des Kajafas verbunden worden und können von keinem aufgeklärten Besucher als Gefängnis und Auspeitschungsort Jesu ernst genommen werden.

Da nördlich dieser Stätte ein schönes Stück des antiken Stufenweges erhalten ist, der vielleicht schon zur Zeit Jesu die Siloa-Quelle mit dem Sion verband und auf dem der Pilger von Bordeaux zum Sion hinaufgestiegen ist und dabei an den Ruinen des Kajafaspalastes vorbei kam, kann man sich hier tatsächlich jene Ruinen gut vorstellen.

Früher konnte man auf diesen Stufen noch über die Umkehr der Machtverhältnisse nachdenken, von der Kyrill von Jerusalem in einer seiner Katechesen an die Täuflinge spricht. Dies ist leider auch nicht mehr möglich, da die Steinstufen wegen des frommen Steinabbaus durch Reliquiensammler leider abgesperrt wurden.

 

Das politische Todesurteil im Prätorium des römischen Statthalters

 

Im Neuen Testament

Am Ende des Verhörs vor Kajafas haben wir schon gehört, dass Jesus dem Statthalter Pilatus übergeben wurde (Synoptiker), der sich nach Joh 18,28f. im Innern des Prätoriums aufhielt. Die Juden betraten es nicht, um sich nicht wegen des nahen Pesachfestes zu verunreinigen.

Es beginnen dann die langwierigen Verhandlungen zwischen Pilatus, den Repräsentanten der Juden und dem jüdischen Volk, die schließlich mit der Verurteilung Jesu zum Kreuzestod endeten. Bei der Verurteilung saß Pilatus auf dem Richterstuhl, was das Urteil vor allen Anwesenden als rechtskräftig bezeugte.

Die Texte der Evangelien sind zu ausführlich, als dass sie hier geboten werden könnten. Die den Texten entnommenen Ortsbezeichnungen beschreiben aber ein offizielles Gebäude (das Praetorium), dem ein Platz vorgelagert war, wo die Ankläger und die Menge sich versammelt hatte und wo, von einem erhöhten Ort her, Pilatus schließlich das Todesurteil fällte.

Nirgends ist aber gesagt, wo sich dieser Ort im damaligen Gefüge Jerusalems befand. Es sind wiederum Gründe, die außerhalb des Textes des NT liegen, die zu den vier unterschiedlichen Verortungen des Prätoriums geführt haben.

 

Erste Verortung: Im Stadttal

Dies ist die älteste Tradition, die schon beim Pilger von Bordeaux (334) vorhanden ist. Er blickte, nachdem er den ummauerten Sion gegen Norden verlassen hatte und durch das Tor des Nea-Bereichs gegangen war, ins Stadttal hinunter. Dort sah er die Ruine des Pilatus-Palastes, der als Stationsort der religiösen Begehung der Stadt, eine Kirche des Pilatus wurde, die schließlich um 500 bei Petrus dem Iberer den Namen Nea Sophia bekam. Darin sei nach dem Pilger von Piacenza (um 570) der Sitz des Pilatus gestanden, von dem aus er das Verhör Jesu leitete. Ein erhöhter viereckiger Stein mit einem Fußabdruck Jesu war der eigentliche Verehrungsgrund, von dem „viele Wunderkräfte ausgingen“. Von dieser Kirche, die das Madaba-Mosaik noch abbildet, ist im Stadttal keine Spur mehr vorhanden.

 

Zweite Verortung: Im Kloster der Sionsschwestern nördlich des Antonia-Felsens

Da seit der Kreuzfahrerzeit das Prätorium des Pilatus in der herodischen Antonia gesehen wurde, wurde in der näheren Umgebung der Antonia, den Klöstern der Franziskaner und der Sionsschwestern, nach konkreten Bauresten dieses Prätoriums gesucht. Père Vincent OP und seine Doktorandin Sr. Aline, die Oberin der Sionsschwestern, haben anhand ihrer Untersuchungen im Untergrund des Klosters und der umliegenden Gebäude eine Groß-Antonia entstehen lassen, deren zentraler Platz heute noch besucht werden kann.

