Entstehungsgeschichte
Nicht selten hat Johannes Brahms eigene Erlebnisse bzw. Vorgänge aus seinem Umfeld als Kompositionsimpulse genutzt. Für sein Requiem sind besonders dichte und persönlich tiefgreifende biographische Verflechtungen zu konstatieren, welche auch die lange, über zehn Jahre reichende Entstehungsgeschichte verstehen helfen.
Ein Motivkomplex hat mit der Freundschaft zwischen Johannes Brahms und dem Ehepaar Robert und Clara Schumann zu tun. Robert Schumann war der erste, der durch seine positiven, teils enthusiastischen Rezensionen in der Neuen Zeitschrift für Musik den Komponisten Brahms nachhaltig gefördert hatte und 1853 vom damals 20-jährigen Brahms – geradezu prophetisch – schrieb, dieser sei, sobald er sich dem großbesetzten Chor und Orchester zuwende, dazu berufen, „den höchsten Geist der Zeit auszusprechen“; dabei stünden dem Publikum „noch wunderbare Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor.“ Die beiden fühlten sich durchaus seelenverwandt und in musikalischer Hinsicht auf ähnlichen Wegen.
Sehr bald aber zeigte sich die schwere, letztlich unheilbare Erkrankung Schumanns, die 1854 zu einem Selbstmordversuch und 1856 bei völliger geistiger Umnachtung des Freundes zum Tod im Nervenkrankenhaus zu Endenich am Rhein führte. Die Beziehung zu Clara wiederum ist für Brahms lebenslang von größter Bedeutung gewesen. Der Kummer der verehrten Freundin über den Tod ihres Mannes setzte Brahms ebenso zu wie seine unerwiderte Liebe zu ihr, die in Brahms ein bedenkliches Werther-Gefühl auslöste.
Die Keimzelle des Requiems ist die Textierung eines ursprünglich auf einer Klaviersonate fußenden Satzes, der auf das leidvolle Sterben Schumanns Bezug nimmt: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“ (1Petr 1,24). Anfang der 1860er Jahre stellt der Komponist dann den eigentlichen Eröffnungssatz des gesamten Werkes voran: „Selig sind, die da Leid tragen“ (Mt 5,4). Über Details zu den beiden Sätzen (Tonart, Textwahl, musikalische Besonderheiten) informiert Brahms Clara Schumann im April 1865 und übersendet ihr zugleich den Klavierauszug des neu entstandenen IV. Satzes der Endfassung („Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth“ (Ps 84,2).
Sicherlich war der plötzliche Tod seiner Mutter am 2. Februar 1865 ein wichtiger Antrieb, das im Entstehen begriffene Requiem zielstrebig zu vollenden. Der III. Satz „Herr, lehre doch mich“ (Ps 39,5) entstand im ersten Halbjahr 1866. Die beiden letzten Sätze VI „Denn wir haben keine bleibende Statt“ (Hebr 13,14) und VII „Selig sind die Toten“ (Offb 14,13) vollendete Brahms laut Eintrag in die Partitur im Sommer desselben Jahres.
Die Uraufführung dieser sechs Sätze unter dem Titel „Ein deutsches Requiem“ erfolgte am Karfreitag, 10. April des Jahres 1868 im Bremer Dom unter Leitung des Komponisten. Der nachkomponierte, bereits im Juni 1868 in die definitive, jetzt siebensätzige Partitur aufgenommene V. Satz „Ihr habt nun Traurigkeit“ (Joh 16,22) darf noch als Nachklang des Verlusts der eigenen Mutter interpretiert werden. Die Uraufführung des nunmehr in der heute bekannten Gestalt vorliegenden Requiems erfolgte am 18. Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus.
Der Text für diesen V. Satz wird – um wenigstens ein Beispiel für die oft stark divergierenden Deutungen hinsichtlich der Textwahl sowie der philosophisch-theologischen Intentionen des Komponisten zu geben – aber auch ganz anders gedeutet: als Einführung einer „überhöhte[n] Quasi-Mutter, inspiriert durch den großen Reproduktionsstich der Sixtinischen Madonna, der in seinem Arbeitszimmer hing“ (Otto Biba). Das scheint doch abwegig, da auf dem Raffael-Gemälde Maria keine Idee den Menschen präsentiert, sondern ihren leibhaftigen Sohn Jesus: wahrer Mensch und wahrer Gott. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der evangelisch getaufte und konfirmierte Johannes Brahms eine urkatholische Raffael-Madonna in seinem Arbeitszimmer vor Augen hatte. Dies führt uns zur Frage nach der theologisch-religiösen Überzeugung des Komponisten und zum Adjektiv „deutsch“ im Titel eines Requiems.
Die vertonten Texte
Johannes Brahms hat die Texte für sein „Deutsches Requiem“ selbst ausgewählt. Das mag verwundern, zeigt aber Brahms als kundigen Bibelleser, in dessen Besitz sich mindestens fünf Bibelausgaben befanden, und der – so eine Aussage von Clara Simrock, der Frau des Brahms-Verlegers – „stets eine Ausgabe des Neuen Testaments bei sich getragen habe“.
