Bayern 1918 – 2018

As part of the event "The Stubborn Free State - Bavaria 1918-2018", 07.11.2018

Vorüberlegungen

 

Bayern war lange Zeit, im Früh- und Hochmittelalter, ein Herzogtum. Im Jahr 1806 wurde es, erweitert um Franken und Schwaben, zu einem Königreich. Freistaat nennt sich Bayern seit der Revolution vom November 1918 – einer Revolution, welche die mehr als siebenhundertjährige, Herzogtum und Königreich verbindende Herrschaft der Wittelsbacher mit einem Schlag beendete und Bayern unter heftigen Konvulsionen aus der monarchischen in eine demokratische Epoche hinüberführte.

„Bayern ist fortan ein Freistaat“, so verkündete Kurt Eisner am 8. November 1918 den Namenswechsel. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der nahezu ohne Gegenwehr an die Macht gekommene Revolutionsführer – die bayerische Monarchie brach ja als erste unter den deutschen Ländern zusammen – als Redakteur und Schriftsteller zugleich ein eifriger, Fremdwörtern abholder „Verdeutscher“ war. So proklamierte er im Süden den „Freistaat“, ein deutsches Wort für Republik, während im Norden, in Berlin, Philipp Scheidemann einen Tag später, am 9. November 1918, von einem Fenster links des Reichstagsportals die „Deutsche Republik“ ausrief. „Freistaat Bayern“ und „Weimarer Republik“ sollten einander in den nächsten Jahren geradezu beispielhaft gegenüberstehen. Oft war ihr Verhältnis bis zum Zerreißen angespannt. Bayern und das Reich, München und Berlin befehdeten sich heftig in Worten und in Taten – und blieben am Ende doch aufeinander angewiesen.

Hundert Jahre Freistaat Bayern – das ist ein Anlass zum Innehalten, zum Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft. In allen sieben Regierungsbezirken Bayerns finden in diesem Jahr Jubiläumsveranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge und Museumsfeste statt. Man feiert die letzten 100 Jahre und greift noch weiter zurück – 200 Jahre, bis zur Verfassung des Jahres 1818, dem Beginn des bayerischen Verfassungsstaates. Der Bayerische Rundfunk hat dem Jubiläum zahlreiche Sendungen gewidmet. Akademien und Universitäten gedenken des historischen Ereignisses in Vorlesungen und Seminaren. Die bayerische Landesausstellung 2018 im Kloster Ettal beschwört den „Mythos Bayern“ – freilich mit den Worten „Wald, Gebirg und Königstraum“ ein wenig allzu folkloristisch. Heute Morgen fand der zentrale Festakt des Bayerischen Landtags und der Bayerischen Staatsregierung im Nationaltheater in München statt. Die Einwohner Münchens erinnern sich an dieses Datum mit besonderer Intensität: nicht weniger als 300 Veranstaltungen zum Thema 1918 – 2018 finden heuer in der bayerischen Landeshauptstadt statt. Hier, in der Katholischen Akademie, will ich daran erinnern, dass auch das gegenüber gelegene Schlösschen Suresnes in den Vorgängen des Jahres 1919 eine Rolle spielte: in diesem Treffpunkt für junge Künstler hatte zeitweilig Paul Klee sein Atelier – und der Maler Hans Reichel versteckte während der Münchner Räterepublik in seiner Wohnung dort den Schriftsteller und linkssozialistischen Revolutionär Ernst Toller. Viel Grund zum Erinnern also – und viel Anlass zu Nachfragen, zum historischen Nachforschen und zur politischen Diskussion.

Wie soll man sie nun sehen, die letzten hundert Jahre bayerischer Geschichte, die Epoche des Freistaats Bayern? Es scheint mir eine janusköpfige Zeit zu sein. Ich entnehme diese Metapher – den Januskopf – dem grundlegenden Vortrag „100 Jahre Freistaat Bayern“, den Hermann Rumschöttel vor einem Jahr anlässlich der Jahressitzung der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am 12. Oktober 2017 gehalten hat. Andere Gedenkreden dieses Jahres erinnerten an die Vielfalt und Offenheit der jüngeren bayerischen Geschichte. Vielfalt und Offenheit – sind das auch die passenden Stichworte für die 100 Jahre Freistaat Bayern? Nun, ich denke, das ist nicht ganz so einfach. An Vielfalt fehlt es dieser Zeit gewiss nicht, auch nicht an Unerwartetem, Nicht-Vorhergesehenem, Überraschendem. Doch die nötige Weltoffenheit hat sich der Freistaat – nach kurzen Vorspielen in der Weimarer Epoche – endgültig wohl erst nach dem Zusammenbruch von 1945 erworben. Die Geschichte der Jahre 1918 bis 2018 ist in der Tat ein Januskopf: Nach 1918 blickt Bayern unwillkürlich zurück, zunächst auf die verlorengegangene Monarchie, überhaupt auf die „alten Zeiten“. Dem folgt dann, in der NS-Zeit, der bewusste Schritt zurück, der Rückfall in eine Zeit der Gewalt und der Barbarei. Die Hitlerzeit endet im Chaos des Krieges mit schwersten Zerstörungen und Verlusten; die rechtlichen Ordnungen haben sich aufgelöst, das Vertrauen in die Obrigkeit ist verloren und wird erst langsam zurückgewonnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt der Freistaat dann – zunächst unter der Aufsicht der amerikanischen Besatzungsmacht – seine „zweite Fahrt“ auf. Er überwindet die äußeren und inneren Zerstörungen, er blickt nach vorn, nicht mehr zurück – und er wird nun, erstaunlich genug, in einem langsamen, Jahrzehnte dauernden Ausgleichsprozess zu einem Gebilde, das politisch und wirtschaftlich erstarkt, so dass es eine große Zahl von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen dauerhaft integrieren kann. Bayern gewinnt zunehmend Sicherheit, es wächst in der Nachkriegszeit auf das Doppelte seiner früheren Einwohnerzahl an – inzwischen rund 13 Millionen –, und es nimmt im Lauf der Zeit eine vordere Stellung unter den deutschen Ländern ein. Es wird in der Gegenwart von vielen Nachbarn in Deutschland, ja darüber hinaus bewundert; viele sehen in ihm ein Musterbeispiel dafür, wie es gelingen kann, Tradition und Fortschritt miteinander zu verbinden.