Der Plattenbelag dieses Platzes mit seinen zahlreichen in die Steinplatten geritzten Spielen, eignete sich, vor allem wegen des so genannten Königsspiels, besonders gut, die neutestamentlichen Szenen von der Verurteilung durch Pilatus und der Verhöhnung Jesu als König mit Krone und Purpurmantel durch die Soldaten darzustellen. Und der weltbekannte Ecce-Homo-Bogen über der Straße und im Innern der Kirche des Klosters der Sionsschwestern vollendete die Szenerie und machte diese Station der Passion Jesu in Steinen und Strukturen aufs Anschaulichste erlebbar.

Erst die neueren archäologischen Untersuchungen haben die Antonia auf den Felsblock an der nordwestlichen Ecke des Tempelplatzes schrumpfen lassen und den mit Platten belegten Platz einem römischen Forum von Aelia Capitolina (2. Jh.) zugewiesen. Das Prätorium muss seitdem an einem weiteren Ort gesucht werden. Der Ort im Untergrund des Klosters der Sionsschwestern hat aber die Qualität einer Stätte der Besinnung behalten und sollte nicht vergessen gehen, auch wenn die weiter östlich liegenden Kapellen der Condemnatio und Flagellatio der Franziskaner heute als die entsprechenden Kreuzwegstationen gelten.

 

Dritte Verortung: Das griechisch-orthodoxe Prätorium

Es schließt direkt an das Sionskloster an und ist ein archäologischer Fake des 19. Jahrhunderts. Sie besteht in einer schrittweisen Verwandlung von Felshöhlen und Grabanlagen entlang der klassischen Via Dolorosa in ein Gefängnis Jesu und andere Orte der Qual. Von einem Prätorium ist nirgends auch nur eine Spur erkennbar. Es kann nicht den geringsten Anspruch auf irgendwelche Authentizität erheben. Ich lasse es deshalb beiseite.

 

Vierte Verortung: Im ehemaligen Herodespalast                                           

Dies ist der wissenschaftlich plausibelste Ort. Südlich seiner Dreiturm-Festung am Ort der heutigen Zitadelle beim Jaffa-Tor hatte sich Herodes der Große einen großartigen Königspalast errichtet. Dieser lag am Westrand der Stadt, gegenüber war die königliche Grabanlage und die gesamte Ausrichtung ging gegen Westen, wo das nicht-jüdische Herrschaftsgebiet des Herodes lag. Wie es belegbare Sitte der Römer war, übernahmen deren Prokuratoren und Stadthalter jeweils den früheren Königspalast und machten ihn zu ihrem Herrschaftssitz. Im Innern der Stadt zu wohnen (wie im Stadttal oder in der Antonia), führte für die verhassten römischen Besatzer durch viel zu gefährliche, enge Gassen.

Es ist deshalb am plausibelsten, die Szenen mit den Verhören im Innern, die Versammlung der Menge und der Elite auf dem plattenbelegten Vorplatz (lithostroton), die Geißelung und Verhöhnung in einem Bereich der Soldaten und die Verurteilung auf einer erhöhten Stelle vor dem Palast anzusetzen. Ähnliche Szenen lassen sich beim kaiserlichen Prokurator Sabinus nachweisen. Von Pilatus sagt Flavius Josephus, dass er im Herodespalast die goldenen Schilde aufstellte und später die aufständischen Juden von der „Tribüne“ herab niederknüppeln ließ. Auch der letzte römische Stadthalter Gessius Florus residierte im Königpalast, nachdem er vom Caesarea am Meer nach Jerusalem hinaufgekommen war. Josephus: „er ließ davor eine Tribüne aufstellen und nahm darauf Platz“, um das Verhör mit der Elite zu führen und schließlich die aufständischen „Männer von ritterlichem Stand vor seiner Tribüne zu geißeln und ans Kreuz zu nageln.“

An diesem vierten Ort kommt auch der Gedanke am stärksten zum Tragen, dass die herrschende weltliche Macht, die eigentlich von den Juden verabscheut wurde, auf das Drängen von deren Elite den Tod Jesu herbeigeführt hat. Macht und Ohnmacht treffen da so offensichtlich aufeinander, dass Johannes in seinem Evangelium eine Szene einfügte, um die eigentlichen Machtverhältnisse aufzuweisen: „Du hättest keinerlei Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre!“ (Joh 19,11). Entsprechend steht in der Condemnatio-Kapelle der Franziskaner unter dem Bild der Verurteilung: Hic Christus tradebat iudicanti se injuste. (Hier liefert Christus sich dem ungerechten Richter aus.)