Die Kombination der Texte wurde dem Komponisten durch Stellenverweise in seiner Arbeits- Bibel erleichtert, die 1833, in seinem Geburtsjahr gedruckt worden war. So finden sich dort zu den bereits im ersten Satz zitierten Versen des Ps 126,5.6. „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ bzw. „Sie gehen hin und weinen, tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben“ Textverweise auf Mt 5,4 („Selig sind, die da Leid tragen“, Jak 5,7 („So seid nun geduldig“), Jes 35,10 („Die Erlösten des Herrn“), und Johannes Joh 16,22 („Ihr habt nun Traurigkeit“). Alle diese Passagen wurden vertont.
Auffällig ist natürlich zweierlei: Entgegen der traditionellen Requiem-Vertonungen wird der lateinische liturgische Text umgangen. Besonders gravierend aber ist zweitens, dass nirgends in diesem Werk der Name Jesus Christus auftaucht. Dies ist kein Versehen, sondern Absicht, wie im Vorfeld der Uraufführung der sechssätzigen Fassung unmissverständlich der Komponist selbst klarstellt: Der Bremer Domkapellmeister Carl Reinthaler sprach in einem Brief vom 5. Oktober 1867 Brahms darauf an, dass durch das Fehlen eines Hinweises auf den „Erlösungstod des Herrn“ es dem Werk „an christlichem Bewußtein“ mangele, weshalb er den Komponisten um eine entsprechende Ergänzung des Werkes anfragte. Dies hat Brahms in seinem Brief vom 9. Oktober entschieden abgelehnt: Er habe christologisch-soteriologische Aussagen wie Joh 3,16 („Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“) „mit allem Wissen und Willen“ ausgespart. Für den Musikwissenschaftler Jan Brachmann hat Brahms an der Bibel kein Interesse als theologisch-lehramtlicher Quelle oder als Kriterium für dogmatische Fragen, sondern vielmehr hoffe er, darin eine Deutung „des menschlichen Daseins“ schlechthin zu finden.“
Dass aus dem Verzicht auf die Nennung Jesu Christi aber keine antichristliche oder indifferente Haltung seitens des Komponisten abgeleitet werden darf, lässt sich vielfach belegen. So wurde – um dem angesprochenen Mangel christlichen Bewusstseins entgegenzuwirken – die Bremer Uraufführung vom Karfreitag 1868 ergänzt um die „Erbarme dich“-Arie aus der Matthäus-Passion von Bach sowie Chören aus dem „Messias“ von Händel („Siehe, das ist Gottes Lamm“; „Halleluja“) und der Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“. Brahms erhob gegen diese Programmerweiterungen keine Einwände.
Öffentlich wollte Brahms sich nicht zur Frage der Göttlichkeit Jesu äußern. Seine innere Haltung aber spiegelt sich in seiner letzten Komposition, den „Elf Choralvorspielen“ für Orgel op. 122 aus dem Jahr 1896. Hier ist wiederholt von Jesus Christus die Rede: Nr.1 „Mein Jesu, der du mich zum Lustspiel ewiglich dir hast erwählet, sieh wie dein Eigentum des großen Bräutgams Ruhm gern erzählet“. Nr.2 „Herzliebster Jesu“ (darin die 4. Strophe: „Der gute Hirte leidet für die Schafe; die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte, für seine Schafe“). Der doppelt vertonte Choral Nr. 3/11 „O Welt ich muss dich lassen“ (darin die 3. Strophe: „Auf Gott steht mein Vertrauen, sein Antlitz will ich schauen wahrhaft durch Jesum Christ, der für mich gestorben, des Vaters Huld erworben und so mein Mittler worden ist“). Der ebenfalls doppelt vertonte Choral Nr.9/10 „Herzlich tut mich verlangen […] Sehn mich nach ew‘gen Freuden, Jesu, komm nur bald.“
Jesus und der christliche Glaube haben sehr wohl ihren Platz im Leben unseres Komponisten, doch muss man sein zurückhaltendes Bekenntnis auch im zeitgenössischen Zusammenhang verstehen. Hier war Jesus in erster Linie der vollkommene Mensch, der ethische Maßstab, der Verkünder des Gottesreiches. Zudem war eine allgemeine Kultmüdigkeit zu verzeichnen und die oft abgehobene Selbstdarstellung kirchlicher Würdenträger aller christlichen Konfessionen mit erhobenem moralischen Zeigefinger und der Einforderung von Maximaldeutungen christlicher Dogmen nicht gerade einladend.
Die evangelische Theologie hat dagegen durchaus auf die gefühlsmäßige Komponente der Religion gesetzt, wie etwa aus Friedrich Schleiermachers berühmtem Werk Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) erhoben werden kann. Demnach hat Religion ihren Sitz im Gefühl; sie ist näher bestimmt als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. In seiner Weihnachtsfeyer (1806) befasst sich Schleiermacher in dialogisierender Form mit der Gestalt und Person Jesu und kommt zum Ergebnis, „daß nur das durch Jesus selbst angeregte Gefühl ihn aufnehmen kann“. Schließlich entwickelt Schleiermacher in seinem epochemachenden dogmatischen Hauptwerk Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (1822) wiederum das „fromme Selbstbewußstein“ als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ von Gott, welches eine christliche Existenz innerhalb der Kirche ermöglicht, die selbst, vom Heiligen Geist durchwirkt, ein „Gesamtleben“ darstellt und ermöglicht, welches allen dogmatischen Feststellungen vorausliegt.
