Armut als Bedrohung der Menschenwürde?

Die Frage der sozialen Menschenrechte

Die oft als „Schere“ bezeichnete Kluft zwischen Arm und Reich ist augenscheinlich ein doppelte: Sie zeigt sich sowohl innerhalb der unterschiedlichsten Nationen und Gesellschaften, und zwar jeweils vor Ort, wie auch im internationalen Vergleich und damit im Weltmaßstab. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes leben allein in Deutschland etwa 16,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, das heißt etwa jede sechste Person, an oder unterhalb der Armutsgrenze. Hierzulande gilt als arm, wer lediglich 60 Prozent und weniger des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung hat (in 2015: 1033 Euro pro Monat). Die ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung besitzen laut Schätzungen der Deutschen Bundesbank nur etwa 2,3 Prozent des gesamten Reichtums in diesem Land. Nach Schätzungen des World Food Programme hingegen leiden weltweit etwa 800 Millionen Menschen unter den Folgen extremer, das heißt langfristig tödlicher Armut. Diese Armut wiederum wird seitens der Weltbank durch eine Nettokaufkraft von unter 1,90 US-Dollar definiert. Dabei sollen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über etwa 79 Prozent des weltweit vorhandenen Reichtums verfügen. Und nach Schätzungen von Oxfam sollen gar nur 8 (!) Milliardäre ebenso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitzen.

Vergleiche dieser Art jedoch provozieren umgehend den fraglos berechtigten, mitunter aber regelrecht empört vorgetragenen Einwand, man könne wohl kaum die Armut in der so genanten Dritten Welt mit der sozialen Ungleichverteilung in einem derart reichen Land, wie eben Deutschland, vergleichen. Denn während die extreme Armut in der Dritten Welt stets tödliche Risiken berge, brauche hierzulande ja „niemand verhungern“. Mit diesem naheliegenden Einwand ist umgehend die empirische, aber auch begrifflich schwierige Frage aufgeworfen, ob man diese unterschiedlichen Formen von Armut überhaupt vergleichen kann; ob es sich bei den hier skizzierten Vergleichen gar um ganz unterschiedliche Begriffe von Armut handelt und welche Konsequenzen sich daraus für die „universellen Menschenrechte“ ergeben mögen, die es sich spätestens seit 1948 auch international auf die Fahne geschrieben haben, möglichst allen Menschen weltweit ein Leben in „Menschenwürde“ zu ermöglichen.

 

Zwei Gesichter der Armut

 

Jede empirische Untersuchung nationaler oder aber globaler Reichtumsverteilung muss eine bestimmte Definition von Armut voraussetzen. Und jeder Versuch, diese Armut monetär, das heißt durch die Angabe einer konkreten Einkommens- oder Lebensunterhaltsgrenze, zu bestimmen, führt rasch in enorme methodische Schwierigkeiten. Bestimmt man nämlich diese monetäre Grenze jeweils nur unwesentlich anders (zum Beispiel 55 statt 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens oder aber 1,50 statt 1,90 US-Dollar reale Kaufkraft), so führt dies umgehend zu markant anderen Ergebnissen. Aus einer eher begrifflich-normativen und damit weniger empirischen Sicht auf Armutsprobleme bietet sich daher ein ganz anderes Vorgehen an. Diese Methode führt zwar nicht umgehend zu verlässlichen Zahlen und Statistiken, wohl aber zu einem genaueren Verständnis des Problems der Armut. Im Folgenden soll vorgeschlagen werden, eben dieses Problem wie folgt zu bestimmen: Armut kann definiert werden als ein Mangel an fundamentalen Lebensmöglichkeiten und als gravierende Knappheit an Grundgütern, Fähigkeiten, Lebensaussichten und/oder Sozialbeziehungen. Demnach wäre arm, wer nicht genug von dem hat, was man zum Leben braucht; zum Beispiel Ressourcen, Bildung, Chancen und/oder Anerkennung.

