Heiliger Pilatus? Man mag es kaum glauben, denn die biblischen und auch die profanhistorischen Zeugnisse über den Mann, der das Todesurteil über Jesus zu verantworten hat, sind eindeutig.
Dennoch wird seine Gestalt und ihr Schicksal in den nach-neutestamentlichen, apokryphen Schriften weitergesponnen. Die Datierung dieser Texte ist außerordentlich schwierig, denn sie wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und überliefert. Der größte Teil entstand zwischen dem 5. und 8. Jahrhundert und erfuhr bis ins Mittelalter weitere Anreicherungen; die ältesten Traditionen könnten jedoch bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen.
I.
Wenn man sie liest, meint man zunächst, die Vorläufer späterer Passionsspiele oder die Zusammenfassung von (mittelmäßigen) Bibelfilmen vor sich zu haben. Die Details, die die Evangelien verschweigen, werden fantasievoll ergänzt und breit ausgestaltet. Das betrifft sowohl die Auferstehung selbst, deren Augenzeugen nun die Wachen sind, als auch die dadurch ausgelösten spektakulären Ereignisse. Nebenfiguren bekommen eine größere Rolle im Plot – Josef von Arimathäa und Nikodemus –, und auch einen Namen: Dysmas und Gesmas, die beiden Schächer, der Hauptmann Longinus und natürlich Procla, die Frau des Pilatus. Neue Akteure erscheinen, vor allem jüdische Gegner Jesu, zum Schluss aber auch der römische Kaiser, dessen Aufmerksamkeit für die Hinrichtung Jesu deren weltpolitische Bedeutung unterstreicht. Die Neugier der Leserschaft wird befriedigt, indem aus den knappen Evangelienberichten weitere Einzelheiten herausgesponnen werden. Doch gewinnt man im Lesen mehr und mehr den Eindruck, dass in diesen Erzählungen und Legenden das Bedürfnis befriedigt wird, an Feindprojektionen Rache- und Gewaltfantasien auszuagieren. Deren Gegenstand sind „die Juden“, deren Rolle im Prozess Jesu aufs Negativste dargestellt wird. Noch erschreckender ist die Bedeutung und das Ausmaß ihrer Bestrafung durch den römischen Kaiser; hier werden auch Gräueltaten und Verbrechen des Krieges ohne weiteres als Ausführung göttlicher Strafe gerechtfertigt. Die krassesten antijudaistischen Stellen sind wohl erst aus dem Mittelalter, doch bereits im Nikodemusevangelium wird das sogenannte Blutwort der Einwohner Jerusalems (Mt 27,25) als Rechtfertigung göttlicher Rache verstanden (ACA 249). In allen Texten ist die Tendenz zu sehen, die Schuld am Tod Jesu von Pilatus weg auf „die Juden“ zu verlagern. Dieses Bemühen um eine Entlastung des Statthalters setzt schon in den Evangelien ein. Sein dort berichtetes Zögern wird nun jedoch dramatisch ausgestaltet und durch wunderbare Details unterstrichen. So verneigen sich die Brustbilder der Götter auf den kaiserlichen Standarten, als Jesus in den Gerichtssaal geführt wird. „Die Juden“ schieben das Wunder wutentbrannt auf die Standartenträger, worauf Pilatus das Experiment mit starken Männern der jüdischen Seite wiederholen lässt, natürlich mit demselben Effekt (EvNik 1,5f, ACA 242f). Doch ist Pilatus im Nikodemusevangelium weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein. Er erhält in dem Prozess vielmehr die Rolle eines unfreiwilligen Zeugen der Unschuld und sogar Göttlichkeit Jesu und unterstreicht damit umso mehr die Verstocktheit der Gegner. Während im Westen des römischen Reiches trotz dieser Verschiebung die Schuld des Pilatus festgehalten wurde, gibt es im Osten dagegen eine Tendenz, ihn zum späten Christen zu machen. So existieren mehrere apokryphe und fiktive Pilatusbriefe. Im Briefwechsel zwischen Pilatus und Herodes berichtet Pilatus gar von einer Erscheinung des Auferstandenen, in der er seliggepriesen wird, „weil zu deiner Zeit der Menschensohn gestorben und auferstanden ist und in den Himmel aufsteigen wird und seinen Platz in der Höhe einnehmen wird, und erkennen werden alle Völker der Erde, dass ich es bin der die Lebenden und die Toten richten wird am letzten Tag“ (ACA 