Ganz in diesem Sinne entspricht das Brahms-Requiem dem damaligen Hörer und trifft den Zeitgeist. Das Deutsche Requiem „versammelt in sich exemplarisch das Gefühl der allgemeinen menschlichen Religiosität, die nicht allein dem strengen liturgischen Rahmen ausweicht, sondern auch die Festlegung auf spezifisch christliche Glaubensinhalte vermeidet. An die Stelle des christlichen Glaubens, der an Gottesdienst und Gemeinde gebunden ist, tritt das persönliche Bekenntnis des Einzelnen, in dem sich ein individuell religiöses Gefühl mit der subjektiven Entscheidung über die Glaubensinhalte paart“, so Christian M. Schmidt. Damit – und insbesondere dem Verzicht auf den christlichen Erlösungsgedanken – vermag das Werk überkonfessionell anzusprechen und auch Juden und Nichtgläubige zu berühren.
Die theologisch relevante Zentralaussage des Brahms-Requiems unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht vom klassischen lateinischen Requiem. Dieses entwirft plastisch die den Verstorbenen drohenden Unheils-Szenarien (Dies irae; das große Zittern vor dem Richterstuhl; die Strafen der Unterwelt; der Rachen des Löwen etc.), die freilich immer kontrapunktisch mit der Bitte um Vergebung und Rettung in den Horizont der Hoffnung gestellt werden. Zudem werden die Lebenden dadurch zu einem gottesfürchtigen Leben ermuntert.
Das Brahms-Requiem hingegen will in erster Linie Trost vermitteln; wohlgemerkt, mit Sätzen aus der Bibel. Thematisiert wird „der Gegensatz zwischen der Endlichkeit des natürlichen Daseins und der Ewigkeit eines Lebens bei Gott“, meint Karl Geiringer. So will diese Trauermusik eine echte Lebenshilfe sein, da sie das menschliche Leben mitsamt Leiden, Sterben und Tod in den größeren Zusammenhang einer natürlichen Gesetzmäßigkeit einbindet, welche die ganze Schöpfung betrifft. Zugleich aber setzt Brahms dieser Vergänglichkeit das unerschütterliche Vertrauen auf das Wort des Schöpfers und Herren entgegen, „das in Ewigkeit bleibt“ (1Petr 1,25a). Und mit Jes 35,10 versichert er, „die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen“. Mit Jak 5,7 mahnt er, geduldig auf das Kommen des Herrn zu warten – wie ein Ackermann auf die köstliche Frucht der Erde wartet. Jeder der 7 Sätze des Requiems schließt in „heiterer Zuversicht oder mit liebreichen Verheißungen“, wie wieder Karl Geiringer ausführt.
Noch einige Bemerkungen dazu, was das „Deutsche“ im Requiem-Titel betrifft. Zunächst kündigt es schlichtweg eine Abkehr vom lateinisch-liturgischen Text an. Sodann wird damit der Text gemäß der Luther-Bibel indiziert. Brahms war durchaus zu deutsch-patriotischen, ja deutsch-nationalen Gefühlen und Äußerungen fähig – so begrüßte er etwa die deutsche Reichsgründung 1870/71, doch hatte er den deutschen „Bruderkrieg“ 1866 zwischen Preußen und dem von Österreich angeführten Deutschen Bund entschieden abgelehnt. Aber als Kampfbegriff wollte Brahms das „Deutsche“ nicht verstanden wissen. Dagegen nahm er im oben erwähnten Brief an den Bremer Domorganisten Stellung: „Was den Text betrifft, will ich bekennen, dass ich recht gern auch das ‚Deutsch‘ fortließe und einfach den ‚Menschen‘ setzte“.
Interessant ist der Vergleich mit Richard Wagner. Dessen Verwendung der deutschen Sprache für seine Opern ist entscheidend getönt durch den damit einhergehenden Rückgriff auf die deutsche Mythologie, die eine spezifisch „Deutsche Kunst“ einführt und Wagners eigenes Oeuvre als Gipfelwerke dieser deutschen Kunst präsentiert. Brahms hingegen greift immer wieder auf überlieferte alte Techniken, Formen und Gattungen (Kontrapunkt, Präludien, Fugen, Chaconne, Motetten, Kantaten) zurück und vertritt das Ideal einer überzeitlichen, überregionalen Kunstwelt. Eine Vermutung bleibt, ob Brahms sogar mit seinem Requiem einen dem 1865 uraufgeführten Tristan Wagners ein eigenes deutsches Vokalwerk entgegenstellen wollte. Kaum ein Zufall dürfte es sein, dass das Uraufführungsjahr des (sechssätzigen) Deutschen Requiems und der Meistersinger von Nürnberg in dasselbe Jahr 1868 fielen.
Die formale Gliederung
Mit dem nachkomponierten V. Satz und der Umstellung zweier Sätze gelang Brahms eine wunderbare formale Einheit und Geschlossenheit des Gesamtwerks. Die meist dreiteiligen Sätze sind paarweise um den wie eine Spiegelachse wirkenden IV. Satz gruppiert.