Dem zu Anfang erwähnten Verdacht, dass Armut in Deutschland, zumindest teilweise, etwas ganz anderes bedeuten kann als beispielsweise Armut in Nairobi, will die sozialwissenschaftliche Armutsforschung regelmäßig dadurch gerecht werden, dass sie zwischen einem „absoluten“, das heißt objektiven und vornehmlich physischen Mangel und einem „relativen“, das heißt kontextabhängigen und vornehmlich sozialen Mangel unterscheidet. So hilfreich diese begriffliche Unterscheidung auch ist: Wo genau die qualitativen und quantitativen Grenzen zwischen absoluter und relativer Armut liegen, ist umstritten; zumal dann, wenn man diese Grenzen erneut, wie das eben zumeist geschieht, monetär zu bestimmen versucht. Aus einer spezifisch menschenrechtlichen Sicht jedoch erscheint es sinnvoll, Armutsprobleme von vornherein auf den für den Menschenrechtsdiskurs insgesamt zentralen Begriff der Menschenwürde und mithin des „menschenwürdigen Lebens“ zu beziehen.

Dieser Vorschlag kann auf empirische Kalkulationen und Berechnungen zunächst verzichten. Auch dann ergeben sich zwar keine verlässlichen Zahlen und Statistiken, wohl aber ein verbessertes Verständnis des Armutsproblems, das ersichtlich zwei grundverschiedene Gesichter hat: Absolute Armut bezeichnet dann die Grenze, unterhalb derer menschenwürdiges Leben nicht mehr möglich ist. Relative Armut hingegen bezeichnet die Schwelle, unterhalb derer menschenwürdiges Leben unmöglich wird. Wer absolut arm ist, läuft Gefahr, an dieser Armut mittel- oder langfristig zu sterben. Aber man kann leben, ohne zugleich menschenwürdig zu leben. Dann ist man unter Umständen relativ arm. Anders gesagt: Wer absolut arm ist, hat so wenig, dass sie oder er nicht einmal das hat, was man – langfristig gesehen – zum „nackten Überleben“ braucht. Wer dagegen relativ arm ist, hat nicht das, was man benötigt, um im jeweils konkreten kulturellen und sozialen Kontext – das heißt verglichen mit seinen Mitmenschen vor Ort – einen menschenwürdigen „Lebensstandard“ zu genießen.

 

Universelle Ansprüche?

 

Erst aus dieser nicht länger monetären, sondern problemorientierten Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut ergibt sich ein gewisses Verständnis für die zu Anfang erwähnte Empörung, mit der viele Menschen auf den Vergleich von Armutsproblemen innerhalb reicher Ländern mit Armutsphänomenen im globalen Maßstab reagieren: Während wir es in Deutschland und in vielen anderen reichen Ländern, die soziale Sicherungssysteme aufweisen, meist „nur“ mit Problemen relativer Armut zu tun haben, ist das oft tödliche Risiko weltweiter Armut ein Problem mit absolutem Mangel. Wenn man nun aber aus menschenrechtlicher Sicht Armut derart als objektive und kontextuell abhängige Bedrohung der Menschenwürde interpretiert, ergibt sich gleichwohl das Problem, dass eine Antwort auf die Frage, was es konkret heißt, ein Leben in Würde, das heißt oberhalb der doppelten Armutsgrenze, zu führen, nicht unabhängig von den ungleichen Lebensumständen vor Ort formuliert werden kann. Armut in Deutschland ist dann eben – zumindest teilweise – etwas ganz anderes als Armut in Nairobi, Brasilien, Japan, Russland, Peru, Australien usw. Wie aber verträgt sich ein derart kontextsensibler Begriff menschenwürdigen Lebens mit der Idee „universeller“ Menschenrechte, die doch für alle das Gleiche zu fordern scheinen? Pointierter gefragt: Ist die deutsche Menschenwürde am Ende eine andere als die Menschenwürde in Nairobi, Brasilien, Japan usw.?

Dies wäre fraglos eine für den Diskurs um universelle Menschenrechte katastrophale Konsequenz. Wenn man folglich, so wie hier vorgeschlagen, die Menschenrechte immer auch zur Armutsbekämpfung verpflichten und dabei auf den Begriff „menschenwürdige Lebens“ beziehen will, so wird man dazu einen Begriff der Würde benötigen, der sich menschenrechtlich operationalisieren, das heißt anwenden lässt, ohne den für die Menschenrechte zentralen Anspruch aller Menschen weltweit auf gleiche Berücksichtigung als Mensch zu verletzen. Derzeit aber kursiert innerhalb der menschenrechtlichen Debatte eine Vielzahl von äußerst divergenten Interpretationen der Würdeidee. Dies lässt eine baldige Einigung auf einen universell akzeptierten und damit konzeptionell alternativlosen Würdebegriff vollends unrealistisch erscheinen.