Von diesem Ort der Selbstauslieferung Jesu – in christlicher Sicht – geht der Schmerzensweg Jesu ab.

 

Die Via Dolorosa – der Weg der Schmerzen

 

Der Weg, auf dem Jesus selbst das Kreuz zur Hinrichtungsstätte auf Golgota tragen musste, hängt aufs engste mit dem Ort des Prätoriums zusammen, weshalb es im Lauf der Geschichte zwei Wege gibt, von denen sich der wahrscheinlich historischste unterscheidet.

Es sei bemerkt, dass wir aus byzantinischer Zeit keinen eigentlichen Kreuzweg kennen, auch wenn die christliche Bevölkerung und die Pilger Jerusalems die Stationen des Aufenthaltes Jesu in Jerusalem liturgisch (wie Etheria zeigt) oder katechetisch (wie bei Kyrill von Jerusalem zu sehen) immer wieder an spezifischen Orten und Wegen begingen.

 

Die erste Version von der Antonia durch die Porta dolorosa

Seit der Zeit der Kreuzfahrer, als der Pilger Theodericus (1172) das Prätorium mit der Antonia gleichsetzte – die byzantinische Tradition von der Kirche des Pilatus im Stadttal ist unterdessen verloren gegangen –, verlief der Weg nach Golgota zuerst über den Tempelplatz, der aber seit dem 7. Jahrhundert bis zur Ankunft der Kreuzfahrer schon der moslemische Haram mit dem Felsendom und der Aqsa-Moschee geworden war, bis zur Porta dolorosa, dem späteren und jetzigen „Tor der Baumwollhändler“ (bab al-Qattanin), in der westlichen Umfassungsmauer und von dort durch das Gewirr von Gassen zur Grabeskirche hinauf. Da nach der zweiten muslimischen Eroberung der Stadt durch Saladin (1187) der Haram für Christen unbetretbar war, war dieser Leidensweg Jesu schon nach kurzer Zeit nicht mehr begehbar.

 

Die zweite Version: Die heutige Via dolorosa

In der Folgezeit entwickelte sich der Kreuzweg, der bis heute begangen wird. Da die erste Station, die Verurteilung Jesu, nicht mehr auf dem Antonia-Sockel, der muslimisch belegt war (heute durch die Umarija-Schule), erinnert werden konnte, kam sie zusammen mit der zweiten Station (Jesus wird gegeißelt und mit Dornen gekrönt) in das gegenüber liegende Franziskaner-Kloster, wo die Condemnatio-Kapelle (links) und die neuere Flagellatio-Kapelle (rechts) sowohl der Verurteilung wie der Geißelung gedachten. Von da verlief der Weg im heutigen zick-zack zuerst durch das muslimische Quartier (Stationen 3–6) und dann durch das christliche Quartier (Stationen 7–9). Die einzelnen, frei lokalisierten Stationen haben unterschiedliche Entstehungszeiten und erinnern zum Teil an biblisch überlieferte Szenen wie die 5. Station: Simon von Kyrene hilft Jesus das Kreuz tragen, oder die 8. Station: Jesus belehrt die weinenden Frauen von Jerusalem, zum Teil jedoch legendäre frühchristliche Legenden wie die Begegnung mit der Mutter Maria (4. Station) oder mit der Veronika und ihrem berühmten Schweißtuch (6. Station).

Die Stationen 10–14 liegen dann im Innern der Grabeskirche und gedenken Ereignissen, die alle am gleichen Ort stattgefunden haben: Die (in den Evangelien nicht berichtete) Entkleidung Jesu, die Kreuzigung, der Tod am Kreuz, die Abnahme vom Kreuz und die Grablegung.