Die Sätze I und VII haben nicht nur Tonart, Metrum und die Worte „Selig sind (die Leid tragen/die Toten)“ gemeinsam. Vielmehr noch kommt Brahms am Schluss des letzten Satzes wieder zurück auf den Schluss des ersten Satzes (Takt 152 im VII. Satz//Takt 144 im I. Satz), und schließt nicht nur formal den musikalischen Verlauf, sondern stellt gleichsam das gesamte Werk nochmals als Trostmusik vor; : die Toten sind nicht zu bedauern, vielmehr selig zu preisen: „Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben“ (Offb 14,13). So endet dieses Werk mit einem doppelten Trost. Indem Brahms diese letzten Worte mit identischer Musik aus dem I. Satz – dort zu den Worten „Selig sind, die da Leid tragen … denn sie sollen getröstet werden (Mt 5,4) – vertont, stellt er einen Zusammenhang zwischen dem Leid der um die Toten Klagenden einerseits und der positiven Verheißung auf das Leben der Toten her. Nach dem Hören des gesamten Werkes wird damit eine Art Katharsis beim Hörer ausgelöst. Die Trauernden dürfen Trost empfinden, da den Toten das Leben im Herrn verheißen ist. Ein musikalisch wunderbar umgesetztes Glaubenszeugnis.
Eine letzte Bemerkung betrifft den Mittelteil des Schlusssatzes. Hier wird den Toten zugesagt, dass sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach. Erstaunlich ist, dass am Ende dieses Requiems von den guten Werken die Rede ist, die in protestantischer Theologie doch leicht unter dem Stichwort Werkgerechtigkeit problematisiert werden. Wenn Brahms dennoch damit seine Komposition beschließt, ist dies am ehesten verständlich, wenn er bei den guten Werken an die eigene Mutter gedacht hat, die dem in einfachsten, ärmlichen Verhältnissen aufwachsenden Johannes eine sehr gute schulische und musikalische Ausbildung ermöglichte, wofür beide Eltern große persönliche Opfer bringen mussten.
Zu den Sätzen II und VI: Eine gedankliche Verbindung zwischen I. und II. Satz besteht in der auffälligen Hinwendung zu Bildern aus der Agrarwelt: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten…“ im 1. Satz; im 2. Satz hören wir: „…ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde“. Erweitert wird diese Vorstellungswelt um die Metaphern vom menschlichen Leib und Leben als Gras und Blume, die verdorren und abfallen.
Diesen Gedanken der Vergänglichkeit greift der VI. Satz auf: „Denn wir haben hier keine bleibende Statt“. Doch in beiden Sätzen II/VI wird diese Welt der Vergänglichkeit durch den „Herrn“ radikal und endgültig überwunden: „Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit … Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen“ (II. Satz); und: „Herr, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre“; die Begründung dafür lautet: „… und die Toten werden auferstehen unverweslich“ (VI. Satz).
Inhaltlich liegen die Sätze III und V konträr: Hier (III) wird die Nichtigkeit des Lebens konstatiert und die Bitte um Einsicht in das Sterben-Müssen besungen, die erst gegen Ende des Satzes in eine dann allerdings überwältigend positive Gewissheit münden: „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an“. Dort (V) wird die Traurigkeit über den Verlust eines lieben Menschen nur kurz angesprochen, um sofort den Trost parat zu haben: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“. Kurz und bündig fasst Karl Geiringer diese Dialektik zusammen: „3. und 5. stehen endlich zueinander im Verhältnis von Klage und Befreiung“.
Im zentralen IV. Satz wird das Ziel des irdischen Lebens, die endgültige Wohn-Statt, das Resultat des Vertrauens auf das Wort des Herrn und dessen Schöpferkraft konkretisiert: das freudig-selige Verweilen in den lieblichen Wohnungen des Herrn Zebaoth.
Musikalische Parameter der audio-visuellen Realisierung des literarischen Programms
Schon mit dem ersten Takt des I. Satzes schafft die Instrumentation eine für das Gesamtwerk charakteristische und – gerade im Vergleich mit anderen Requiem-Vertonungen – einzigartige Atmosphäre. Der erste Satz verzichtet vollkommen auf Violinen, Oboen, Pauken und Trompeten. Vielmehr entfalten die dreifach geteilten Celli und die geteilten Bratschen einen warmen, tiefen, fast erdigen Klang. Die das gesamte Instrumentalvorspiel unterfangenden gleichmäßig pulsierenden Viertel der Bassgruppe suggerieren von Anfang an eine Art sicheres, zuversichtliches Voranschreiten, also das Gegenteil von „in Trauer erstarren“. Man fühlt sich an die beiden Eröffnungschöre der Bach-Passionen erinnert. Als Kontrast dazu kann der Beginn von Mozarts Requiem gelten: Dort imaginieren die Synkopen der Begleitinstrumente ein mühsam- trauriges und angsterfülltes Gehen vor den Richterstuhl Gottes.
Ikonographische Bedeutung hat das Mitwirken der Harfe, die Brahms mehrfach besetzt haben wollte; in zwei Wiener Aufführungen von 1879 unter seiner Leitung standen vier Instrumente zur Verfügung! Offenkundig sollte der typische Klang der Harfe himmlische Sphären assoziieren. Denken darf man auch an die Begleitung der Psalmen, die das Brahms-Requiem wesentlich prägen, mit Harfen und Saitenspiel in der jüdischen Tradition, wie sie auch die christliche Kunstgeschichte überliefert: David mit der Harfe. Die Schlusstakte des I. sowie VII. Satzes wirken durch die hohen Bläser, das Pizzicato der Streicher und den Einsatz der Harfe hell, leicht und licht, gewissermaßen eine himmlische Atmosphäre evozierend.