Der philosophische Mainstream freilich versteht unter der Würde des Menschen eine Art natürliche oder auch göttlich verfügte „Mitgift“, einen „inhärenten Wert“, den der Mensch „immer schon“ und „angeboren“ aufweist oder in sich trägt und folglich auch nicht verlieren kann. Die Würde ist dem Menschen qua Menschsein mitgegeben – und sie kann einem auch nicht genommen werden. Versteht man die Menschenwürde auf diese Weise, so wird jedoch rasch fraglich, warum und inwiefern Armutsprobleme überhaupt eine Bedrohung für die Menschenwürde darstellen sollen. Wenn man doch die jeweils eigene Würde, diesen inhärenten Wert aller Menschen, ohnehin nicht einbüßen kann, dann kann diese Würde auch nicht von Armut oder anderweitig depravierten Lebensumständen bedroht sein. Was nicht zu verlieren ist, kann einem auch nicht genommen werden. Und daraus folgt: Ein solcher Mitgift-Begriff der Würde hilft an dieser Stelle nicht weiter, weil er sich gar nicht operationalisieren lässt.

 

Eine Frage der Würde

 

Als weitaus fruchtbarer erweist es sich aus Sicht der Philosophie der Menschenrechte, den universellen Würdebegriff – und damit auch das Armutsproblem – auf ein typisch menschliches Bedürfnis nach an einem Leben in „Selbstachtung“ zu beziehen: Weil jeder Mensch ein Interesse an sozialen Verhältnissen hat, in denen er seine Selbstachtung bewahren kann, weil er sich von seinen Mitmenschen als ein gleichwertiger Mensch wie jeder andere geachtet weiß, müssen die Menschenrechte derartige Verhältnisse allererst schaffen und dann schützen. Ein entsprechender Würdebegriff, der auf der Idee der Selbstachtung aufruht, könnte in aller Kürze wie folgt umrissen werden: Als mögliche Kandidaten für den Besitz von Menschenwürde kommen zunächst all Menschen, und zwar allein aufgrund ihres Menschseins, in Frage. Alle Menschen haben aus menschenrechtlicher Sicht einen Anspruch darauf, insofern als „gleiche“ geachtet zu werden, als niemand, in seiner Eigenschaft als Mensch, mehr fundamentale Rechte oder aber weniger als jeder andere Mensch hat. Die spezifische Form sozialer Anerkennung, die wir uns als Menschen wechselseitig zukommen lassen, wenn wir uns als derart gleiche Menschen anerkennen, wird in der Philosophie gemeinhin „Achtung“ genannt. Und wer sich von anderen Menschen und auch von Seiten öffentlicher Institutionen hinreichend geachtet fühlt, mag dieses Annerkantsein zu einer inneren Einstellung der „Selbstachtung“ transformieren. Das bedeutet: Der für die Menschenwürde zentrale Aspekt der Selbstachtung ergibt sich auf jeweils individueller Seite aus der sozialen Erfahrung, von anderen Menschen hinreichend als ein gleichwertiger Mensch anerkannt zu sein ‑ und sich entsprechend dann auch so zu fühlen.