 

Die dritte Version: Vom Herodes-Palast nach Golgota

Wenn das Prätorium der römischen Prokuratoren und Statthalter im ehemaligen Herodes-Palast lag, was die übliche Sitte der Römer in eroberten oder besetzten Städten war und deshalb die historisch plausibelste Annahme ist, verlief der Leidensweg Jesu nicht quer von Osten nach Westen durch die Stadt, sondern ging am westlichen Rand der Stadt, vom Herodes-Palast an der Zitadelle vorbei durch das Gartentor in den Bereich außerhalb der Stadtmauern, wo ein ehemaliges Steinbruchgelände mit zum Teil bizarren Felsformationen lag.

War der erste Weg ziemlich nüchtern, so erlaubte der zweite eine in Etappen gestaltete Nachfolge des Gekreuzigten. Die dritte ist nie begangen worden, außer von den wenigen, welche der Historie nachzugehen versuchten. In Anbetracht der heutigen Unsitte, Jesu Verdienst an möglichst großen Schmerzen festzumachen – wie Mel Gibson dies in seinem sadistischen Film The Passion of the Christ (2004) getan hat – hat dieser Schmerzensweg den Vorteil, nicht so sehr die Schmerzhaftigkeit der Tortur als vielmehr die Entschiedenheit Jesu und die politische Dimension seines Todesmarsches aufzuzeigen.

 

Das grausame und stille Ende: Golgota und das nahe Einzelgrab

 

Die Ortsangaben des Neuen Testaments

Die Texte der Evangelien spiegeln im Zusammenhang mit der Kreuzigung und Grablegung Jesu topographische Gegebenheiten wieder, die kohärent sind, durchaus historische Plausibilität beanspruchen können und auf die Gegend der heutigen Grabeskirche hinweisen.

 

Der Ort der Kreuzigung: Der historische Kreuzweg Jesu endete bei der Kreuzigungsstätte „Golgota“. Diese lag außerhalb der Stadtmauern (Mk 15,20; Mt 27,32), wie es der antiken Praxis entsprach. Die Kreuzigung fand „in der Nähe der Stadt“ (Joh 19,17.20) und an einer hervorragenden Stelle statt, um den schrecklichen Anblick für viele unvermeidbar zu machen (Mk 15,29; Mt). So konnten „viele Juden“ die Kreuzesaufschrift (Joh 19,20) lesen, deren Mehrsprachigkeit mit einem vielfältigen Publikum von Juden, Griechen und Römern rechnete. Man konnte zudem wie die sympathisierenden Frauen „von weitem zuschauen“ (Mk 15,40; Mt 27,55), da die Hinrichtung, wie der Name Golgota besagt, auf einem Felskopf vollzogen wurde.

Dies alles entspricht dem Abschreckungscharakter, den Kreuzigungen immer auch hatten. Aus der Sicht der Römer war Jesus, ebenso wie die beiden mit ihm Gekreuzigten, ein „Räuber“, das heißt ein politischer Krimineller, dessen schreckliches Ende Rom allen vor Augen halten wollte. Dies alles war nur im Bereich nördlich der Zitadelle möglich, wo einerseits die große Zugangsstraße vom Meer her kam und wo andererseits nahebei, aber außerhalb der damaligen Stadt ein Steinbruchgebiet mit entsprechend bizarren Steinformationen lag.

 

Der Ort der Grablegung: Nahe beim Ort der Kreuzigung war zudem nach Joh 19,41 ein „Garten“ mit einem unbenutzten Felsengrab (des Josef von Arimatäa). Dass ein Grab in einem Garten oder Park lag, entsprach durchaus einer Realität, die rund um das antike Jerusalem noch heute anzutreffen ist. Die Sanhedringräber im Norden, das Grab des Jason im Westen, die Pilgergräber am Südabhang des Hinnomtals und besonders das Grab der Bene Chesir/Säulengrab im Kidrontal sind die besten Beispiele für solche Gräber innerhalb von Gartenanlagen.