Die schon erwähnte Verklammerung der beiden Ecksätze erinnert an die Gepflogenheit der katholischen Messen-Komposition (von Palestrina und Lasso über Haydn und Mozart bis Bruckner), formale Einheit zu gewinnen durch das Wiederaufgreifen des musikalischen Materials aus dem Kyrie im Agnus Dei.
Aus dem Fundus musikalischer Rhetorik bedient sich Brahms schon im 2. Takt. Hier beginnt eine chromatische Abwärtslinie („passus duriusculus“) des Cello II, welche Trauer und Klage induziert und ab Takt 5 vom Cello I aufgegriffen wird. Der Einsatz im 2. Takt erfolgt als Septime zum Bass und erzeugt milde harmonische Spannung, die aber sofort im 3. Takt aufgelöst wird, während zugleich Cello I eine tröstliche Melodie anstimmt, die im zweitaktigen Abstand von den geteilten Bratschen übernommen wird. Im Takt 66 singt der Chor exakt zu diesen instrumentalen Eingangstakten die Worte: „Sie gehen hin und weinen“. Über diesen Tönen ist auch das Weinen schon trostvoll – Tränen können auch guttun.
Im Takt 11 taucht plötzlich und schattenartig vorübergehend ein Des-Dur-Akkord auf. Sven Hiemke deutet dies als Vorklang einer zweiten, himmlischen, der Trauer entgegengesetzten Welt. Dafür spricht auch, dass im Takt 47 – ebenfalls in Des-Dur – den „mit Tränen Säenden“ die „Ernte in Freuden“ verheißen wird. Während die Tränen mit fallend-klagenden Motiven in Chor und Orchester aufscheinen, werden in kurzen Oktavkanons ab Takt 55 mit völlig neuem Tonmaterial und freudig bewegten Triolen des Orchesters Himmelsfreuden angedeutet.
Näher wird diese Aussicht nicht bestimmt. Im VI. Satz kündet der Bariton-Solist ein Geheimnis an: die Verwandlung der Toten (1Kor 15,51), also die Auferstehung. Auf das Wort „Geheimnis“ ist wieder die Tonart Des-Dur erreicht (die andere Welt). Diese aber wird sofort enharmonisch umgedeutet als Cis. In Bachs h-Moll-Messe finden wir im Credo auf „et exspecto“ (Takt 139) ebenfalls die enharmonische Umdeutung, hier von c nach his.
Diese zahlreichen Anklänge und Rückgriffe auf die musikalische Tradition zeigen bereits mit dem allerersten Choreinsatz ihren eigentümlichen Sinn: Bei aller Modernität der Textkompilation und formalen Anlage hat Brahms ein spezifisch sakrales Klangbild angestrebt. Der Chor singt a cappella, bei einfacher, Chromatik meidender Harmonik. In der weit verbreiteten, und auch von Robert Schumann empfohlenen Schrift „Über Reinheit der Tonkunst“ (1825) von Anton Friedrich Justus Thibaut, einem Heidelberger Juristen und Musikfreund, wird die altitalienische A-Cappella Musik als Inbegriff „heiliger“ Musik gepriesen. Die Details der Chorbehandlung in diesem Eröffnungssatz „generieren mit sparsamer Harmonik bis hin zur fast archaischen F-Dur-Kadenz jene Klanglichkeit, die Thibaut als Signum ‚ächter Kirchenmusik‘ bezeichnet hatte.“ So schreibt Sven Hiemke, in J. Brahms. Ein deutsches Requiem. Generell kommt dem Chor die dominierende Rolle zu; nicht nur der klanglichen Gestaltungsmöglichkeiten wegen, sondern weil darin die Allgemeinverbindlichkeit der Aussagen zum Tragen kommt.
Der II. Satz beginnt mit einer Art Trauermarsch („Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“), ungewöhnlicherweise im ¾ Takt, der aber häufig verschleiert wird durch ständige Zweierbindungen und zahlreiche Hemiolen. Das alles in fahlen Farben im Pianissimo: Über Bässen und Fagotten spielen Violinen mit Dämpfern; die ab Takt 17 hinzutretenden Pauken spielen leise Triolen und Verstärken den dumpfen Eindruck. Man denkt unwillkürlich an Gustav Mahlers Anweisung in der V. Symphonie: „Trauermarsch. Streng wie ein Kondukt“ und versteht dann besser die zunächst befremdlich anmutende Instrumentenallegorese des Hrabanus Maurus, der die Pauken als „den durch Fasten abgezehrten Leib“ deutet. Doch auch dieses Gemälde bleibt nicht trostlos im Dunkeln, da die Harfen synkopisch von Takt 3 an helle Akkorde beisteuern.
Auch der VI. Satz erinnert an einen Trauermarsch („Denn wir haben hier keine bleibende Statt“), ebenfalls mit gedämpften Violinen vorgetragen. Dieses Nicht-Heimisch-Sein drückt Brahms in harmonisch unruhig umherschweifenden Akkorden aus, die den unter c-Moll-Vorzeichen stehenden Satz eröffnen mit G-Dur/d-Moll-Folgen, ständigen Wechseln von Akkorden mit Dur- und Mollterzen und dem Vermeiden fester Kadenzbildungen. Die unentwegt im Pizzicato gleichmäßig „tickend“ voranschreitenden Bässe mögen vielleicht die verrinnenden Sekunden der Lebenszeit andeuten. Mit Takt 34 bringen die Bratschen einen Triolenrhythmus ein, jetzt aber zu der Aussage: „Wir werden nicht alle entschlafen“. Dieses pochende Triolenmotiv kann schon wahrgenommen werden als unruhig-erwartungsvolles Sehnen nach der Verwandlung in der Auferstehung.