267). Dennoch wird Pilatus am Schluss zu Recht seine Strafe erhalten. Die Antwort des Herodes an Pilatus enthält eine Aufzählung grausiger Details, wie diese Strafe sich an den Mitgliedern der königlichen Familie bereits jetzt vollzieht. Sie erinnern an die Einzelheiten des Todes des Judas, wie ihn Lukas am Beginn der Apostelgeschichte berichtet (Apg 1,18), und entspricht dem üblichen Repertoire des abschreckenden Todes von Götzendienern. Sie haben dieselbe Funktion, nämlich zu warnen: „Denn in diesem Leben laufen wir davon und sind hier nur kurz, dort aber ist das ewige Urteil und die Vergeltung der Taten“ (ACA 269). In dem zwischen dem 5. und 7. Jh. entstandenen „Bericht des Pilatus“ an den Kaiser (Anaphora Pilati) berichtet dieser ausführlich von den Wundern Jesu und sodann von den wunderbaren Begleitumständen seines Todes und mehr noch seiner Auferstehung, wobei wieder die Bestrafung der Juden hervorgekehrt wird: “Und in jener Nacht hörte das Licht nicht auf zu scheinen. Aber viele Juden starben, verschlungen im Spalt der Erde, so dass die meisten, die gegen Jesus gewesen waren, am folgenden Tag nicht gefunden wurden“ (ACA 271). Die Fortsetzung dieser Schrift ist die sogenannte „Auslieferung des Pilatus“ (Paradosis Pilati), die die Lücke der Neugier endgültig schließt und das Ende des Pilatus berichtet: Nachdem ihn der Kaiser in Fesseln nach Rom beordert hat, stellt er ihn vor Gericht, wo Pilatus noch einmal seine Unschuld und die Schuld der Juden beteuert. Der Kaiser befiehlt daraufhin die Vernichtung und Zerstreuung des jüdischen Volkes, und nachdem ihm diese gemeldet wird (!), wird auch Pilatus zum Tod verurteilt, denn „wie dieser Hand anlegte an den Gerechten, der Christus genannt wurde, so soll er in gleicher Weise fallen und keine Rettung finden“ (ACA 273). Pilatus jedoch betet bei seiner Hinrichtung, worauf eine Stimme vom Himmel ihn seligpreist und ihm eine Zeugenfunktion gegen die zwölf Stämme Israels bei der Wiederkunft zuweist. „Und der Präfekt schlug Pilatus das Haupt ab und siehe, ein Engel des Herrn nahm es auf. Als seine Frau Procla den Engel kommen und das Haupt aufnehmen sah, da erfüllte sie Freude, und sogleich gab sie ihren Geist auf und wurde mit ihrem Mann begraben“ (ACA 273). Ein Heiliger ist geboren.
II.
In der äthiopischen und koptischen Kirche wird diese Karriere vollendet. In der äthiopischen Schrift „Martyrium des Pilatus“ werden Pilatus und seine Frau von Herodes beim Kaiser angeklagt und sollen gekreuzigt werden. Durch Eingreifen des Himmels werden sie gerettet, und es folgt sogar die wunderbare Heilung des Sohnes des Kaisers, als er in das Grab Christi gelegt wird. Das Martyrium am Kreuz ereilt die beiden Heiligen dennoch, und sie werden in der Nähe des Grabes Christi begraben (Wub 52). Diese Umstände könnten darauf hinweisen, dass lokale Pilgertraditionen im Hintergrund der Legende stehen. Auf jeden Fall ist es eine erbauliche Geschichte, die einen der wichtigsten Protagonisten des Prozesses ins Heil hereinholt. Was Judas erst in der Moderne erfahren hat – eine paradoxe Umkehrung seiner Karriere vom Verräter zum Verbündeten Jesu und Star neben dem Superstar – wird Pilatus im christlichen Osten schon im ersten Jahrtausend zuteil.
Der christliche Westen ging mit Pilatus weniger gnädig um. Das Mittelalter erfindet eine richtige Horrorgeschichte um den Leichnam des durch Selbstmord umgekommenen Pilatus, den kein Fluss bei sich behalten will und der schließlich im Pilatussee in den Alpen sein Unwesen treibt, bis der See 1594 umgegraben und trockengelegt wird (WuB54).
III.
Heiliger Pilatus? Man könnte über die Legenden schmunzeln und ihre Erzählfreude genießen, sich über das selige Ende des Pilatus gar freuen, wäre nicht der bittere Beigeschmack des Antijudaismus, der eines zeigt: Harmlos ist Volksfrömmigkeit nie, und auch beste pastorale Absicht muss sich ihrer ideologischen Untertöne immer versuchen bewusst zu werden.