Auch dies ist stimmig, da es nach Josephus im Norden und Nordwesten der Stadt „Gärten mit Gräben, … Quermauern und Zäunen“ und „Garten- und Baumpflanzungen“ gab, zu denen das „Gartentor“ im Nordabschnitt der Ersten Mauer führte. Dass Simon von Kyrene „vom Felde kam“ (Mk 15,21/Lk 23,26), als er dem Kreuz tragenden Jesus begegnete, bestätigt ganz unabsichtlich diese topographische Verortung.

Nach den vier Evangelien war das Grab Jesu ein noch unbenutztes Felsgrab, das einen betretbaren Grabraum mit einer einzelnen Grabliege hatte und einen großen runden Verschlussstein aufwies, den man beim Öffnen weg- oder hinaufrollen musste, bis er in die Arretierung fiel. Die Evangelien (Mk 15,42–47/Mt 27,57–66/Lk 23,50–56/Joh 19,38–42) beschreiben mit kleinen Varianten in der Wortwahl den bekannten Typ des frühjüdischen Felsengrabes mit einem manchmal überdachten Vorraum und dem dahinter liegenden Grabraum. Auch dies ist in Jerusalem mehrfach zu sehen. Beim nahen Herodiergrab, im südlichen Hinnomtal, beim Grab der Königin von Adiabene im Norden.

        

Das damalige Gelände außerhalb der herodischen Dreiturmfestung

Die Ausgrabungen und Tiefenbohrungen der Archäologen haben deutlich gemacht, dass außerhalb der herodischen Dreiturmfestung (der heutigen Zitadelle) ein steinbruchartiges Gelände lag, das den ganzen Bereich der Grabeskirche umfasst. Die nördlichen, westlichen und östlichen Konturen sind ziemlich genau festgestellt, während gegen Süden der Verlauf wohl bis zu den Stadtmauern reichte.

Mehrere Gräber sind in die Felsen geschlagen: Ein Einzelgrab, das aus dem Felsen isoliert und zum alleinstehenden Grab Jesu umgestaltet wurde; das so genannte „Grab des Josef von Arimatäa“, das westlich hinter der Grabesädikula, im Kultraum der syrisch-orthodoxen Kirche, noch besichtigt werden kann. Es gab hier also zu frühjüdischer Zeit eine kleine Nekropole, von der aber wegen der Felsbearbeitungen nur noch wenig erhalten ist.

Ein isoliertes Felsstück ragt an einer anderen Stelle ca. 5 Meter hoch. Es musste einst mit den Rändern des Geländes verbunden gewesen sein, da es als unregelmäßige Steinsäule, die selbständig nicht bestehen konnte, eine absurde Erscheinung ist. Es ist der heute von Gebäuden eingefasste und gestützte Golgota–Felskopf, der im Laufe der Jahrhunderte als heilige Stätte – ähnlich wie das Grab Jesu – vom umliegenden Felsen losgelöst und umbaut wurde.

Dann sind die Helena-Kapelle und die armenische Vartan-Kapelle zu finden, die auf der Tiefe der Fundamente der konstantinischen Basilika liegen. In der armenischen Vartan-Kapelle, die hinter der Krikor-Kapelle liegt und nur mit spezieller Erlaubnis zu besuchen ist, ist ein Blick bis auf den Felsgrund mit den Einschnitten zu sehen, die zur Steingewinnung angebracht wurden.

Am tiefsten Punkt sind wir in der nahen Erlöserkirche, wo ebenfalls der Felsgrund mit den Felseinschnitten zu sehen ist. Dies haben die Archäologen auch östlich des Golgota-Felsens festgestellt.