Die Einführung des Bariton-Solisten im III. Satz bringt auch einen bedeutsamen Wechsel der Perspektive. Nun wird das Allgemeine ins Individuell-Persönliche gewendet; die Personalpronomina „mich, mir, meine“ zeigen es an. Eine gleichsam rezitativische Orchesterbegleitung zu dem solistischen „Herr, lehre mich doch, dass ein Ende mit mir haben muss“ sowie der Wechsel von Solo und Chor — der auch im V. Satz im Dialog von Sopran-Solistin und Chor sowie im VI. Satz im Wechsel Bariton/Chor manifest wird — lassen den oratorienhaften Charakter des Requiems hervortreten. Bariton und Chor rezitieren dieselben Worte mit der identischen Melodie; damit wird das individuelle Schicksal ins Allgemeine gewendet und dem Tod insofern der Schrecken genommen, als er allen Menschen bevorsteht. Im Takt 34f. erklingt erstmals eine punktierte Figur, die sich wiederholt zu den Worten „Tage – Leben- gar nichts – wie ein Schemen – vergebliche Unruhe“ in den Partien des Solisten, des Chores sowie des Orchesters findet.
Diese derart illustrierte Flüchtigkeit des Lebens ist aus der barocken Figurenlehre bekannt: „eine unvermittelt ‚flüchtige‘ Tonbewegung im Kontext längerer Notenwerte“. Die durch mehrfache Wiederholung dieser Figur auf einer höheren Tonstufe (sowohl vom Solisten als auch von Chor und Orchester) verstärkte Intention ist als Gradatio, die „Abbildung des ‚Nichts‘ durch die nachfolgende Pause“ als Aposiopesis bekannt (Hiemke). Den Gedanken des „Davon-Müssens“ realisiert Brahms in den Takten 93 bis 104 des Orchestersatzes in einer sinnfälligen Diminuierung der Tonhöhen, Dynamik und Rhythmik bis hin zum Stillstand.
Dieser gesamte im Dialog von Solist und Chor entworfene, also responsorial gehaltene Formverlauf auf Texte aus dem Psalter, korrespondiert aufs Treffendste mit dem für die Psalmenrezitation üblichen Wechsel von Vorsänger/Vorbeter und Gemeinde bzw. Wechselgesang zwischen verschiedenen Gruppen. Auch die auf die Gewissheit der Vergänglichkeit hin aufgeworfene Frage „Wes soll ich mich trösten?“ wird wiederum dialogisierend eingeleitet, und über einem triolisch oszillierenden verminderten Septakkord des Orchesters, sich rhythmisch vergrößernd, auf einer Fermate unbeantwortet gelassen.
Diese Orchestrierung der Takte 158 bis 163 weist auch in der Stimmung starke Verwandtschaft zu den Triolen in Beethovens IX. Sinfonie auf, die dort das Blinken der Himmelssterne symbolisieren und auf den in Himmelshöhen wohnenden „guten Vater“ hinweisen: Im Himmel muss ein guter Vater wohnen. Die zunächst leise aus der Tiefe und dann rasch crescendierende und in höchste Lagen führende Aussage „Ich hoffe auf dich“ mündet in einer grandiosen Fuge. Deren Thema ähnelt dem Thema der vorher aufgeworfenen Frage „Wes soll ich mich trösten“ und gibt gleichsam darauf die Antwort: Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand. Auf einem gewaltigen, 35 Takte umfassenden Orgelpunkt, den Kontrabässe, Celli, Tuba, Pauke und Orgel unerschütterlich grundlegen, erhebt sich das weitgespannte, stets nach oben strebende, ohne Umkehrungen präsentierte Thema. Die begleitenden Sextolen des Orchesters sowie die bemerkenswerten, im Gesamtwerk einzig hier erscheinenden größeren Melismen von Sopran und Tenor beleben den Satz und bringen – analog zu den auf einem Vokal vorgetragenen Melismen des gregorianischen Gesangs – die namenlose, unbegreifliche Freude zum Ausdruck.
Die noch umfänglichere Fuge des VI. Satzes „Herr, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre“ (Offb 4,11) bietet – im Gegensatz zur vorgenannten — auch Zwischenspiele und eine unentwegt lebhafte Orchesterbegleitung; auf typische Generalbass-Art geführt und damit den stile antico noch unterstreichend. Dies zeigt auch der Vergleich zum Beginn des Credo aus Bachs h-Moll-Messe mit ähnlicher Continuo-Figur. Hier wie dort können wir einen durch alle Zeiten führenden kosmischen Lauf assoziieren, der von Gott, dem Schöpfer, angestoßen, in Bewegung gehalten und auf ihn selbst als Ziel ausgerichtet ist. Sehr schön erfahr- und hörbar in dem gewaltigen Anlauf, den die Bässe ab Takt 282 aus der Tiefe nehmen und im Durchgang durch mehrere Oktaven auf das im Fortissimo gesungene und gespielte Wort „Kraft“ im Takt 289 kulminieren lassen; die nochmalige Wiederholung dieses Prozesses in den Takten 309 bis 317 unterstreicht diese Huldigungsmusik für den Schöpfer. Diese wird fällig, nachdem mit dem 1. Korintherbrief die Stunde der Verwandlung und Auferstehung der Toten beim Schall der Posaunen vorgestellt und das Wort der Schrift als erfüllt gelten darf: Der Tod ist verschlungen in den Sieg des Lebens. Die daraus folgende Erleichterung und das feste Stehen im Glauben auf dieses Wort komponiert Brahms mit der unheimlichen Wucht, in der dem Tod die Frage entgegengeschleudert wird: Tod wo ist dein Sieg, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Dem also antwortet der gewaltige Lobpreis der Fuge.