           

Revolutionärer Beginn – Eisner und Landauer

 

Ein so erfreulicher Ausgang war den ersten zwei der hundert Jahre des Freistaats keineswegs in die Wiege gelegt. Vielmehr begann die Geschichte des neuen Staatswesens im November 1918 höchst dramatisch mit einem Revolutionsstück – einem Geschehen, das unblutig anfing, aber blutig endete. Nach Jahrhunderten monarchischer Herrschaft schlug das politische Pendel 1918/19 in Bayern in eine neue, extrem veränderte Richtung aus. Der Freistaat wurde zu einer Räterepublik – der ersten und einzigen auf deutschem Boden. Wladimir Lenin konnte am 1. Mai 1919 auf dem Roten Platz in Moskau nicht nur das revolutionäre Sowjetrussland begrüßen, er sandte auch Grüße an – so wörtlich – „Sowjetungarn und Sowjetbayern“.

Eisner, der Revolutionär und erste Ministerpräsident des Freistaats, war freilich kein Kommunist, sondern ein 1917 zur USPD übergegangener Sozialdemokrat. In seinem Demonstrationszug, der sich nach einer großen Friedensdemonstration auf der Theresienwiese am 7. November von der Mehrheit gelöst hatte und in der Folge die Regierungsgebäude und Kasernen Münchens besetzte, zog auch der niederbayerische blinde Bauernführer Ludwig Gandorfer, gleichfalls USPD-Mitglied, mit. Denn nicht nur die Stadtbevölkerung, auch die Bauernschaft war kriegsmüde und rief nach Frieden. Nach fünf Kriegsjahren waren die Kräfte des Landes erschöpft. Die Wirtschaftslage war katastrophal, die Arbeitslosigkeit wuchs, der Hunger griff um sich.

Eisner versuchte in seiner hauptsächlich aus MSPD und USPD zusammengesetzten Regierung einen Mittelkurs zu steuern zwischen den Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten im Land, die auf eine direkte Demokratie drängten, und dem überlieferten Stil der bayerischen Politik und Verwaltung. Erfolg war ihm in seiner kurzen Amtszeit nicht gegönnt. Von der Reichsregierung isolierte er sich durch seinen betonten Föderalismus, sein ungestümes Beharren auf Eigenstaatlichkeit – und mehr noch durch die einseitige Proklamation einer deutschen Kriegsschuld, die er auf Berichte der bayerischen Gesandtschaft in Berlin stützte. Er hoffte dadurch die Alliierten für eine mildere Behandlung Deutschlands zu gewinnen, was freilich vergebliche Mühe blieb.

Die erste Landtagswahl nach dem Krieg im Januar 1919 entzog Eisner die politische Basis. Seine Partei, die USPD, erhielt nur 2,5 % der Stimmen und entsandte ganze 3 Abgeordnete in das Parlament – das genügte nicht einmal, um eine Fraktion zu bilden. Stärkste Kraft wurde die Bayerische Volkspartei, die Nachfolgerin des Zentrums, gefolgt von den Mehrheitssozialdemokraten. Eisner konnte daher nicht im Amt bleiben. Auf dem Weg zu der Landtagssitzung, in der er seinen Rücktritt erklären wollte, wurde er von dem jungen Grafen Anton von Arco-Valley, einem fanatischen Revolutionsgegner, ermordet.

Nun setzte eine Radikalisierung ein, eine Spaltung der Machtzentren: Während das auf Eisner zurückgehende Rumpfkabinett unter Führung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (MSPD) in das ruhige Bamberg auswich – dort wurde im August die neue bayerische Verfassung verabschiedet –, wurde in München am 7. April 1919 die „Bayerische Räterepublik“ ausgerufen. In ihr spielte neben dem Schriftsteller Ernst Toller der Publizist und Pazifist Gustav Landauer eine führende Rolle, ein Schüler Kropotkins, Vertreter eines philosophiegestützten Anarchismus. Im Krieg war er mit seiner Frau, der Lyrikerin und Übersetzerin Hedwig Landauer, von Berlin in das bayerisch-schwäbische Krumbach in die Wohnung seiner verstorbenen Schwiegermutter gezogen. Hier erreichte ihn der Ruf Eisners nach München. Die zwei Männer – beide Juden säkularen Zuschnitts – befreundeten sich rasch.

Nach dem Tod Eisners fiel Landauer die Aufgabe zu, beim Trauerzug und dem Begräbnis Eisners vor nahezu 100.000 Menschen (unter ihnen auch Heinrich Mann und der junge Bertolt Brecht) die Totenrede zu halten. In der Räterepublik wurde er dann für eine winzige Zeitspanne – ganze sechs Tage lang – Kultusminister. Regieren konnte er freilich nach dem eigenen herrschaftsfreien Politikverständnis nicht: Als die Beamten ihm die in einem Tag eingegangene Post in einem Waschkorb auf den Schreibtisch stellten – er hatte darauf bestanden, alles selbst zu lesen! –, musste er angesichts der Briefmassen kapitulieren und der ungeliebten Verwaltung den gewohnten Lauf lassen. Der kommunistischen Wendung der Räterepublik unter Max Levien und Eugen Leviné, die eine Diktatur des Proletariats nach sowjetischem Muster anstrebten, entzog er sich. Als überzeugter Föderalist hielt er die Kommunisten für unheilbare Zentralisten und sah in ihnen moderne Wiedergänger der Jakobiner.

Die Dinge strebten nun einem blutigen Ende zu. Die Regierung Hoffmann in Bamberg rief preußische, württembergische und bayerische Truppen gegen das rote München zu Hilfe – dort bewaffnete der Vollzugsrat das Proletariat und proklamierte die „Diktatur der Roten Armee“. Verhindern konnte diese Streitmacht die Eroberung Münchens durch die Regierungstruppen freilich nicht. Die Erschießung bürgerlicher Geiseln im Vorfeld des Sturms verbreitete Angst und Schrecken und machte der ohnehin nur halbherzigen Unterstützung des Räteregimes durch die Bevölkerung ein Ende. Der weiße Gegenterror, der unmittelbar danach einsetzte, überbot dann freilich den Terror der Linken um ein Vielfaches. Auch Gustav Landauer, ein hagerer Mann mit ergrauendem Vollbart, im Äußeren weder revolutionär noch proletarisch, mit einer Stimme und Ausdrucksweise von „geschliffener Milde“, wurde im Gefängnis von Freikorpssoldaten auf brutale Weise ermordet.