Dieses Ergebnis ergibt also die archäologische Erforschung, die aber nur punktuell ausgeführt werden konnte. Weite Gebiete sind und bleiben unerforscht. Nach den wenigen Spuren von Steinbearbeitung, und weil von einem Steinbruch in den literarischen Quellen nirgends die Rede ist, muss man annehmen, dass dieses Gelände nordwestlich außerhalb der Stadtmauern in herodischer Zeit nicht mehr als Steinbruch benutzt wurde. Es wurde von Schutt und Erde überschüttet, sodass es schließlich – wie Josephus sagt und Simon von Kyrene bezeugt – zu einer bepflanzbaren Fläche wurde, in dessen Felsabbrüchen Gräber eingeschlagen und in dessen Aushöhlungen Zisternen eingebaut wurden.

 

Die drei Phasen der Vorgeschichte der Grabeskirche

Die heutige Grabeskirche liegt über diesem Steinbruchgelände. Und sie liegt ohne Zweifel am gleichen Ort, an dem Kaiser Konstantin der Große um 330 die gewaltige Gedächtnisstätte der Auferstehung und der Kreuzigung Jesu Christi errichten ließ. In diesem Bau waren für die Christen des 4. Jh. die beiden biblischen Orte Golgota und das nahe Felsengrab Jesu als heilige Stätte umschlossen und aufbewahrt. Es gab bis in die Neuzeit keine Alternative zu diesem Ort. Und es gibt meines Erachtens auch heute keine plausible Alternative. Dieses byzantinische Heiligtum ist deshalb der Ausgangspunkt für alle weiteren Fragen, sowohl rückwärts nach dem Ort der Ereignisse, die in den Evangelien vom Tod Jesu erzählt werden, wie auch vorwärts bis zur neuesten Sanierung der Grabesädikula, die erst kürzlich abgeschlossen wurden.

Wie kamen die Stadtplaner Konstantins um das Jahr 330 auf gerade diesen Ort?

Nach Eusebius von Cäsarea in seiner Vita Constantini benutzten diese offensichtlich keine biblischen Argumente; sie suchten das Grab Jesu vielmehr in einer Höhle unter dem Forum von Aelia Capitolina.

Dieses Forum, das Kaiser Hadrian um 135 n. Chr. einrichten ließ, lag am städteplanerisch besten Ort der Stadt, im Winkel der nordsüdlich und westöstlich verlaufenden Hauptstraßen, römisch gesprochen: dem Cardo maximus und dem Decumanus. Dazu musste das unebene einstige Steinbruchgelände, das seit Agrippa II. ins Innere der Stadtmauern gerückt war, mit aufwendigen Stützmauern und viel Auffüllschutt zu einer Plattform umgestaltet werden. Eusebius von Cäsarea beschreibt in seiner Vita Constantini diese großen Terrainarbeiten der Auffüllung, Ausebnung und Einrichtung der Plattform sehr eindrücklich, wie wenn er dabei gewesen wäre. Archäologisch bestätigen dies jedoch einige noch heute einsehbare Fundament- und Stützmauern unter der Grabeskirche, im russischen Alexanderhospiz und besonders unter der lutherischen Erlöserkirche. Über dem Plattenbelag erhob sich dann ein römischer Jupiter- oder Venustempel.

Nach Eusebius hat Hadrian sein Forum jedoch absichtlich dort gebaut, wo die christliche Lokaltradition die mystische Höhle der Auferstehung Jesu verehrte. Dadurch habe er das Grab Jesu unter eine dicke Schuttschicht und ins sichere Vergessen gebracht. Er schreibt: „Da Gottlose und Verworfene es bei den Menschen gänzlich in Vergessenheit bringen wollten“, sei es so „lange Zeit im Dunkel verborgen gewesen.“ Kaiser Konstantin habe dann seinerseits Hadrians Tempel dem Erdboden gleichgemacht und unter dem weggeführten Schutt den Felsen Golgota und das Grab Jesu gefunden – „wider allen Erwartens“ und „dank göttlicher Eingebung“.

Diese Aussagen des Eusebius setzen drei aufeinander folgende Phasen voraus:

Zuerst um das Jahr 30, die Belegung des historischen Felsengrabs Jesu; dann um 135 Kaiser Hadrians Belegung dieses Ortes durch das Forum und die Heiligtümer seiner Militärkolonie und schließlich um 330 Kaiser Konstantins Ortswahl für seine Auferstehungskirche. Können diese drei Phasen archäologisch belegt und historisch plausibel gemacht werden? Gab es eine alte Lokaltradition vom Grab Jesu, die alle Veränderungen des Stadtbildes bis zu Konstantin heil überstand?

