Die transformative Kraft der Musik war Gegenstand eines so kurzweiligen wie tiefsinnigen Gesprächs, bei dem der Star-Dirigent Sir Simon Rattle dem Musikjournalisten Bernhard Neuhoff am Abend des 27. Mai 2025 unter dem Titel How can music change a life? im Vortragssaal der Akademie Rede und Antwort stand.
Neuhoff eröffnete den Abend mit der Frage, ob sich der frisch gekürte Siemens-Musik-Preisträger Rattle bei seinem Versuch Kunst und Leben zusammenzubringen selbst eher als Missionar oder als Lernender betrachte. Der bekannte, dass er sich mühe, den „Virus der Musikbegeisterung“ weiterzuverbreiten. Er selbst sei sehr dankbar, früh zur Musik gefunden zu haben – es fiele ihm sehr schwer sich vorzustellen, wie sein Leben sonst verlaufen wäre.
Der Ausnahme-Musiker, der 1955 in Liverpool geboren und an der Royal Academy of Music in London ausgebildet wurde, schilderte, wie Musik ihn nicht nur künstlerisch, sondern auch persönlich geprägt habe und stets weiter lernen ließe: Die Auseinandersetzung mit bestimmten Werken und manche Begegnung mit anderen Musiker:innen hätten ihm in entscheidenden Lebensphasen Orientierung und Halt gegeben. Dabei betonte er, dass Musik nicht nur ästhetische Erlebnisse ermögliche, sondern Sinn stifte – einen Sinn, der in Verantwortung münde. Musik könne eben nicht nur innerlich verändern, sondern wirke nach außen – in die Gesellschaft, im Miteinander. Rattle schilderte in diesem Zusammenhang, wie er sich bereits früh in Projekten jenseits der Konzertbühne engagiert habe – mit Jugendlichen aus Problemvierteln genauso wie in diversen Bildungskontexten oder im interkulturellen Austausch.
Musiker:innen, konstatiert der Dirigent, sollten eigentlich nicht moralisch Stellung beziehen, manchmal jedoch sei es unerlässlich, seine Stimme zu erheben. Insofern müsse man gerade in Ländern, in denen Autokraten regierten und Menschen verfolgt würden, abwägen, ob Auftritte und Kooperationen die Menschen, speziell die Musiker:innen vor Ort, die ja zunächst nichts dafür könnten, wo sie geboren worden seien, unterstütze oder ob diese das System stärkten. Er finde es unerhört, was unter Trump gerade in den USA geschehe, aber er verstünde sowohl diejenigen, die dort derzeit nicht auftreten und arbeiten wöllten, als auch diejenigen, die argumentierten, dass das gerade jetzt nötiger sei denn je. Letztlich müsse man im Hinblick auf die Vereinigten Staaten abwarten, wie sich die Dinge entwickelten und ob sich dort ein ernstzunehmender Widerstand formierte. Bezüglich Russland hingegen sei für ihn die Lage so klar wie damals, als es wegen der Apartheit für ihn ausgeschlossen gewesen sei, in Südafrika tätig zu sein.
Er forderte Musiker:innen und Institutionen dazu auf, Verantwortung zu übernehmen – nicht zuletzt in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung. Musik wirke jenseits von Sprache, sie treffe „den Kern der Dinge“, könne Unterschiede überwinden und Gemeinschaft stiften und sei so ein „Teambuilder“. In diesem Zusammenhang sei, so führte der Dirigent, der nach Stationen in Berlin und London seit 2023 Leiter des Chores sowie des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks ist, ein Konzert nicht als abgeschlossene Domäne, als reine Aufführung, zu verstehen, sondern als ein Forum gemeinsamen Erlebens, das nicht nur das Leben eines Einzelnen beeinflussen, sondern ungeahnte Auswirkungen haben könne.
Das konnten viele Zuhörer:innen am eigenen Leib nachfühlen, da das Gespräch, das mit Unterstützung der Mozart-Gesellschaft München e. V. geplant und
eingefädelt worden war, musikalisch von einem Quintett aus dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks begleitet wurde: Stefan Schilli an der Oboe, Christopher Corbett an der Klarinette, Carsten Duffin am Horn, Susanne Sonntag am Fagott und Lukas Kuen am Flügel spielten ein Quintett für Bläser und Klavier von Wolfgang Amadeus Mozart (KV 542) und machten so das zuvor Besprochene spürbar.
Rattle, der 1994 von Queen Elisabeth in den Adelsstand erhoben wurde, verriet, dass er stets von Musik begleitet ist, in seinem Kopf höre er sie ohne Unterlass. Früher sei er wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das allen Menschen so ginge. Er erzählte, dass diese Musik zwar manchmal das Einschlafen erschwere, er aber ja daran gewöhnt sei.
Insgesamt bestach der Mann, der zu den einflussreichsten Dirigenten der Gegenwart gehört, die gespannt lauschende Zuhörerschaft in dem unterhaltsamen Gespräch durch so mancherlei Anekdote. Meist antwortete er in seiner Muttersprache Englisch, durchgehend aber beeindruckte er durch Authentizität, feinen Humor, bemerkenswerte Offenheit und einem Sinn für die wichtigen Fragen des Lebens. In Summe zeichnete der Abend so weit mehr als das Porträt eines he-
rausragenden Dirigenten – er war Einladung zur Reflexion über die Kraft der Musik, ihre gesellschaftliche Bedeutung und die Verantwortung, die ihr sowie denen, die damit professionell hantieren, zukommt.
Viele Fans nahmen die Zeit während des anschließenden Ausklangs des Abends nicht nur für den Genuss der dargebotenen Getränke und Häppchen wahr, sondern nutzten die Gelegenheit persönlich auf Sir Simon Rattle zuzugehen und ihn um ein gemeinsames Foto oder um ein Autogramm zu bitten. Andere tauschten sich miteinander über das Gehörte aus oder spürten der Bedeutung, die die Musik im eigenen Leben spielt, nach. 