Bionik, das Lernen von der belebten Natur für die Technik, gibt es schon lange. Jüngste Erkenntnisse in der Nanotechnologie haben für einen Boom bionischer Entwicklungen gesorgt und stellen bionische Materialien, Strukturen und Prozesse zur Verfügung, die, wenn sie klug eingesetzt werden, gute und nachhaltige Technologien begründen und weiterbringen können.
Anhand von Beispielen schöner und zugleich faszinierender bionischer Entwicklungen und der sie inspirierenden Organismen zeige ich das Potential des bionischen Zugangs auf und zeichne einen spannenden gemeinsamen Weg von Experten und Expertinnen aus der Biologie und Technik. Grundvoraussetzungen hierfür sind die Freude am Neuen und Unbekannten, Lernbereitschaft und die Liebe zur belebten Natur und zu den Menschen.
Bionics
Das Wort Bionik setzt sich aus dem Beginn des Wortes „Biologie“ und dem Ende des Wortes „Technik“ zusammen. In der Bionik geht es darum, von der belebten Natur (Materialien, Strukturen und Prozesse in Organismen oder Systemen von Organismen) für menschliche Anwendungen zu lernen. Bekannte Beispiele für bionische Erfindungen sind der Klettverschluss, der Lotuseffekt bei Fassadenfarben, und neuartige Klebstoffe inspiriert von Geckofüßen.
Das Thema Bionik kommt in jedem technischen Bereich vor – manchmal auf den ersten Blick ersichtlich, manchmal etwas versteckt. Ob in der Mathematik, mit der man Wachstumsstrukturen und -folgen inzwischen sehr gut nachbilden kann und so viel über Optimierung lernt, in der Physik (Strukturfarben, materialunabhängige Klebstoffe), in der Medizin (selbstregulierende Systeme, Sinne) und in der Chemie (pharmazeutische Wirkstoffe) bis hin zu den Ingenieurswissenschaften (Statik, Dimensionierung und Werkstoffe). Die belebte Natur ist ja mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie wir, daher kann man auch überall von ihr lernen (Gebeshuber, 2016).
Viele Menschen sehen die Bionik als Schatzkiste und verstehen unter diesem Forschungsgebiet vor allem die Suche nach kommerziell erfolgreichen Lösungen. Das hat natürlich seine Berechtigung, aber wir dürfen dabei das große Ganze nicht aus den Augen verlieren. Wir als Zivilisation leben über unsere Verhältnisse und unsere Industrie ist keinesfalls stubenrein. Wenn wir die Natur ansehen, können wir auch hier viel lernen. Die Produkte der Natur sind mit dem, was gerade verfügbar ist, herzustellen und gliedern sich nach deren Nutzung wieder vollständig in den Kreislauf der Natur ein. Das ist faszinierend und ich bin mir sicher, dass die Industrie und auch die Gesellschaft der Zukunft eine ganz andere Produktions- und Produktphilosophie verfolgen werden. ‚Mehr Qualität als Quantität‘ und ‚Sinnhaftigkeit statt Schönheit‘, sowie ‚Gutes Design löst Probleme, schlechtes Design schafft sie‘ sind hier schon einmal erste Ansätze.
Besonderes Zukunftspotenzial sehe ich in den Menschen selbst. Eine bessere Zukunft für alle wird nur dann möglich sein, wenn wir die Menschen dazu bringen anders zu denken. Und dabei geht es in erster Linie weniger um Politik oder Umweltschutz, sondern um jeden einzelnen Menschen. Wir werden die Gemeinschaft von Grund auf dazu bringen müssen, zu definieren was wir wirklich wollen. Denn das liegt ja eigentlich auf der Hand – Sicherheit, individuelles Glück und eine gute Zukunft für unsere Kinder. Nur der Weg dorthin ist steinig. Es wird langsam Zeit, dass wir uns dabei nicht gegenseitig im Weg stehen.