Die Möglichkeiten einer Jerusalemer Lokaltradition, die zuerst die Stadterweiterung unter Herodes Agrippa I. (40–44), dann die beiden jüdisch-römischen Kriege (66–70 und 130–135/6) und schließlich die Belegung mit dem Temenos, dem „heiligen Bereich“ der Römer, von 135 – 330, überstanden hat, habe ich ausführlich erwogen. Ich habe aufgrund verschiedener Indizien nicht ausgeschlossen, dass eine Linie von den Evangelien bis zum Konstantinsbau zu verfolgen ist. Aber dies ist nicht mit letzter Stringenz aufzuzeigen. Es gibt jedenfalls keinen besser bezeugten Ort, auch wenn das Gartengrab im Norden sich viel besser eignet, meditativ Tod und Auferstehung Jesu Christi zu verinnerlichen.

 

Golgota und Grab Jesu im Innern der konstantinischen Anastasis

Der Gesamtplan der Grabeskirche zeigt rechts des Eingangs Golgota (umlagert von Vorbauten des Patriarchen Modestus, des Kaisers Konstantin IX. Monomachus, der Kreuzfahrer und des griechischen Architekten Komnenos von Mytilene) und zentral unter der großen Rotunde das Grabhäuschen über dem Grab Jesu.

 

Golgota

Der hier ca. 5 Meter hochragende Felskopf ist seit der Zeit Konstantins der Ort der Kreuzigung Jesu und war mit einem prächtigen Kreuz versehen. Die archäologischen Arbeiten der Griechen (1958 und 1970–1977) haben den schmalen Felssporn an verschiedenen Stellen wieder sichtbar gemacht.

Die Spitze des Felsens ist im ersten Stock in der griechisch-orthodoxen Golgotakapelle rund um den Altar hinter Glas freigelegt, und unter dem Altar ermöglicht eine Öffnung in einer silbernen Platte deren Berührung. Hinter dem Altar sieht man noch die Vertiefung, in welcher seit byzantinischer Zeit ein Kreuz stand. Rechts ist der Fels von einem Spalt durchzogen, der schon von Kyrill von Jerusalem (348/50) als Bestätigung von Mt 27,51 herangezogen wurde, dass sich bei Jesu Tod „die Felsen gespaltet“ hätten. Er ist auch in der darunter liegenden Adamskapelle sichtbar, wo eine Glasscheibe einen Blick auf eine unregelmäßige Vertiefung und den Felsspalt erlaubt. Auf der Nordseite ist nochmals ein Stück des hochragenden Golgotafelsens hinter Scheiben zu sehen.

Die Ostseite des Golgotafelsens ist nicht zugänglich. Der Felssporn konnte hier bis in eine Tiefe von 8 Meter verfolgt werden, wo unter dem Füllschutt wieder der gewachsene Felsen erreicht wurde, der klare Spuren von Steinbrucharbeiten aufwies. Von Osten her gesehen ragte der Sporn einst also insgesamt über 12 Meter empor. Er musste offensichtlich durch eine Mauer abgestützt werden, die auf dem Füllschutt aus römisch-byzantinischer Zeit aufruht. Über der Stützmauer fand man überraschend eine Grotte, die nach A. Mitropoulos auf zwei Gräber aus vorchristlicher Zeit zurückgeht.

Wer den hochragenden, vielfach geborstenen und sehr schmalen Felskopf Golgota betrachtet oder umschreitet, kommt unvermeidlich zur Einsicht, dass die Kreuzigung Jesu und der beiden anderen Räuber auf einem so beschränkten Platz schlechthin nicht hat durchgeführt werden können. Dieses Felsstück musste damals eine bedeutend größere Oberfläche gehabt haben, zugänglich und mit dem übrigen Steinbruchareal verbunden gewesen sein. Wann der Felssporn vom Rest des Steinbruchs abgetrennt wurde, kann nicht bestimmt werden. Dass er alle absichtlichen und unabsichtlichen Zerstörungen bis heute überstanden hat und so zum hohen theologischen Ort der Pilger werden konnte, bleibt ein erstaunliches Faktum: Ein Steinbrocken, zerspalten, beschädigt, nur erhalten, weil er von den Bauten der Christen rundum gestützt ist. Diese halten ihn fest als jenes Stück Historie, das nicht aufgegeben werden darf.