Allerdings ist mit diesem begrifflichen Zusammenhang von Menschenwürde und Selbstachtung erst einmal noch nicht sehr viel gewonnen ‑ weder für den Menschenrechtsdiskurs insgesamt noch für den Armutsdiskurs im Besonderen. Der gesuchte systematische Ertrag dieser begrifflichen Verknüpfung ergibt sich erst dann, wenn man den Umstand berücksichtigen will, dass Menschen in ihrer Selbstachtung verletzt werden können und dann entsprechend auch an Selbstachtung einbüßen mögen. Die gesellschaftlichen und auch institutionellen Verhältnisse, in denen man als Mensch lebt, bringen keineswegs immer oder auch nur oft die menschenrechtlich zentrale Botschaft zum Ausdruck, dass alle Menschen als gleichwertig zu achten sind. Menschen etwa, die in Armut leben, thematisieren die jeweils eigene Lebenslage sehr häufig als „Demütigung“, „Erniedrigung“, „Missachtung“ oder auch mit Begriffen wie „Minderwertigkeit“, „Nutzlosigkeit“, „Ohnmacht“, „Respektlosigkeit“, „Unsichtbarkeit“, „Scham“ oder eben „Würdelosigkeit“. Es sind die in diesen Begriffen zum Ausdruck kommenden Erfahrungen, in denen sich ein möglicher Verlust an Selbstachtung und damit dann entsprechend auch Einbußen an Würde andeuten. Anders gesagt: Unter gesellschaftlich potenziell entwürdigenden Lebensumständen, wie sie etwa bei der Armut vorherrschen, kann auf Seiten der betroffenen die Überzeugung verloren gehen, ein voll- und gleichwertiger Mensch zu sein.

Damit liegt allerdings sogleich auch ein grundsätzlicher Einwand gegen eine allzu enge Bindung der Armut an den Würdebegriff nahe. Denn bisweilen wird die Ansicht vertreten, dass es „nicht viel braucht“, um ein Leben in Würde zu führen. Historische Beispiele von „Eremiten“, „Bettelmönchen“ oder „Fastenkünstlern“, so heißt es, würden beweisen, dass es sehr wohl möglich sei, „in Würde arm zu sein“ und entsprechend auch die eigene Selbstachtung zu bewahren. Armut führe damit keineswegs notwendig zum Würdeverlust. Es gebe – auch heute noch – viele Menschen, die ihre Armut in Würde tragen. Auch wenn es schwer sein mag, als armer Mensch ein Leben in Würde zu führen – unmöglich sei es nicht. Daher gebe es keinen Automatismus zwischen der Armut und dem Verlust der Selbstachtung. Aber wie plausibel ist dieser Einwand?

Um diesen Einwand differenziert bewerten zu können, bedarf es erneut der zu Anfang skizzierten Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut: Richtig scheint zu sein, dass man in relativer Armut leben kann, ohne seine Würde einbüßen zu müssen. Auch wenn ein sozial unangemessener Lebensstandard stets eine Bedrohung für die eigene Selbstachtung darstellen mag, gelingt es vielen relativ armen Menschen dennoch, ihre Selbstachtung und Würde zu bewahren. Falsch an dem besagten Einwand scheint jedoch zu sein, dass man auch in einem absoluten Sinn arm sein kann, ohne seine Würde zu verlieren. Wenn das Leben selbst bedroht ist, so wird ein Leben in Selbstachtung bereits in elementar vitaler Hinsicht unmöglich. Und mit den existenziellen Grundlagen „nackten Überlebens“ und einem Dasein in Anbetracht einer ständiger „Todesdrohung“ schwinden dann eben doch auch zwingend die Grundbedingungen eines menschenwürdigen Lebens in Selbstachtung.

 

Die sozialen Menschenrechte

 

Auch wenn der begriffliche Zusammenhang von Menschenwürde und Armut komplizierter ist, als auf den ersten Blick vermutet: Bedroht ist die Menschenwürde nicht nur in absoluter, sondern auch schon in relativer Armut; obgleich damit zwei sehr unterschiedliche und mithin unterschiedlich gravierende Arten von Bedrohung markiert sind. Wenn nun aber die universellen Menschenrechte insgesamt dem Schutze der Menschenwürde verpflichtet sind, dann müssen sich diese Menschenrechte auch dem sowohl nationalen als auch internationalen Problem einer teilweise extremen Ungleichverteilung von Vermögen widmen. Nach gängiger Auffassung lassen sich die Menschenrechte inhaltlich in drei Klassen aufteilen: „liberale Freiheitsrechte“, „politische Teilnahmerechte“ und „soziale Teilhaberechte“, wobei es diese dritte und historisch zuletzt erkämpfte Klasse von sozialen Rechten ist (Bildung, Gesundheit, Arbeit, soziale Sicherheit, kulturelle Teilhabe u.a.), die gemeinhin die Aufgabe zugewiesen bekommt, einen insgesamt „angemessenen Lebensstandard“ zu ermöglichen und damit ein sowohl in absoluter wie auch in relativer Hinsicht menschenwürdiges Leben oberhalb der (doppelten) Armutsgrenze zu garantieren.