So endete ein Experiment, an dem ungewöhnlich viele Dichter, Journalisten, Theaterkritiker, Künstler beteiligt waren – neben Eisner und Landauer Erich Mühsam, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, am Rand auch Gustav Regler und Rainer Maria Rilke. Volker Weidermann hat die Vorgänge in einem Buch mit dem Titel „Träumer“ beschrieben, das sich wie ein Roman liest. Der Untertitel lautet: „Als die Dichter die Macht übernahmen“ (Köln 2017). Doch mit der Macht verstanden die Dichter nicht umzugehen. Mit der kurzlebigen Räteherrschaft waren alle Formen außerparlamentarischer, direkter Demokratie in Bayern auf Jahre hinaus diskreditiert. Die Spuren schreckten. Der Ruf nach Ordnung wurde übermächtig. Und damit nach der Tragödie das Satyrspiel nicht fehle, ereigneten sich im Mai 1919 in dem von den Räten „befreiten“ München Szenen einer früher kaum für möglich gehaltenen Verbrüderung der Bevölkerung mit den preußischen Truppen. Viktor Klemperer, damals Journalist in München, beschreibt diese „freudige bayrisch-preußische Verbrüderung“ wie folgt: „Männer, Frauen und Kinder waren auf das Siegestor geklettert, kauerten malerisch auf dem Löwengespann, schwenkten Fahnen, winkten und schrien. Um das Halbrund vor der Universität, in dem Wagen und ein erobertes Geschütz aufgefahren waren, drängten sich die Münchener und plauderten mit den Posten und beschäftigungslos umherstehenden Soldaten – es war das drolligste Gegeneinander von Berlinisch und Münchnerisch…“

 

Die Mühen der Ebene – Bayern 1920 bis 1933

 

Die Rätezeit war kurz. Doch als stimmungsgründender politischer Akkord hallte sie in der Geschichte des Freistaats lange nach. Man darf annehmen, dass sich die politische Haltung vieler Menschen, ihre Einstellung zu Parteien, Parlamentarismus, Demokratie in dieser Zeit geformt hat – mit lange anhaltenden Wirkungen weit in die Zwanziger- und Dreißigerjahre hinein. Das gilt für so verschiedene Persönlichkeiten wie Eugenio Pacelli, Michael von Faulhaber, Gustav von Kahr und Heinrich Held, welche die Geschicke Bayerns in den folgenden Jahren beeinflussen sollten; ich führe ihre Biogramme stellvertretend für diesen Abschnitt der bayerischen Geschichte kurz an.

Eugenio Pacelli war seit 1917 Nuntius in München. Als vatikanischer Meisterdiplomat hatte er im Auftrag Papst Benedikts XV. im Juni dieses Jahres mit der kaiserlichen Regierung über die Beendigung des Krieges und einen möglichen Friedensschluss verhandelt. Das Scheitern dieser Initiative hat ihn wohl zu der Überzeugung gebracht, der Vatikan tue gut daran, sich im Streit der Völker strikt neutral zu verhalten, eine Auffassung, die er bekanntlich lebenslang, auch im Zweiten Weltkrieg als Papst, vertrat. Mit der Räteregierung war Nuntius Pacelli in München heftig zusammengestoßen. Am 29. April 1919 besetzten Räte-Anhänger die Nuntiatur; Pacelli wurde mit dem Revolver bedroht, sein Dienstwagen beschlagnahmt. In Berichten an den Vatikan kennzeichnete der Nuntius das Regime Max Leviens und Eugen Levinés als „sehr harte russisch-jüdisch-revolutionäre Tyrannei“. Man wird annehmen dürfen, dass Pacelli den Bolschewismus von dieser Zeit an nicht minder kritisch sah und beurteilte als den später aufkommenden Nationalsozialismus, den er im Mai 1924 als „die vielleicht gefährlichste Häresie unserer Zeit“ bezeichnet hat.

Auch bei Michael von Faulhaber, seit 1917 Erzbischof von München und Freising, hat der revolutionäre Einschnitt von 1918/19 einen dauernden Eindruck hinterlassen. Sein Tagebuch – das gegenwärtig erschlossen und online zugänglich gemacht wird – gibt ein getreues Bild der Geschehnisse in München. Der Erzbischof war zeitweise in Gefahr, vom Räteregime als Geisel genommen zu werden. Über die Revolution, die überall in Deutschland die alten Monarchien weggefegt hatte, sagte der königstreue Monarchist, sie sei „Meineid und Hochverrat“ gewesen. Beim Münchner Katholikentag 1922 stieß er deshalb – inzwischen Kardinal – heftig mit dem Präsidenten der Versammlung, dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, zusammen. Adenauer war ein überzeugter rheinischer Demokrat. Faulhaber sprach der aus der Revolution hervorgegangenen Weimarer Republik jede Autorität ab. Adenauer widersprach: Die Monarchien, vor allem die der Hohenzollern, seien reif für den Untergang gewesen. Er widersetzte sich auch der Polemik Faulhabers, der gegen die Besetzung des Rheinlands durch „Heiden und Muhammedaner“ Stimmung machte. In die Zukunft blickend, plädierte er für ein Zusammengehen von Katholiken und Protestanten zur Überwindung alter Spaltungen und zur dauerhaften Stabilisierung der deutschen Politik. Für Faulhaber war das zu viel. Er wollte den Saal demonstrativ verlassen. Doch kluge Leute – wohl der Zentralkomitee-Vorsitzende Fürst Löwenstein selbst – hatten seinen Kardinalshut verräumt, er war unauffindbar. So konnte Adenauer rasch zum Schluss kommen und seinen Kontrahenten mit listiger Demut um den Schlusssegen bitten, den dieser als geistlicher Hirte nicht verweigern konnte. Übrigens hat Kardinal Faulhaber bis zu seinem Lebensende 1952 durch seinen Einspruch in Rom verhindert, dass Adenauer einen päpstlichen Orden erhielt.

Wirkte mit Faulhaber im bayerischen Katholizismus ein gefühlsbetonter monarchischer Unterstrom nach, so wies die auf die Räteregierung folgende „Ordnungszelle Bayern“ unter den Beamtenministern Gustav von Kahr und Eugen von Knilling einen Ton ausgeprägter Kälte und Härte auf. Es war eine von den Zeitläuften – Inflation, Ruhrbesetzung, Einwohnerwehren – geschüttelte Halbdiktatur (1920 – 1924). Bayern wurde beispielhaft für Deutschland zum Hort der Rechten. Vorübergehend wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt und die gesamte Exekutivgewalt dem zum Generalstaatskommissar ernannten Kahr übertragen. Die „Ordnungszelle Bayern“ endete erst nach dem Hitlerputsch, der Kahr ins Zwielicht rückte, und dem Hitlerprozess von 1924.

Mit Ministerpräsident Heinrich Held (BVP), der Bayern von 1924 bis 1933 regierte, endeten die weitgehend außerparlamentarischen, von Revolutionsräten und Beamtenministern getragenen Eingangsjahre des Freistaats. Das parlamentarische Regierungssystem setzte sich endgültig durch; der Regierungschef kam jetzt aus der Parlamentsmehrheit. Die politischen Extreme – KPD und NSDAP – schieden aus dem politischen Prozess aus. Der Konflikt mit dem Reich, der sowohl die Rätezeit wie die Zeit der „Ordnungszelle“ geprägt hatte, wurde zwar nicht gänzlich beendet, ging aber jetzt in überschaubare Formen über. Es war die Zeit, in der sich auch die Weimarer Republik im Ganzen erholte. Die Rentenmark überwand die Hyperinflation, ein wirtschaftlicher Aufschwung setzte ein. In Bayern speziell wurde 1924 das Konkordat mit der Katholischen Kirche geschlossen – das erste unter den Länderkonkordaten der Weimarer Republik –, und damit befestigte sich ein Stück Tradition.

