Pilatus – eine ambivalente Figur
Unterschiedlich wird Pilatus gezeichnet. Schon in der Heiligen Schrift ist seine Rolle ambivalent dargestellt. Geboren ist er entweder in Rom oder in den Abruzzen. Seine Familie gehörte in den Ritterstand. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Kaiser Tiberius selbst ihn als Präfekt in Judäa eingesetzt, nachdem der Herodes-Sohn Archelaus abgesetzt worden war. Sein eigentlicher Amtssitz war Caesarea Maritima. Nur zu den Festzeiten kam er nach Jerusalem, um dort die Ordnung zu garantieren; denn sein Amt war kein ziviles, sondern ein militärisches. Als zivile Behörden hatten die Römer die jüdischen Autoritäten belassen – also den Hohen Rat mit dem Hohen Priester als die obersten Autoritäten an der Spitze eingesetzt. Pilatus hatte sie nur zu kontrollieren und vor allem dafür zu sorgen, dass keinerlei Aufstände oder sonstige politische Unruhen ausbrechen sollten.
In den außerbiblischen Quellen wird Pilatus als ein harter Mann gezeichnet. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit hat er die Juden provoziert, indem er in Jerusalem Kaiserstandarten aufstellen ließ. Nach heftigem Protest der Juden hat er diese wieder entfernen lassen. Es gab mehrere Vorfälle, bei denen Pilatus unbarmherzig durchgegriffen hat. Wo immer er auch nur eine Andeutung von Aufstand witterte, schlug er zu. Viele Kreuzigungen hat er zu verantworten. Auch scheint er für Bestechung anfällig gewesen zu sein. Mit dem Hohepriester Kajaphas scheint er jedoch gut zusammengearbeitet zu haben. Die außerbiblischen Quellen aber lassen kein gutes Haar an ihm. Sie werfen ihm Brutalität, Bestechlichkeit und Ungerechtigkeit vor.
Im Neuen Testament wird Pilatus relativ gut gezeichnet, obwohl er es doch war, der Jesus verurteilt hat und ihn kreuzigen ließ. Alle vier Evangelien zeigen, dass Pilatus von der Unschuld Jesu überzeugt war. Er wollte sich aber, obwohl er es gekonnt hätte, nicht gegen die jüdischen Autoritäten stellen und hat ihnen schließlich nachgegeben. Die Tendenz der Berichterstattung geht dahin darzustellen: Nicht die Römer sind die eigentlichen Mörder Jesu, sondern die Juden. Das mag damit zusammenhängen, dass die Evangelien alle zu einer Zeit geschrieben wurden, in welcher man das Wohlwollen der römischen Behörden zu erhalten suchte. Deshalb könnte in der Schilderung des Pilatus eine römerfreundliche Tendenz durchschlagen. In Wirklichkeit aber war Pilatus als Letztverantwortlicher der Mörder Jesu.
Oberammergau 2010
Die Oberammergauer Inszenierung von 2010 orientiert sich an den nichtbiblischen Berichten und zeichnet Pilatus von vorne herein als einen brutalen Machtmenschen. Er will Jesus als möglichen Risikofaktor beseitigen. Doch möchte er nicht selbst als verantwortlich erscheinen, sondern demonstrieren: Die religiösen Führer als Zivilbehörden sind für Jesu Tod verantwortlich. Die Situation war ja so: Da die jüdischen Behörden niemanden hinrichten durften, mussten sie sich der römischen Staatsmacht bedienen, wenn sie überzeugt waren, dass nach ihren Gesetzen ein Gesetzesbrecher hingerichtet werden müsse. Pilatus wollte alles so hindrehen, dass er nur Amtshilfe leistet und auf diese Weise die jüdischen Gesetze berücksichtigt, zu denen er persönlich keinen Zugang hat. Er wollte somit eine gewisse Solidarität mit den Juden mimen. Letztlich aber überlisteten ihn die Hohepriester dann doch und beließen ihn nur vage in seiner Unschuldsrolle. Nachdem Pilatus den Barabbas freigelassen hatte, dessen Freilassung sie selbst gefordert hatten, drohten sie ihm, als er nochmals einen Versuch unternahm, Jesus Gerechtigkeit zukommen zu lassen, mit einem politischen Hinweis, der ihm selbst gefährlich hätte werden können: Wenn du Jesus neben dem Barabbas nun auch noch freilässt, dann klagen wir dich beim Kaiser an, dass du einen zweiten Verbrecher in die Freiheit entlassen hast, der noch dazu einen kaiserlichen Anspruch erhebt. Du kommst also in große Schwierigkeiten! So bekam Pilatus Angst. Seine Taktik ging nicht auf. Er hat ihnen Jesus überlassen zur Kreuzigung.