In der Bionik wird die belebte Natur eher als inspirierender Partner denn als ausnutzbare Ressource gesehen. Es hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass Effizienzsteigerungen auf etablierten Technikpfaden nicht ausreichen, um die zahlreichen Umweltprobleme zu lösen (Arnim von Gleich, 2006).
Auch sind unsere derzeitigen technischen Lösungen auf meist genau definierte Bedingungen ausgelegt. Unter veränderten Randbedingungen versagen derzeitige technische Lösungen oft (Arnim von Gleich, 2006). Bionische Lösungen wären aber in der Lage, auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren, sie hätte vielleicht sogar so etwas wie ein Immunsystem und auch die Fähigkeit, kleine Fehler zu beheben und kleinere Wunden zu heilen.
Ein wichtiger Aspekt erfolgreicher Bionik, der für ihren künftigen Erfolg von grundlegender Bedeutung sein dürfte, ist ressourcenbezogen. Auf verschiedenen Ebenen stellt die Ressourcenknappheit eine große Herausforderung für die derzeitige Industrie dar, ganz besonders in rohstoffarmen Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz.
Es besteht die Gefahr, dass die Abhängigkeit der Industrieländer von knappen Ressourcen aus Ländern, in denen die Menschen und/oder die Natur nicht anständig behandelt werden, notwendige Maßnahmen auf humanitärer, ökologischer und politischer Ebene aufgrund der industriellen Abhängigkeiten beeinträchtigen.
Knappheit ist ein Konzept, das in der Welt der Industrie derzeit weit verbreitet ist. Auf der anderen Seite – in der belebten Natur – wachsen starke und große Pflanzen und Tiere in allen möglichen Gegenden der Welt, ohne weltumspannende Materialtransporte.
Und zwar deswegen, weil Tiere und Pflanzen über Jahrmillionen einen völlig anderen Umgang mit Mangel, mit Rohstoffen entwickelt haben: Organismen verwenden lokale Materialien, und gewünschte Funktionen werden oft mit wenigen verschiedenen chemischen Elementen und einer begrenzten Anzahl von chemischen Verbindungen realisiert. Diese sind dann aber sehr oft raffiniert und intelligent strukturiert, und ganz wenig chemisch modifiziert. Im Gegensatz zu technischen Systemen, in denen eine breite Palette chemischer Elemente aus der ganzen Welt verwendet wird, um bestimmte Funktionen zu erreichen, arbeiten Organismen mit einer begrenzten Anzahl von Basismaterialien (Gebeshuber 2022). Ein technisch hochrelevanter Bereich, in dem ein solcher strukturbasierter Ansatz bereits realisiert wird, ist die Entwicklung mikroelektromechanischer Systeme (MEMS) in der Halbleiterindustrie. In diesem Bereich kann aus produktionstechnischen Gründen nur eine Handvoll Materialien verwendet werden (wie z.B. Silizium, Germanium, Galliumarsenid, Diamant), und der Konstrukteur muss mit einem Struktur-statt-Material-Ansatz arbeiten (Gebeshuber et al 2009). Derzeit unterscheidet sich die elementare Zusammensetzung technischer Geräte deutlich von der in Organismen, was zu Ressourcenknappheit und Abhängigkeiten führt (s. rechts).
Notwendige Änderung unseres Denkens
Die Besonderheit der gegenwärtigen Umweltkrise ist das Zusammenkommen mehrerer Faktoren. Zum einen haben die Aktivitäten unserer globalen Gesellschaft ein Niveau erreicht, das alles übersteigt, was unsere so begrenzte Welt verkraften kann. Das Resultat sind Klimaveränderungen und ein immenses Massenaussterben von Arten. Beides wird massive Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Stabilität unserer Biosphäre haben. Dazu kommen noch die Folgen der übermäßigen Ausbeutung von Ressourcen, die sich in einem Mangel an Wasser und anderen Rohstoffen äußern wird. Elementaren menschlichen Faktoren wie essen, trinken und atmen wird in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden.