Die antidemokratischen Kräfte im Land verschwanden nicht, aber sie wurden ein Stück weit zurückgedrängt. Hitler und die NSDAP hatten es unter Heinrich Held in Bayern schwerer als unter Gustav von Kahr. Im März 1925 erließ der bayerische Innenminister Karl Stützel gegen Hitler ein Redeverbot – ein Grund für diesen, die Entscheidung anderswo, in Thüringen und Braunschweig, zu suchen. Der geplanten Einbürgerung Hitlers stellte sich die Regierung des Freistaats entgegen; seine geplante Ausweisung scheiterte freilich, weil sich Österreich weigerte, Hitler einreisen zu lassen. Er wurde bis 1932 als Staatenloser geführt.

Als verhängnisvoll sollte sich die Entscheidung der BVP erweisen, bei der Reichspräsidentenwahl von 1925 für Hindenburg – gegen den Zentrumsvorsitzenden Marx – zu stimmen. Der Vorgang zeigt, wie sehr sich auch in der Bayerischen Volkspartei inzwischen die Gewichte nach rechts verschoben hatten. So war die Partei auf die Dauer zur Gegenwehr gegen den seit der Wirtschaftskrise von 1929 neuerlich erstarkenden Nationalsozialismus zu schwach, zumal sich die als Koalitionspartnerin wichtige Deutschnationale Volkspartei gegenüber der NS-Bewegung höchst nachgiebig verhielt.

 

Bayern im Zeichen Hitlers

 

1933 bis 1945 stand Bayern im Zeichen Hitlers. Er hatte in München in den zwanziger Jahren seine Agitation begonnen, hatte 1923 versucht, einen politischen Umsturz herbeizuführen, war zu Festungshaft verurteilt, aber bald vorzeitig entlassen worden, weitete seine Agitation auf ganz Deutschland aus, behielt aber in München seine Wohnung bei, auch in der späteren Zeit als Reichskanzler. 1923 war der Freistaat noch stark genug, Hitler und seinen Anhang an der Feldherrnhalle niederzuschlagen und ihren Putschversuch zu vereiteln – Kultusminister Franz Matt stellte als einziges frei gebliebenes Regierungsmitglied die Weichen. 1933 reichte die Kraft zu einer solchen Gegenwehr nicht mehr aus.

Es wäre freilich falsch, München und Bayern mit dem Nationalsozialismus einfach zu identifizieren, wie es manchmal unter Titeln wie „Hitlers München“, „Hitlers Bayern“ geschieht. Ich zitiere Hans Günter Hockerts: „Die ‚Marke NSDAP’ wurde in München geprägt, doch die Nachfrage kam aus ganz Deutschland. Erst diese Anschlussfähigkeit, die den Blick auf die Besonderheiten des Ursprungsorts relativiert, hat die dynamische Entwicklung der NSDAP und ihren Durchbruch zur Macht ermöglicht. Die reichsweite Wählerbewegung trug den NS-Parteichef bis an die Schwelle zur Macht, und eine nationale Elitenkoalition hob ihn über diese Schwelle – wenn auch in der irrigen Vorstellung, ihn am kurzen Zügel halten zu können. Von Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt, gelang es Hitler überraschend schnell, seine konservativ-deutschnationalen Partner in der Regierungskoalition zu überspielen und den eigenen Führungsanspruch durchzusetzen. Zum Prozess der ‚Machtergreifung’ gehörte auch die Absetzung der noch nicht nationalsozialistischen Regierungen in den Ländern. Zuletzt, im März 1933, traf es Bayern. Hatte Hitler im November 1923 von München aus Berlin erobern wollen, so steuerte er die ‚Gleichschaltung’ Bayerns und Münchens nun von Berlin aus.“

Und noch etwas anderes weist darauf hin, dass Bayern auch in der NS-Zeit ein „eigensinniger Freistaat“ geblieben ist. Gewiss hatte die nationalsozialistische Bewegung in diesem Land begonnen, daran war kein Zweifel, aber ebenso früh machten sich hier auch Opposition und Widerstand bemerkbar. Die Studentenbewegung „Weiße Rose“ trat in München hervor und erregte, obwohl sie blutig unterdrückt wurde, weltweites Aufsehen. Der Kreisauer Kreis, ein örtliches Dreieck, umfasste neben Kreisau und Berlin auch München; im Turm hinter der Michaelskirche trafen sich Moltke und die „Kreisauer“ mit den Münchner Jesuiten Augustinus Rösch, Lothar König und Alfred Delp. Claus Graf Schenk von Stauffenberg wohnte, als er das Attentat auf Hitler plante, in Bamberg. (Geboren wurde er wie seine Brüder Berthold und Alexander im bayerisch-schwäbischen Jettingen.) Und neben diesen bekannten und berühmten Einzelfällen des aktiven Widerstands gab es auch ein verbreitetes Oppositionsverhalten, ein Nicht-Mittun und Sich-Verweigern, das bis zu offenem Widerspruch und passivem Widerstand reichte. Es war den NS-Instanzen bekannt und wurde früh verfolgt – begann doch die Geschichte der gewaltsamen Unterdrückung oppositioneller Bewegungen durch „Schutzhaft“ mit dem Lager in Dachau, dem ersten Konzentrationslager des NS-Staates überhaupt.

Man darf auch darauf hinweisen, dass die demokratischen Parteien in Bayern in den letzten freien Landtagswahlen im April 1932 ihre absolute Mehrheit verteidigen konnten, während in Preußen und bei den Reichstagswahlen desselben Jahres die Verfassungsgegner – NSDAP und KPD – zusammen die absolute Mehrheit gewannen. Um noch einmal Hans Günter Hockerts zu zitieren: „Der braune Wählerkern war in Bayerns Metropole früh groß, dann aber weniger ausdehnungsfähig als anderswo.“

Das ändert nichts daran, dass Bayern in den zwölf Jahren von der Macht und der Willkür des Diktators bedingungslos abhängig war, dass es in dieser Zeit die letzten Reste seiner Eigenstaatlichkeit verlor. Weißblau zu flaggen wurde verboten. Das Kabinett Held wich im März 1933 der Gewalt. München blieb zwar im Dritten Reich die Schaltstelle des NS-Parteiapparats, es entwickelte sich mit Ausstellungen im „Haus der Kunst“ zum Kunstzentrum des Regimes, und vor allem: es wurde mit den jährlichen Umzügen des 9. November zwischen Siegestor und Feldherrnhalle zum Gedenken an die Gefallenen der Bewegung eine Weihestätte des nationalsozialistischen Kults. Nürnberg als Frankenmetropole wurde zur Stadt der Reichsparteitage. Doch das Machtgewicht verlagerte sich von Bayern rasch nach Berlin, und die Verleihung des Titels „Hauptstadt der Bewegung“ an München im Jahr 1936 war, wie wir aus Goebbels’ hämischen Anmerkungen wissen, weniger eine Erhöhung und Auszeichnung als vielmehr ein Trostpreis für die entgangene Zentralität.