 

Das Grab Jesu

Das Grab Jesu ist jetzt im Innern der rechteckigen, hinten abgerundeten Grabesädikula versteckt. Dieses für unseren westlichen Geschmack gewöhnungsbedürftige „göttliche Gemach“ wurde 1810 vom griechischen Architekten Komnenos von Mytilene errichtet, wurde aber so baufällig, dass eine Gesamterneuerung unvermeidlich war und jetzt auch abgeschlossen ist.

Der innerste Raum ist eine winzige Grabkammer, auf deren rechter Seite seit Konstantin jene „Stelle, wo er hingelegt war“ (Mk 16,6; Mt 28,6), also die Grabliege Jesu, verehrt wird.

Die Grabliege besteht jetzt aus einer Marmorverkleidung von 1810, unter welcher sich die Reste des von al-Hakim weg gehauenen Grabfelsens verbergen. Die Berichte der beiden letzten Augenzeugen, des Franziskaners Bonifatius von Ragusa (1555) und des griechischen Mönchs Symaios (1810), ließen erahnen, was darunter noch vorhanden ist. Die neueste, eben abgeschlossen Erforschung hat dies gezeigt: ein zerschundenes Stück Fels der Grabliege und aufragende Stücke des Felsens im Norden und im Süden.

Die Archäologie hat deutlich gemacht, dass dies ein Einzelgrab war, das einst im westlichen Felsabbruch des Geländes lag, das dann aber – wie dies von Gräbern herausragender Personen auch anderswo zu beobachten ist (Mariengrab; Jad Abschalom im Kedrontal) – aus dem Felsen herausgehauen wurde. Schließlich wurde das freigelegte Grab mit einer Gedächtniskapelle umgeben. Durch diese Loslösung des Jesusgrabes aus dem umgebenden Fels und durch die Ausschachtung für die Rotunde der Anastasis wurde eine weitere frühjüdische Grabanlage, das sogenannte Grab des Josef von Arimatäa, angeschnitten. Es ist bis heute ein kostbares archäologisches Zeugnis dafür, dass das Steinbruchgelände zur Zeit Jesu Felsgräber aufwies. Das Grab Jesu hingegen hat seit Konstantin – trotz aller Zerstörungen und historischen Wirren – eine Verehrung als Ort der Auferstehung Christi erfahren, welche bis heute weitergeht.

 

Zum Abschluss

 

Die Orte der Passion Jesu in Jerusalem, denen wir jetzt gefolgt sind, können als eine Version im Fels und in Steinen gesehen werden für die Version in Worten, wie sie prophetischen Traditionen des Juden- und Christentums für Jerusalem formuliert haben: Jerusalem als eine Mörderin, der zu erliegen das Geschick der echten Propheten ist. Diese Vorstellung ist in den prophetischen Kreisen des nachexilischen Judentums entstanden und hat in der christlichen Tradition seine Anwendung auf das Geschick Jesu gefunden.

Von der symbolischen Hingabe seines Lebens für die Menschen (im Abendmahl) über das freiwillige Verharren in Getsemani erduldete dieser Prophet Jesus die Verhöre, die Verspottung und die Verurteilung und starb schließlich – durch die vorgeschobene Hand der Römer – auf Golgota den „schimpflichsten Tod“, so Plinius, der Antike.

Am Ende dieser meiner topographischen Passionserzählung stehen wir vor einem leeren Grab, das historisch nur die Abwesenheit des toten Gekreuzigten bezeugen kann. Es ist seit je an den Christen, diese Leere durch ihren tätigen Glauben an Ostern mit Leben zu füllen!

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