Natürlich kann man sich fragen, weshalb diese Dramatik nochmals entwickelt wurde, nachdem bereits vorher der Satz IV die lieblichen Wohnungen des Herrn Zebaoth besungen hatte. Doch ist hier die Perspektive zu beachten. Satz IV stellt die himmlischen Wohnungen als den Ort der bereits von Gott gerechtfertigten Seelen dar. Die Sätze V bis VII nehmen aber nochmals die Situation des auf Erden lebenden und Trost suchenden Menschen auf.
Die mit dem Psalm 84 besungenen Wohnungen des Herrn im Satz IV bilden den Mittelpunkt „gleichsam als das zarte, weiche Trio des gesamten Requiems“, so wiederum Karl Geiringer. Das kurze Orchestervorspiel, das wie ein Refrain oder Ritornell immer wiederkehrt, intoniert die Umkehrung der anschließenden Chormelodie. Die Coda (ab Takt 153) greift diesen Eingangsteil nochmals auf und führt den komplett im Dreier-Takt, dem tempus perfectum, gehaltenen Satz zu einem lieblich-friedvollen Abschluss. Belebt wird die durchgehend ruhige Bewegung im Teil B (Takt 47 bis 84) zu den Worten „verlanget und sehnet“. Als deren Ausdruck finden sich hier Synkopen. Die Freude der in Gott Lebenden illustrieren die erregt pochenden, im Fortepiano differenzierten Achtel (Takt 66ff). Hier entfaltet Brahms zudem eine harmonisch äußerst farbige, unerwartete Welt, die den Hörer, von D-Dur ausgehend über B-Dur, b-Moll, Des-Dur, nach Ges-Dur und von dort über A-Dur, a-Moll, C-Dur usw. nach Es-Dur, der Haupttonart des Satzes zurückführt. Im Teil C (ab Takt 108) gehören die Takte 85-107 auch noch zu B: „Wohl denen, die in deinem Haus wohnen, die loben dich immerdar“, entwickelt sich ab Takt 124 ein Doppelfugato, lebhaft gestaltet durch Synkopenbildungen und deutlich gesteigerte Dynamik. Hier wird „mit ganztaktig wechselnden Akkorden in weiter Lage und im Crescendo“ eine Satztechnik vorgestellt, die in der Barockzeit ihre Vorbilder hat (Hiemke).
Satz V setzt nochmals bei der Trauer der Zurückbleibenden an und verheißt einen Trost, „wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes 66,13). Bereits die Besetzung mit einer Sopran-Solistin, das langsame Tempo, die verhaltene Dynamik und das weiche Klangbild lassen die Trauer („Ihr habt nun Traurigkeit“) schon gemildert erscheinen — wenn auch ab Takt 35 die unentwegten Seufzerfiguren von Chor und Orchester lautmalerisch wehklagen. Die dazu kontrastierende Aussage „Ich will euch trösten“ des Chor-Tenors ab Takt 62 bedient sich derselben Melodie wie der Solo-Sopran zu „Ich will euch wiedersehen“. Beide sind kontrapunktisch verbunden, wobei der Chorpart die Augmentierung des Soloparts darstellt (Abbildung 2). Damit zeigt Brahms höchst sinnfällig an, worin für die Zurückbleibenden der Trost besteht: im Wiedersehen mit den Verstorbenen. Auch hier zeigt sich nochmals die starke Orientierung hinsichtlich der musikalischen Detailarbeit an der Tradition der Musikgeschichte.
Die musikalische Einheit des Gesamtwerks
Bei aller musikalischen und textlichen Bandbreite wird doch die Einheitlichkeit des Werkes stark empfunden. Diese wird im Wesentlichen garantiert und hervorgerufen einmal durch die konsequente Orientierung an kontrapunktischen Idealen bzgl. der Satztechnik und zum zweiten aufgrund einer verblüffenden Ableitung vieler zentraler Melodien aus der Sopranstimme des allerersten Choreinsatzes, wodurch zahlreiche Verknüpfungen zwischen den Sätzen hergestellt werden.