Zu den äußeren Krisen kommen innere hinzu. Die Elimination vieler Arbeitsplätze durch Automatisierung und Umstellung der Servicekultur fördert zudem die Verarmung weiterer Gesellschaftsschichten. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wird es politischer, wirtschaftlicher und sozialer Reformen bedürfen, die allen Beteiligten weh tun werden. Und hier wird sich viel tun, denn ohne Veränderung des Denkens wird unser System nicht überleben können.
Ökosysteme – Lebenswelten
Es ist den gegenwärtigen Gesellschaften egal welcher Ideologie in der Tat nicht möglich, die großen wirtschaftlichen Mächte zu regulieren. Der enorme Druck der Nachfrage der Massen wird von den Herstellern direkt an die Politik weitergegeben; wo möglich entziehen sich die Konzerne der direkten menschlichen Einflussnahme. Dies vor allem, weil deren Ökosystem von unserem größtenteils entkoppelt ist. Dort zählen nicht saubere Luft, genug Lebensraum oder individuelle Freiheit, sondern vor allem Geld, Ressourcen und Marktmacht. Eine Einflussnahme wird also erst möglich werden, wenn Faktoren, die für unser Überleben eine Rolle spielen, einen direkten Einfluss auf den Erfolg von großen Firmen nehmen. Und das wird kommen, denn gerade während großer Krisen (Coronakrise, Klimakrise, Krieg in der Ukraine) ist die Reformfähigkeit unseres Systems durchaus gegeben. Zudem macht ein Fokus der Unternehmen auf ein Überleben der eigenen Kunden ebenfalls Sinn.
Natur: Hier & hinter dem Horizont
Der Umgang mit der Natur ist mir ein wichtiges Anliegen. Die Katastrophe für die Natur ist der Erfolg der menschlichen Zivilisation. Aus Jägern und Sammlern, die mit der Natur im Einklang lebten, ist eine industrielle Dampfwalze geworden, die in breiter Front auf die letzten verbliebenen Habitate vorrückt. Dabei sieht bei uns alles so schön aus und die Wiesen und Wälder gedeihen; das Problem spielt sich aber hinter dem Horizont ab. Die Kombination aus Raubbau, Umweltverschmutzung und der Errichtung von menschlicher Infrastruktur zerstören unsere Umwelt nachhaltig. Es geht also nicht wirklich um den ‚Umgang mit der Natur‘ sondern darum, eine unberührte Natur neben der menschlichen Zivilisation zuzulassen. Und hier gibt es gewaltigen Nachholbedarf. Es wird notwendig werden, genau zu definieren, wohin unsere gierigen Kohorten marschieren dürfen und wohin nicht. Die Vielfalt der Natur, die Biodiversität, ist für das Überleben unserer voneinander abhängigen belebten Natur überlebenswichtig. Wir lachen so gerne über jemanden, der den Ast absägt, auf dem er sitzt. Aber genau das ist bei uns
im Moment der Fall.
Der Mensch der Zukunft
Der Mensch der Zukunft wird selbstverantwortlicher werden und Dinge tun, weil er sie tun will und nicht, weil er sie tun muss. Dies führt zu einer neuen Form der Freiheit mit allen ihren Vor- und Nachteilen. In meinem neuen Buch Eine kurze Geschichte der Zukunft – Und wie wir sie weiterschreiben (Gebeshuber, 2020) drücke ich dies folgendermaßen aus: „Geistige Erneuerung findet vor allem dadurch statt, dass die Menschen bereit sind, anderen zuzuhören, weil ihnen die gegenwärtige Situation wenig Perspektive oder Hoffnung bietet. So wandelte sich die Welt schon viele Male.“
Zeit für eine neue Wirtschaft
Immer mehr Wirtschaftstreibende erkennen heute, dass die großen Probleme der Menschheit nicht nur mit einigen neuen Methoden oder Formeln gelöst werden können. Diese Zeit ist vorbei. Der Mittelstand hat vielleicht mehr Fachwissen in einem kleinen Bereich; deswegen hören die einzelnen aber nicht auf, Menschen zu sein. Und gerade dieses Menschsein erweist sich immer mehr als ein Kompass, um in die richtige Richtung zu gehen. Ich habe in diesem Zusammenhang angefangen, den Menschen zuzuhören und festgestellt, dass man von jedem Menschen auf der Welt etwas lernen kann. Und das ist die Zukunft – den Weg gemeinsam zu gehen.