Insofern nun die mit Menschenrechten ganz allgemein einhergehenden Pflichten vornehmlich an Staaten bzw. Regierungen und subsidiär an die internationale Staatengemeinschaft adressiert sind, erweisen sich menschenrechtliche Forderungen nach einer aktiven Bekämpfung von Armut zumindest dann als gerechtfertigt, wenn gezeigt werden kann, dass diese Staaten und Regierungen – entweder ursächlich oder aber durch unterlassene Hilfeleistungen – mitverantwortlich dafür sind, dass Menschen unfreiwillig in Not sind und nicht länger ein Leben in Würde und Selbstachtung zu führen vermögen. Demnach wollen die sozialen Menschenrechte sowohl auf jeweils nationaler Ebene wie auch im Weltmaßstab eine teilweise massive Ungleichverteilung, und zwar so lange, bis jeder Mensch weltweit ein Leben ohne demütigende Armut und somit in Würde zu leben vermag. Abgesehen von der geradezu utopischen „Realitätsferne“ dieser normativen Überlegungen in realpolitischer Hinsicht, sind mindestens zwei Fragen in der aktuellen Menschenrechtsdebatte sehr umstritten:

(1) Sind die sozialen Menschenrechte gleichrangig? Nach gängiger Auffassung generiert die erste inhaltliche Klasse der liberalen Freiheitsrechte „negative Unterlassungspflichten“, während die dritte inhaltliche Klasse der sozialen Menschenrechte „positive Hilfspflichten“ auf den Plan ruft. Diese positiven Pflichten weisen insofern über das „Soll“ rein negativer, passiver Abwehrleistungen hinaus, als sie all jene Menschen, die unfreiwillig unterprivilegiert sind, aktiv in den Stand versetzen sollen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. An diesen Pflichten wird häufig kritisiert, sie führten zu einem überhöhten Anspruchsdenken; sie seien zudem „unvollkommen“ in dem Sinn, dass ihre Konsequenzen vollends unterbestimmt seien; und man müsse die mit ihnen einhergehenden Forderungen ohnehin bloß als „supererogatorisch“, das heißt fakultativ, und damit im Grunde nicht einmal als „Pflichten“ im strengen Sinn verstehen. Kurzum: Die sozialen Menschenrechte seien schwächer begründet und gegenüber negativen Abwehrrechten zweitrangig. Aber diese Auffassung ist falsch, denn es lässt sich zeigen, dass schlicht jedes Menschenrecht sowohl negative als auch positive Pflichtendimension aufweist. Nur ein Beispiel: Das liberale Abwehrrecht auf Meinungsfreiheit generiert keineswegs bloß negative Unterlassungspflichten. Selbstredend muss der Staat die Unterdrückung oder Zensur von Meinungen unterlassen, aber er muss immer auch aktiv zum Aufbau einer meinungsbildenden Öffentlichkeit beitragen; zum Beispiel durch die Bereitstellung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Beispiele wie diese machen deutlich: Wenn sich positive Hilfspflichten nicht gleichrangig mit negativen Unterlassungspflichten begründen lassen, dann wird sich keines der Menschenrechte hinreichend begründen lassen.

(2) Gilt die völkerrechtliche „responsibility to protect“ auch in Armutsfragen? Wie schon angedeutet, liegt eine Menschenrechtsverletzung mit Blick auf Armutsprobleme immer dann vor, wenn ein Staat – oder subsidiär die Staatengemeinschaft – gravierende Armut zwar bekämpfen könnte, es aber dennoch nicht hinreichend tut. Nun ist es aber auf dem UN-Gipfel 2005 und im Jahre 2009 dann auch im Rahmen einer eigenen UN-Resolution (A/RES/63/308) zur Anerkennung einer völkerrechtlichen „responsibility to protect“ gekommen. Diese durchaus umstrittene, weil nationalstaatliche Souveränitätsansprüche erheblich einschränkende Idee besagt: Kommt es in irgendeinem Land zu massiven Menschenrechtsverletzungen, so ist die Völkerrechtsgemeinschaft in der menschenrechtlichen Pflicht, politisch zu intervenieren und einzugreifen, und zwar notfalls mit Gewalt. Noch umstritten ist derzeit aber, ob diese völkerrechtliche Verantwortung auch in Armutsfragen gelten soll. Man könnte jedenfalls die These vertreten, dass es aus Sicht der Menschenrechte keinen erheblichen Unterschied macht, ob hunderttausende Menschen deshalb sterben, weil sie Opfer eines ethnischen Konflikts sind, den ihre Regierung nicht hat verhindern wollen, oder ob diese Menschen an vermeidbarer Armut zugrunde gehen. Die völkerrechtliche „responsibility to protect“ wäre demnach auch dann gut begründet, wenn die massenhafte Missachtung von Leben und Würde die Folge staatlich mitverschuldeter Armut ist; zumindest dann, wenn es sich um absolute, das heißt letztlich tödliche Armut handelt.