Das Drei-Ton-Motiv
So sind die drei Eröffnungssilben „Selig sind“ mit einer aufsteigenden Terz und nachfolgender Sekunde vertont (Takt 15). Der nächste Einsatz bringt (Takt 19 bis 25) das Kernmotiv nochmals im Sopran, sodann in der Krebsgestalt? im Alt (Takt 21f.), und in Takt 23f. simultan als Umkehrung im Tenor und als Krebsumkehrung im Bass:
Der den II. Satz eröffnende Trauermarsch bietet in den Holzbläsern und Violinen das Drei-Ton-Motiv gleich zweimal (absteigend) in der Form des Krebses. Der Bariton-Solist singt zu Beginn des III. Satzes die zentrale Feststellung, „dass ein Ende mit mir haben muss“ (Takt 5 bis 7) in der Weise des Kernmotivs und dessen sofort anschließender Umkehrung. Die ersten sechs Silben („Der Gerechten Seelen“) des Themas der grandiosen Fuge desselben Satzes intoniert der Chor-Tenor mit den sechs Noten des Kernmotivs und dessen Krebsumkehrung – zu erkennen.
Den Gipfel der wechselseitigen Motivverknüpfung der Sätze stellen die ersten acht Takte des IV. Satzes dar: Das einleitende Orchesterritornell (Takt 1 bis 4) besteht seinerseits aus der zweimaligen Umkehrung des Motivs (Takt 1 und Takt 2/3) inklusive einer Verkettung mit dem Krebs (Takt 2). Der Choreinsatz „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ (Sopranstimme) bietet zweimal aufsteigend die Originalgestalt, die ihrerseits mit der Krebsumkehrung verknüpft ist. Dabei stellen diese vier Chortakte insgesamt die Umkehrung der einleitenden vier Orchestertakte dar!
Eine äußerst sinnfällige Anwendung dieser Motivarbeit findet sich im VI. Satz bei der Ankündigung „zu der Zeit der letzten Posaune“: Der Chorsopran deklamiert dies (Takt 70ff.) mit Tonrepetitionen als Krebsumkehrung. : Beim Schall der Posaune werden die Toten auferstehen und der Tod im Sieg verschlungen. Das Kernmotiv bestimmt die Trauermusik des Requiems; dessen Krebs (verbalisiert könnte man sagen: vom Ende her gedacht) hebt mit der Auferstehung alle Trauer auf. Und die Krebsumkehrung führt das Krebsmotiv in die Höhe.
Das Dreiklang-Motiv
Die zweite auffällige Tonkonstellation als in mehreren Sätzen markant verwendeter Baustein stellt das Dreiklangsmotiv dar, das jeweils einen Themenbeginn charakterisiert: im II. Satz das Fugato „Die Erlöseten des Herrn“; im V. und VI. Satz exponieren jeweils die Solisten dieses Motiv. Wie im V. Satz, Takt 27f. „Sehet mich an“; VI. Satz, Takt 28ff.: „Siehe ich sage euch ein großes Geheimnis“; VI. Satz, Takt 109ff.: „Dann, dann wird erfüllet“. Im VII. Satz, Takt 30ff., Chorsopran, „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an“. All diese Dreiklangsmotive sind mit positiven Aussagen gekoppelt, genauer mit dem Geheimnis der Verwandlung im Tod durch die Auferstehung. Satz V thematisiert den daraus ableitbaren Gedanken des Getröstet-Seins.
Der einheitliche Eindruck des Gesamtwerkes ist nicht zuletzt der stets klaren Formgebung der einzelnen Sätze zu verdanken. Der Hörer wird nicht mit fremden Klangwelten oder experimentellen formalen Konstrukten abgelenkt von der inhaltlichen Botschaft des Requiems, nämlich Trost vermitteln zu wollen. Diese Klarheit ist dem Hörer bekannt etwa aus den Oratorien und Passionen von Bach und Händel und deren einschlägigen Elementen: Chorfugen, Rezitativ (die Bariton-Passagen) und Arie (die Sopran-Partie) sowie die Kombination von Sologesang mit choralartiger Chorbegleitung (V. Satz). Die kontrapunktische Durchdringung des Gesamtwerkes auch im Blick auf den Orchestersatz bietet sowohl Halt als auch Orientierung am überzeitlichen Wert großer musikalischer Gestaltungen, die zur Brahms-Zeit teilweise auch die Funktion von Religion übernommen hatte.
Brahms selbst verfolgt mit der Orientierung am barocken Vorbild – für das er viel gescholten wurde – eine spezielle Musikphilosophie. Er sieht die Musikgeschichte nicht als ein ständiges Voranschreiten und Verbessern musikalischer Ausdrucksmittel und Möglichkeiten. In den Meisterwerken der Vorgänger sieht er „überzeitliche, im Prinzip unverlierbare Werte aufgehoben“. Diese gilt es „durch ein Werk hohen kompositionstechnischen und ästhetischen Anspruchs fortzuschreiben und zu bewahren“ So schreibt Christian M. Schmidt, in seinem Buch J. Brahms und seine Zeit.
Der große Wert solcher Haltungen zeigt sich im Kontext raschen gesellschaftlichen Wandels und globaler Verunsicherung bzw. allgemeiner Verunsicherung angesichts der ständigen Reiz- und Nachrichtenüberflutung. Es gibt einen zumindest künstlerischen Konsens, es gibt überzeitliche künstlerische Werte und – es gibt die Verlässlichkeit des Wortes Gottes selbst: Aber des Herren Wort bleibet in Ewigkeit. Die trostvolle Botschaft des Deutschen Requiems von Johannes Brahms lautet: Die unstete Wanderschaft des irdischen Menschen findet ihr Ziel in den lieblichen Wohnungen des Herrn Zebaoth.