Das Ziel dieser neuen Wirtschaft ist eine Erweiterung unserer Verantwortung über den unmittelbaren Markterfolg hinaus, in Richtung Ressourceneffizienz, Kreislaufwirtschaft und von nachhaltigen und umweltfreundlichen Produktionsprozessen.
Die Technik und der Mensch
Technologie selbst ist niemals das Problem, sondern deren Anwendung. Man kann aus dem Verständnis der atomaren Prozesse hilfreiche medizinische Apparaturen oder auch schreckliche Bomben bauen. Es ist immer eine Frage der Menschen dahinter bzw. deren Einstellung. Im Falle der Corona-Pandemie hat die Wissenschaft in Zusammenarbeit mit der Pharma-Industrie eine gesellschaftliche Katastrophe abgewendet. Wir erleben heute teilweise Kooperationen, die es in dieser Form zuvor nicht gab. Rückblickend wird die Corona-Krise wohl weniger schlimm wahrgenommen werden als von den Zeitgenossen und den Anstoß dafür geben, einige globale gesellschaftliche Probleme, wie die Finanzierung unserer Sozialsysteme, in Angriff zu nehmen. Corona ist also nicht nur eine Katastrophe, sondern auch ein Weckruf. Sollte dies zutreffen, ist es durchaus angebracht langfristig optimistisch zu sein.
Nach meinem Besuch in München hat mir Akademiestudienleiter Michael Zachmeier dankenswerterweise das Werk Die Technik und der Mensch von Romano Guardini (1885–1968) zukommen lassen. Ich habe dieses Buch mit Freude gelesen, und möchte diesen Abschnitt mit folgendem Zitat abschließen: „Was wir brauchen, ist nicht weniger Technik, sondern mehr. Richtiger gesagt: eine stärkere, besonnenere, „menschlichere“ Technik. Mehr Wissenschaft, aber geistigere, geformtere. Mehr wirtschaftliche und politische Energie, aber erwachsener, reifer, verantwortungsbewußter, die das Einzelne in allen Zusammenhängen sieht, denen es zugehört.“ (Guardini, 1990, 1. Auflage 1927)
Outlook
Um zu einer gelebten Bionik zu kommen, bedarf es auch eines klaren politischen Willens. Es geht nicht nur darum, die Forschung in dieser Richtung zu intensivieren, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung dieses Bereichs zu steigern.
Der große Vorteil der Zukunft wird sein, dass es nicht nur eine Welt mit Gewinnern und Verlierern geben wird. Jede und jeder wird in der Zukunft wohl einen Platz in den imaginären Welten der virtuellen Systeme finden. Das wird natürlich nur ein Werkzeug sein und den Menschen zeigen, dass man Glück nur für sich selbst definieren kann und dies niemals anderen oder gesellschaftlichen Normen überlassen sollte. So gesehen sind die Computer von morgen nicht nur technische Fesseln, sondern auch Schlüssel zu einer neuen Art von Freiheit. Aber es liegt wie immer an uns, wie wir die Werkzeuge, die uns gegeben werden, nutzen. Und dazu bedarf es des neuen Denkens, eines neuen Sonnenaufgangs für die Menschheit.