 

Outlook

 

Wenn die zu Anfang zitierten Schätzungen zutreffend sind und derzeit allein 800 Millionen Menschen weltweit in absoluter Armut leben bzw. sterben, so dürfte das politisch vollends unzureichend bekämpfte Armutsproblem das weltweit derzeit gravierendste Menschenrechtsproblem sein. Daher sollten die folgenden Einsichten weitaus stärker in den Fokus der für die Menschenrechte noch weiter zu sensibilisierenden Weltöffentlichkeit rücken:

  • Meist sind die im weltweiten Vergleich besonders stark von absoluter Armut betroffenen Staaten als Nationen keineswegs „arm“, sondern oftmals schlicht nicht willens, die Armut in ihrem Land zu beseitigen. Stattdessen wird sehr häufig ein teilweise obszöner Reichtum korrupter Eliten direkt auf Kosten der Leiden der Gesamtbevölkerung akkumuliert.
  • Die betreffenden Länder verdienen aus völkerrechtlicher Sicht nicht länger den Respekt, den man ihnen traditionell durch das nationalstaatliche „Recht auf Nicht-Einmischung“ zuteil werden ließ. Vielmehr fordern die Menschenrechte spätestens seit 1948 auch in Armutsfragen eine gewisse weltpolitische Einmischung seitens der internationalen Staatengemeinschaft.
  • Kommt es gar zu einem armutsbedingten Massensterben in bestimmten Regionen dieser Welt, und erweisen sich die dortigen Regierungen als unfähig oder auch nicht willens, diese absolute und tödliche Armut zu bekämpfen, können als ultima ratio selbst sogenannte humanitäre Interventionen gerechtfertigt sein, um dieses Massensterben zu verhindern.
  • Führt absolute Armut zu Flucht- und Migrationsbewegungen, so ergeben sich menschenrechtliche Pflichten für alle Länder, die helfen können. Menschen, die unfreiwillig in lebensbedrohlicher Not sind, haben ein Menschenrecht auf Unterstützung, Versorgung und Aufnahme. In menschenrechtlichen Fragen der Bekämpfung absoluter Armut gibt es keine „Obergrenze“.
  • Allerdings darf das global massenhafte Problem absoluter Armut nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst die „entwickelten“ und reichen Länder dieser Welt relative Armutsprobleme aufweisen, die ebenfalls eine Bedrohung für die Menschenwürde darstellen und entsprechende menschenrechtliche Pflichten der Bekämpfung auch dieser Armut generieren.

So sehr man auch im Einzelnen politisch darüber wird streiten müssen, was genau und im Einzelnen die weltweite Realisierung sozialer Menschenrechte beinhalten würde und für wie realistisch man die Aussicht auf deren weltweite Durchsetzung zu halten hat: Dass solche menschenrechtlichen Ansprüche auf einen angemessenen Lebensstandard sehr viel mehr erfordern, als die Staaten dieser Welt und mithin die Staatengemeinschaft derzeit zu tun bereit sind, liegt auf der Hand. Es würde laut World Food Programme täglich nur etwa 20 Cent kosten, jedem Kind eine Schulmahlzeit mit wichtigen Vitaminen und Nährstoffen zur Verfügung zu stellen, die es braucht, um gesund aufzuwachsen. Tagtäglich aber sterben weltweit mehr als 30.000 Menschen an den Folgen einer vermeidbaren Armut. Dies zu verhindern, ist ein Gebot der Menschenwürde.

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