Die Menschen in Bayern teilten mit Hitler die Erfolge und Siege, aber auch die Niederlagen und Zerstörungen. Als „Volksgenossen“ ohne eigenständige Rechte, vom Regime zeitweilig profitierend, aber langfristig geschädigt, im Krieg von außen wie von innen gefährdet und am Leben bedroht, erreichten sie das Ende des „Dritten Reiches“ in mannigfachen Situationen: als Zivilisten, als Soldaten, als Kriegsgefangene, als Bombenopfer, als Verfolgte, als Flüchtlinge, als „displaced persons“. Und auf allen, die überlebten, lastete, soweit sie Deutsche waren, das Andenken entsetzlicher, im deutschen Namen begangener Verbrechen.

Dennoch: es gab nach so viel Abbruch und Zerstörung wider Erwarten doch ein Weiterleben. 1945 war nicht das Ende Deutschlands, auch nicht das Ende des Freistaats Bayern. Und damit komme ich zum zweiten, wesentlich kürzeren Teil meiner Darstellung, zu der Zeit, die nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt und in der wir bis heute leben.

 

Der Freistaat nach 1945 - die Wendung nach vorn

 

Nur die Älteren unter uns werden sich noch an das Leben in der ersten Nachkriegszeit erinnern. Der Kontrollrat der Alliierten hatte die Regierungsgewalt in Deutschland übernommen. Das Land wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt – ein kleingewordenes Land, in das Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen strömten. Das Leben in der ersten Nachkriegszeit war bedrückend: Ruinen, Gedränge in zertrümmerten Häusern und Städten, Trauer um tote und Sorge um vermisste Angehörige, der Kampf um Brot und Wohnung, um die fällige Tagesration. Man war froh, davongekommen zu sein; man atmete auf, weil keine Bomben mehr fielen – viel mehr an Gefühlen gab die Situation nicht her. Kaum nahm man die weltpolitische Bewegung ringsum wahr: die Gründung der Vereinten Nationen, den verheißenen Ewigen Frieden, das Gericht der Sieger in Nürnberg, die angekündigte Verwandlung aller Machtpolitik in Moral – und dann, schon bald, den Katzenjammer des zerfallenden Kriegsbündnisses der Alliierten, versandende Konferenzen, den „Eisernen Vorhang“, der Deutschland teilte, den beginnenden „Kalten Krieg“.

Bayern hatte beim Start in die Nachkriegszeit Nachteile und Vorteile. Der elementare Nachteil: Das an Fläche größte deutsche Land hatte plötzlich die längste Außengrenze (nach Österreich, der Tschechoslowakei, später auch nach der DDR hin), und es hatte – neben Schleswig-Holstein – die meisten Flüchtlinge und Heimatvertriebenen (rund 2 Millionen) aufzunehmen, dazu 268.000 außerbayerische Evakuierte und 308.000 Ausländer. Ich zitiere Peter Claus Hartmann: „Bei einer Einwohnerzahl von damals 9,34 Millionen handelte es sich um zusammen 26,5 % der Gesamtbevölkerung.“ Dem standen Vorteile gegenüber: der amerikanischen Besatzungszone zugeschlagen, verlor Bayern zwar die Pfalz (und zeitweise Lindau), konnte aber im Übrigen seine geschichtliche Gestalt bewahren, was für sein politisches Fortkommen wichtig war. Und: Das politische Leben auf Kommunal- und Landesebene begann überraschend früh, Parteien wurden neugegründet (die CSU, später die Bayernpartei) oder wieder zugelassen (SPD, KPD, später FDP). Und in der politischen Mannschaft, die Bayern in der Nachkriegszeit regierte, hatten bewährte Nazigegner das Sagen: bei der SPD Wilhelm Hoegner, Waldemar von Knoeringen und Volkmar Gabert, bei der CSU Josef Müller, Fritz Schäffer, Alois Hundhammer und das Mitglied des Kreisauer Kreises Joseph-Ernst Fürst Fugger von Glött.

Die Eigenständigkeit Bayerns blieb auch in der Nachkriegszeit ein Hauptthema zwischen dem Freistaat und der nach 1948 neuerstehenden Bundesrepublik. Nachdem die Einführung eines bayerischen Staatspräsidenten bei den Beratungen zur Verfassung von 1946 ganz knapp, an einer Gegen-Mehrheit von nur einer Stimme, gescheitert war, richteten sich alle Energien der bayerischen Föderalisten – zu denen auch der SPD-Chef Hoegner gehörte – auf eine föderalistische Ausgestaltung des Grundgesetzes. In der entscheidenden Frage der Finanzhoheit der Länder unterlagen die Bayern freilich den zentralistischen Kräften, die in den meisten anderen Ländern und, wie sich zeigte, auch im Bund die Mehrheit hatten. In der Frage einer starken Länderkammer setzten sie sich jedoch auf Grund des Verhandlungsgeschicks von Ministerpräsident Hans Ehard durch, so dass man sagen kann, die Bundesrepublik verdanke die gewichtige Stellung des Bundesrates im Wesentlichen bayerischen Interventionen.

Insgesamt erschien den bayerischen Vertretern im Parlamentarischen Rat der Grundgesetz-Entwurf zu wenig föderalistisch; so „lehnten im Parlamentarischen Rat bei 53 Ja- und 12 Neinstimmen sechs CSU-Abgeordnete das Grundgesetz ab, während zwei aus dem seit jeher reichstreuen evangelischen Franken stammende CSU-Vertreter sowie die in zentralistischer Tradition stehenden SPD- und FDP-Abgeordneten dafür stimmten“ (Hartmann).