Die im Evangelium so tiefgründig erscheinende Szene, wo Pilatus den Dornengekrönten vorzeigt mit dem Hinweis: „Seht, der Mensch!“ (Joh 19,5), wird in der Oberammergauer Inszenierung negativ gedeutet als zynischer und heuchlerischer Akt, mit dem Pilatus demonstrieren wollte: Seht, welch erbärmliche Figur! Die Soldaten haben diesen König entlarvt, machtlos ist er und inaktiv. Was wollt ihr mit dem? Der wird keinem Menschen mehr gefährlich! Den kann man unbedenklich frei herumlaufen lassen. Und den Ausspruch: „Was ist Wahrheit?“, der so skeptisch-philosophisch klingt, kommentiert Pilatus dadurch, dass er einem Soldaten die Peitsche abnimmt und in Richtung Jesus schlägt – allerdings nur in die Luft. Er dokumentiert damit: Meine Wahrheit heißt Brutalität! Meine Wahrheit bedeutet Macht! Was du, Jesus, da predigst, ist Ohnmacht, ist keine ernsthafte, keine wirksame Wahrheit!
Pilatus entpuppt sich also in Oberammergau als grausamer Taktiker, der aber am Ende taktisch ausgespielt wird. Doch das Ergebnis ist ihm recht. Immerhin kann er die Schuld zumindest psychologisch den Juden zuschieben und sich so gerechtfertigt fühlen.
Die theologische Bedeutung des Pilatus
Warum aber spielt dieser Name nicht nur in der Heiligen Schrift, sondern sogar im Glaubensbekenntnis eine Rolle? Dort heißt es ja: „Ich glaube an Jesus Christus … gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben …“
Dies ist wohl gegen die Gnostiker formuliert. Diese wollten Jesus als eine esoterisch-mythologische Figur aus der Geschichte herausheben, er sei ein Zwischenwesen mit Astralleib. Dagegen wird im Glaubensbekenntnis betont: Jesus hat wirklich als Mensch gelebt – mit Seele und Leib. Er hat zu einer historischen Stunde gelitten, wie nur ein Mensch leiden kann, und er ist gestorben, wie jeder Mensch sterben muss. Und der Vertreter der historisch greifbaren römischen Macht, Pilatus, hat ihn verurteilt und zu Tode bringen lassen. Pilatus ist hier also einfach deshalb genannt, weil er dafür garantiert: Jesus ist wirklich Mensch gewesen und zu einer nachweislich historischen Stunde als Mensch grausam hingerichtet worden durch diesen römischen Präfekten Pontius Pilatus.
Im 19. Jahrhundert hat die Äthiopische Kirche den Pilatus heiliggesprochen. Sie waren wohl aus mehreren Gründen motiviert, die Rolle des Pilatus theologisch zu deuten und ihn damit zu einem besonderen Zeugen theologischer Aussagen zu machen. Drei Aussagen sollen durch die Figur des Pilatus bestärkt werden.
Zum einen wird durch das Verhör und die Umstände deutlich: Jesus ist ein wahrer König, aber ein König im Sinne einer geistlichen Macht, die alle weltlichen Mächte übersteigt. Er ist Repräsentant des Reiches Gottes. In ihm ist dieses Reich Gottes in die Welt gekommen. Die Tafel, die Pilatus anfertigen ließ, bringt das auf den Punkt: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“ (Joh 19,19). Er ist tatsächlich König im Gottes-Volk, das zum Reich Gottes gehört.
Zum zweiten wird durch das Handeln des Pilatus und sein Zusammenspiel mit den jüdischen Behörden klar, dass Jesus verurteilt wurde wegen seines Anspruchs, der Mann Gottes zu sein und die Geschichte des Heiles in ein Ziel zu führen. Er ist wahrhaft „Sohn Gottes“.
Zum dritten zeigen uns alle Umstände der Hinrichtung, von der Verspottung der Soldaten über die Geißelung, die Dornenkrönung und die Kreuzigung, dass Jesus wirklicher Mensch war und als Mensch gelitten hat und gestorben ist. Und das ist unter der Mitwirkung des Pontius Pilatus geschehen. So ist dieser Mann tatsächlich eine wichtige Figur unserer Heilsgeschichte, wenn auch eine tragische. Er ist Zeuge und Garant für eine der wichtigsten christlichen Glaubensaussagen.
Das waren wohl die Gründe der Äthiopier, den Pilatus wie einen Heiligen anzusehen. Aufgrund des oben Gesagten freilich müssen wir urteilen: Pilatus war kein Heiliger. Er war eher ein brutaler Henker. Wegen seiner Brutalität gegenüber den Samaritern wurde er später vom Kaiser abgesetzt. Über sein Ende wissen wir nichts. Manche Legenden sprechen davon, dass er Selbstmord begangen hätte. Alles ist möglich. Sicher ist nur: Ein Heiliger war er nicht, aber er war ein wichtiger Zeuge für die letzten Ereignisse des Lebens Jesu.