Die Ablehnung wiederholte sich im Bayerischen Landtag, wo am 20. Mai 1949 nach einer siebzehnstündigen Debatte unter dem Blitz und Donner eines nächtlichen Gewitters 101 Abgeordnete der CSU und der WAV gegen das Grundgesetz stimmten, während 64 Vertreter der SPD, FDP und zwei fränkische CSU-Abgeordnete dafür votierten. Die Begleitumstände mochten außerbayerischen Beobachtern freilich ungewöhnlich, ja abenteuerlich erscheinen: In seiner Eröffnungsrede ermahnte Landtagspräsident Horlacher die Versammlung zur Ruhe mit dem geradezu valentinesken Satz, man solle die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie sie sind; dann fand der Antrag der Regierung, das Grundgesetz als rechtsverbindlich auch für Bayern anzuerkennen, wenn es von zwei Dritteln der übrigen Länder angenommen werde, eine Mehrheit von 97 Stimmen der CSU bei 70 Enthaltungen (SPD und FPD) und 6 Neinstimmen; und schließlich gelang es Ministerpräsident Hans Ehard, die paradoxe Situation in den Satz zusammenzufassen, man sage in Bayern zwar „Nein zum Grundgesetz, aber Ja zu Deutschland“.

Überhaupt Ehard! (Er ist nicht zu verwechseln mit Ludwig Erhard, der übrigens, damals noch parteilos, als Minister für Handel und Gewerbe dem ersten Kabinett Hoegner angehörte.) Der Jurist aus Bamberg bildete zwischen 1946 und 1962 vier Kabinette, darunter zwei gemeinsam mit der SPD, und entwickelte sich zu einer prägenden Gestalt der CSU-Politik, zeitweilig auch als Vorsitzender der Partei. Dabei verfügte Ehard keineswegs über eine parteipolitische „Macht“, wie man sie Josef Müller und Alois Hundhammer und ihren Anhängern zuschrieb. Aber er war als katholischer Franke, verheiratet mit einer evangelischen Frau, der ideale Mann des Ausgleichs in Situationen, in denen sich in der CSU der Hundhammer- und der Müller-Flügel, die mehr konservativen und die mehr liberalen Kräfte, gegenseitig neutralisierten. So ist mit Ehards Namen nicht nur die Münchner Konferenz von 1947 verbunden, das letzte gesamtdeutsche Treffen der west- und ostdeutschen Ministerpräsidenten (das freilich infolge der vorzeitigen Abreise der Ostzonenrepräsentanten scheiterte), sondern auch der erfolgreiche Kampf für den Bundesrat im Grundgesetz.

Noch einmal gelang es Wilhelm Hoegner, der nach Fritz Schäffer die zweite Nachkriegsregierung in Bayern gebildet hatte, an die Macht zurückzukehren. Dies geschah 1954 in der sogenannten Viererkoalition aus SPD, Bayernpartei, FDP und BHE, einem Bündnis, das die CSU – im Landtag nach wie vor die stärkste Partei – vorübergehend in die Opposition drängte. Die Viererkoalition brach zwar bereits nach knapp drei Jahren auseinander. Aber sie hinterließ zwei wesentliche Spuren: Es gelang in dieser Zeit, das Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik von Göttingen nach München zu verlagern – damit begann „Garching“ als Vorwort der deutschen Atomforschung seinen Lauf. Die Viererkoalition schuf auch die Voraussetzungen für die bis heute bestehende „Akademie für politische Bildung“ in Tutzing – die erste und bislang unter den deutschen Ländern einzige gesetzlich verankerte Institution der politischen Bildung. Beide Initiativen wurden von den nachfolgenden CSU-Kabinetten unter Hanns Seidel und Hans Ehard aufgegriffen und weitergeführt.

Rückblickend staunt man, mit welcher Mühe und gegen welche Widerstände sich das parlamentarische Regierungssystem in Bayern durchgesetzt hat. Die Klammer föderalistischer Überzeugungen genügte offensichtlich nicht, um die erheblichen innerparteilichen Spannungen sowohl innerhalb der CSU wie auch bei der SPD im Zaum zu halten. Schon Ehard war ein Kompromisskandidat zwischen zwei Parteiflügeln gewesen. Später kam Alfons Goppel die gleiche Rolle zu. Gegen eine Alleinherrschaft des parlamentarischen Regierungssystems stand nicht nur ein nachwirkendes „monarchisches“ Gefühl – der Ministerpräsident wurde vor allem als „Landesvater“ gesehen! –, es standen dagegen auch die direkt-demokratischen, plebiszitären Möglichkeiten, die Wilhelm Hoegner höchst effektiv in die Bayerische Verfassung von 1946 eingebaut hatte (wobei ihn Erfahrungen aus seiner Schweizer Emigrationszeit leiteten). Man geht wohl nicht zu weit, wenn man sagt, dass in diesen direkt-demokratischen Elementen auch ein Stück der Revolutionserfahrungen von 1918/19 verarbeitet wurde.

 

Goppel und Strauß

 

Zur wirkungsvollsten Synergie von Regierungs- und Parteiarbeit kam es in der Ära Goppel, die von 1962 bis 1978 dauerte. Kein Ministerpräsident regierte im Freistaat Bayern länger als der aus Reinhausen bei Regensburg stammende Jurist und Verwaltungsmann, dessen Familienwurzeln in das schwäbische Ries und in die Oberpfalz zurückreichten. Vor Goppel amtierten in Bayern vier Ministerpräsidenten: Fritz Schäffer, Wilhelm Hoegner, Hans Ehard und Hanns Seidel; nach ihm sechs: Franz Josef Strauß, Max Streibl, Edmund Stoiber, Günter Beckstein, Horst Seehofer und Markus Söder. Goppels Amtszeit und die seines Nachfolgers Strauß liegen ungefähr in der Mitte – sie gehören nicht mehr zur Epoche des Wiederaufbaus unmittelbar nach dem Krieg; und sie liegen noch vor dem Eintritt Bayerns in das Zeitalter globaler Veränderungen, in dem wir uns heute bewegen.

Die Goppel-Jahre waren Jahre der Modernisierung. Die Gebietsreform, ein Unternehmen von Montgelas’schen Dimensionen, verdankte ihr Gelingen hauptsächlich der Zähigkeit des Innenministers Bruno Merk, wurde aber vom Ministerpräsidenten nachhaltig unterstützt. Das erste Umweltministerium in Deutschland, ja in Europa, wurde gleichfalls in seiner Amtszeit geschaffen und mit Max Streibl besetzt (1970). Aber auch die Wirtschafts-, Verkehrs- und Energiepolitik unter den Ministern Otto Schedl und Anton Jaumann wurde zu einem Markenzeichen: Erdgas und Ölpipelines einschließlich moderner Raffinerien brachten bezahlbare Energie ins Land; die Wirtschaft nutzte die Chance, jenseits der alten Monostrukturen den Anschluss an das neue Zeitalter der Kunststoffe, des Leichtmetalls, der Kernenergie, der Elektronik, der Luft- und Raumfahrt zu gewinnen – und zwar nicht nur in den Ballungsräumen, sondern mehr noch auf dem Land. Der Rückstand beim Bruttoinlandsprodukt reduzierte sich in der Ära Goppel von 11% auf 3%. Bayern verbesserte seine revierferne Lage zwischen den Alpen und einer 775 km langen, damals noch rundum verriegelten Ostgrenze durch den Ausbau überregionaler Verkehrsanbindungen – vom Ausbau des Rhein-Donau-Kanals und des Straßennetzes bis zur Grundsatzentscheidung für den neuen Münchner Flughafen. Das Land wurde zu einem attraktiven Industriestandort und auf Jahrzehnte hin zum Wachstumsland Nummer 1 der Bundesrepublik.

Die wirtschaftliche Dynamisierung schuf auch die Voraussetzungen für einen umfassenden Schul- und Hochschulausbau in Bayern. Das gesamte schulische und außerschulische Bildungswesen wurde in den siebziger Jahren gesetzlich neugestaltet – von den erstmals als Bildungseinrichtungen konzipierten Kindergärten bis zum beruflichen Schulwesen, von den Hochschulen bis zur Erwachsenenbildung und zur Denkmalpflege. Dass Alfons Goppel zugleich der Juristin Mathilde Berghofer-Weichner als erster Frau in der Geschichte Bayerns ein Regierungsamt übertrug – 1974 als Staatssekretärin im Kultusministerium – rundet das Bild.

Goppel und Strauß waren sehr verschiedene Menschen, ergänzten sich aber trefflich. Strauß der Mächtige, Goppel der Bedächtige, Strauß der Voranstürmende, Goppel der im Hintergrund Sichernde und Bewahrende – diese Rollenteilung kam in der Öffentlichkeit gut an. Mit dieser Doppelspitze erstarkte die CSU in ganz Bayern und erklomm Höhen der Zustimmung durch die Wähler, die sie später nie wieder erreichte. In der Landtagswahl 1974 erhielt die Partei 62,1% der Stimmen – der Gipfelpunkt ihrer Popularität überhaupt.

Am 7. November 1978 bildete Franz Josef Strauß als Bayerischer Ministerpräsident sein erstes Kabinett. Die Rolle war neu für ihn: er war ja immer Bundespolitiker gewesen, ein Mann der internationalen Politik mit weit ausgreifenden Interessen. Die Jahre der Opposition in Bonn seit 1969 hatte er dazu benutzt, in vielen Weltreisen fast alle Potentaten dieser Erde persönlich kennenzulernen. Seine Personenkenntnis war stupend, und an Kenntnis der politischen Geographie rund um den Globus kamen ihm nur wenige gleich.

Und nun plötzlich Landesvater in Bayern? Ich vergesse nicht die Blicke, mit denen Strauß 1978 die niedere Decke des CSU-Fraktionssaals im Münchner Maximilianeum mit den Augen maß: Das war ihm alles zu klein, zu eng – obgleich er die Landesrolle nach einer Zeit des Übergangs und der Einübung mit seiner massigen Gestalt prall ausfüllte.

Am Kabinettstisch änderte sich nun der Stil. Während Goppel bei Sitzungen nicht viel gesprochen hatte und gleich zur Sache gekommen war, um dann den zuständigen Ministern das Wort zu überlassen, leitete Strauß die Sitzungen meist mit längeren Ausführungen zur politischen Lage ein, die sich keineswegs auf die Landes- und Bundespolitik beschränkten. Internationale Politik, strategisch-technologische Fragen, Weltwirtschaftsprobleme, geopolitische Analysen standen im Vordergrund. In die sachlichen Bemerkungen streute der Ministerpräsident Persönliches ein: Erinnerungen und Zitate, Anekdoten und Porträts. Das war meist spannend, oft amüsant, ich habe von diesen Ausführungen – manchmal richtigen kleinen Kollegs – viel gelernt. Aber nach einiger Zeit sah man, wenn man an die lange Tagesordnung dachte, doch besorgt auf die große eckige Uhr in der Mitte des Kabinettstischs.

Strauß blieb bis zuletzt in München, obwohl er 1980 noch einmal – vergeblich – als Kanzlerkandidat gegen Helmut Schmidt antrat. Er hatte in der deutschen Nachkriegspolitik vieles, aber nicht alles erreicht – nicht das, was er sich wohl von Anfang an vorgenommen hatte. Was wäre wohl geschehen, „wär er hinaufgelangt“, hätte er den Weg an die Spitze der Bundespolitik gefunden? Das bleibt Gegenstand von Spekulationen. Ein Hauch von Vergeblichkeit umgibt diesen hochbegabten, vitalen, vor Energie fast berstenden Mann, der mir immer als eine urbayerische Figur erschienen ist und dem doch eines ganz fremd war: die große bayerische Ruhe.

Im Innern Bayerns haben die drei Kabinette Strauß, aufs Ganze gesehen, weniger bewegt als die vier Kabinette Goppel. Der Main-Donau-Kanal blieb Fragment, zumindest zu Lebzeiten von Strauß; die in Wackersdorf geplante atomare Wiederaufarbeitungsanlage wurde unter seinem Nachfolger Max Streibl wieder aufgegeben. Nur der Flughafen München und die Deutsche Airbus GmbH kamen voran und erinnern bis heute an die Ära Strauß. Es lag nicht nur an der kürzeren Dauer der Regierungszeit, es lag auch daran, dass unter Strauß viele Initiativen erstarrten, dass die Risikobereitschaft vieler Einzelner abnahm. Die kollegiale Ermunterung und Motivation, die Nähe zur Verwaltung – Goppels große Stärken – fehlten ihm. An ihre Stelle trat ein System der Kontrollen durch die Staatskanzlei – was die Initiative und Unternehmungslust der Ressorts nicht förderte. So wird man Strauß ohne Frage als einen bedeutenden Parteichef – den wohl bedeutendsten der CSU – betrachten können, er hat die Partei wie kein anderer geprägt. Er legte auch großen Wert darauf, mit europäischen Spitzenpolitikern von gleich auf gleich zu verkehren: Einmal zeigte er mir stolz an seinem Schreibtisch Briefe an Margaret Thatcher und an Valéry Giscard d’Estaing, die er in seiner kalligraphischen Schrift von Hand geschrieben hatte. In der bayerischen Verwaltung und Politik dagegen hat er schwächere Spuren hinterlassen als sein Vorgänger. Und in der Verwaltung stießen seine heftigen, aber meist punktuellen Ausbrüche oft auf den Widerstand der Beamtenschaft, die an Nachhaltigkeit gewöhnt war; unter ihr ging der Spruch um: „Kontinuität hält der nicht aus!“

Bayern machte unter den Nachfolgern von Strauß wirtschaftlich und politisch weitere Fortschritte. In Max Streibls kurzer Amtszeit überschritt der Freistaat im Finanzausgleich erstmals die Schwelle vom Nehmer- zum Geberland und hat diese Position bis heute gehalten, ja ausgebaut. Bayern ist heute das größte Geberland der Bundesrepublik. Vor allem die Bundeshauptstadt Berlin, durch mangelhafte Verwaltung hoch verschuldet, hängt seit vielen Jahren am bayerischen Tropf.

Unter Edmund Stoiber kam das Land durch einen rigorosen Sparkurs, aber auch durch eine High-Tech-Offensive der Schuldenfreiheit nahe; ein Verdienst war es auch, dass der Ministerpräsident versuchte, gemeinsam mit dem SPD-Chef Müntefering den Föderalismus zu reformieren und „wetterfest“ zu machen. (Heute muss man um diesen Gewinn schon wieder fürchten!) In den Landtagswahlen 1994 und 1998 behauptete die CSU ihre absolute Mehrheit in Bayern; 2003 erreichte sie mit 57, 3% das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte. Edmund Stoiber gelang es auch, was bis dahin nur Franz Josef Strauß geglückt war, durch ein Votum von CSU und CDU als Kanzlerkandidat nominiert zu werden. Der Sprung in die Bundespolitik gelang dem quirligen Oberbayern oberpfälzischer Herkunft freilich nicht, und auf dem Höhepunkt der Macht warf ihn ein innerparteilicher Aufstand plötzlich nieder.

Günter Beckstein, Franke, engagierter Protestant und bundesweit renommierter bayerischer Innenminister, trat nach einigen Turbulenzen seine Nachfolge an. Er behielt das Amt jedoch nur ein knappes Jahr, da die CSU in den Landtagswahlen von 2008 jäh abstürzte und ihre seit vier Jahrzehnten bewahrte absolute Mehrheit verlor. Sein Nachfolger Horst Seehofer, wie Strauß aus der Bundespolitik kommend, konnte 2013 die absolute Mehrheit für die CSU zurückerobern, er regierte 10 Jahre lang erfolgreich, wobei sein volatiles Temperament ihm half, sich in der sich ausbreitenden populistischen Strömung zu behaupten. Im Januar dieses Jahres verzichtete er – nicht ganz freiwillig – zugunsten von Markus Söder auf sein Regierungsamt (nicht auf sein Parteiamt) und kehrte als Bundesinnenminister wieder in die Bundespolitik zurück.

 

Ein Blick in die Zukunft

 

Damit sind wir in der unmittelbaren Gegenwart und dürfen abschließend einen Blick in die Zukunft wagen. Wie wird sich der Freistaat in den kommenden Jahren entwickeln? Wird er wieder, wie in den Anfängen (und auch unmittelbar nach 1945), von Koalitionsregierungen geprägt werden? Wird die Alleinregierung der CSU von 1962 bis 2008 und von 2013 bis 2018 eine Ausnahme bleiben? Wie wird sich Bayerns Einfluss auf die anderen Länder, auf den Bund, auf die Europäische Union entwickeln? Welche Rolle wird das Land in Berlin, in Brüssel, in Straßburg spielen? Bayern konnte nach 1918 nur einen kleinen Teil seiner bei der Reichsgründung errungenen oder bewahrten Sonderrechte in die demokratische Ära mitnehmen – im Wesentlichen seine Gesandtschaft beim Vatikan, die bis 1934 bestand. Es hat aber auch ohne ausdrücklich eingeräumte Sonderrechte in der Reichspolitik – und später in der Bundespolitik – stetig mitgewirkt und nicht selten eine wichtige Rolle gespielt.

Den Einfluss Bayerns auf die föderalistische Ausgestaltung des Grundgesetzes habe ich schon erwähnt. Die Bundespolitik war seit ihren Anfängen 1949 ohne bayerische Politiker nicht zu denken; ich erwähne aus der CSU nur Fritz Schäffer, Richard Stücklen, Franz Josef Strauß und Theo Waigel; aus der SPD Hans Jochen Vogel; aus der FDP Josef Ertl und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Strauß und Stoiber haben für das Amt des Bundeskanzlers kandidiert. Goppel wurde als möglicher Bundespräsident genannt. Waigel spielte eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der Wiedervereinigung und bei der Einführung der gemeinsamen Währung in der EU. Es gab auch Ansätze einer bayerischen Außenpolitik: Früh war Bayern in Straßburg und in Brüssel präsent; mit der „Arge Alp“ (der „Arbeitsgemeinschaft der Alpenländer“) entwickelte sich unter Goppel eine Form kultureller Zusammenarbeit mit den Nachbarn im Süden und Osten, die Schule machte. Max Streibl setzte sich für ein „Europa der Regionen“ ein. Auch Strauß engagierte sich in zahlreichen Reden – eine in Ottobeuren wurde berühmt – für Europa und die europäische Integration. Von ihm stammt die klassische Formel: „Bayern ist unsere Heimat, Deutschland unser Vaterland, Europa unsere Zukunft.“

Diese Losung, so meine ich, muss sich in den nächsten Jahren in Bayern neu bewähren. Denn es hat in der bayerischen Nachkriegspolitik auch Brüche und Verwerfungen gegeben, die ich nicht verschweigen will – im Verhältnis zum Bund, aber auch im Verhältnis der CSU zur Schwesterpartei CDU. Ein erster Bruch war der Beschluss von Kreuth 1976, der die Einheit der Union in Frage stellte. Er wurde glücklicherweise in kurzer Zeit überwunden. Tiefere Einschnitte haben wir seit 2015 in der Flüchtlingspolitik erlebt – mit Zuspitzungen in jüngster Zeit, die sogar die Regierungsarbeit in Berlin und die Existenz der großen Koalition bedrohten. In all diesen Bereichen müssen wir wieder stabile Grundsätze entwickeln, Beständigkeit zeigen und persönliche Animositäten zurückstellen. Es gilt die Treue zu den Anfängen zurückgewinnen, ohne welche die Bewältigung der Zukunft nicht gelingen wird.

100 Jahre Freistaat Bayern. Ich sprach von einem Auf und Ab, einer wirbelförmigen, janusköpfigen Geschichte. Ich wiederhole es: Im 20. Jahrhundert hat Bayern zunächst nach rückwärts geblickt, es hatte in der ersten Nachkriegszeit (nach 1918) Mühe, sich von der Vergangenheit loszureißen. Dann hat es sich, nach 1945, aus tiefen Trümmern kräftig nach vorn bewegt. Heute ist es ein angesehenes, wirtschaftlich starkes, politisch und kulturell anziehendes Land. Jeder, der in Bayern lebt, und viele Deutsche außerhalb, wünschen sich, dass es so bleiben möge. Und so wollen auch wir an diesem Abend den Freistaat Bayern, dieses kräftige Stück Deutschland, hochleben lassen. Unser schönes Land, unsere Heimat möge auch in den nächsten hundert Jahren mit der Tatkraft aller Bürger wachsen, blühen und gedeihen – das walte Gott!

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