Charles de Gaulle und die “certaine idèe de la France”

Charles de Gaulle on the 50th anniversary of his death

Im Rahmen der Veranstaltung "Charles de Gaulle", 30.10.2020

Charles de Gaulle, der Gründer und erste Präsident der V. Republik ist auch 50 Jahre nach seinem Tod am 9. November 1970 noch immer die dominierende Gestalt der französischen Gegenwart, dessen politisches Erbe für sein Land nach wie vor bestimmend ist. Diese überragende Bedeutung verdankt sich zunächst einmal dem Umstand, dass es de Gaulle gelang, trotz der Niederlage und der Kapitulation von 1940 und der sich daran anschließenden traumatischen Zeit der deutschen Besatzung bis zur Befreiung des Landes in der zweiten Hälfte des Jahres 1944, Frankreich den Rang einer Siegermacht im Zweiten Weltkrieg zu verschaffen. Das war eine Leistung, zu der ihm das Bewusstsein, als Sachwalter der certaine idée de la France zu handeln, Kraft und Zuversicht verlieh.

Der gaullistischen und damit gewissermaßen offiziösen Erzählung zufolge leistete Frankreich unter der charismatischen Führung de Gaulles den entscheidenden Beitrag, sich selbst von der Naziherrschaft zu befreien, um gestützt darauf ganz selbstverständlich seinen Platz in der Runde der alliierten Siegermächte einzunehmen. Diese Deutung vergisst völlig die für den Krieg im Westen und die Befreiung Frankreichs ganz entscheidende Mitwirkung der USA und verkleinert erheblich oder beschweigt sogar völlig den für diesen Erfolg nicht minder ausschlaggebenden Beitrag des britischen Premierministers Winston Churchill, der tatkräftig und unbeirrt zahlreicher Kontroversen wie auch bisweilen einen Bruch heraufbeschwörender Streitigkeiten zu de Gaulle hielt.

Von Churchill ist der einschlägige Seufzer überliefert, er habe das schwerste Kreuz, das Lothringerkreuz zu tragen. Was für Churchills geradezu selbstlos anmutendes Handeln den Ausschlag gab, war seine Überzeugung, dass für die Stabilität der europäischen Nachkriegsordnung ein starkes und unabhängiges Frankreich unverzichtbar sei.

Die unverbrüchliche Unterstützung, die de Gaulle seitens Churchills erfuhr, war für ihn in der ersten, besonders schwierigen Phase seines Londoner Exils von nichts weniger als existentieller Bedeutung: De Gaulle, ein weithin völlig unbekannter Brigadegeneral, nahm gleichsam als ein „König ohne Land“ für sich vollmundig in Anspruch, der Repräsentant des Freien Frankreich zu sein und als solcher den Krieg, den Frankreich verloren hatte, an der Seite Großbritanniens und seiner Alliierten fortzusetzen. Dieser Anspruch wäre nichts weniger als politische Hochstapelei gewesen, hätte ihm Churchill nicht ideell und substantiell dadurch Vorschub geleistet, dass er de Gaulle in der von ihm reklamierten Rolle anerkannte und dessen Führungsanspruch durch großzügige Kredite finanzierte.

Aber auch, als de Gaulle sich bereits auf eine eigene, wenngleich nur sehr symbolische Machtbasis stützen konnte, sobald sich einige tausend Soldaten und einige Konfetti oder Bruchstücke des französischen Empire in Übersee um seine Fahne mit dem Lothringerkreuz scharten, war für ihn die von Churchill gewährte Hilfe unverzichtbar. Daran hielt Churchill unbeirrt fest, auch wenn die Amerikaner, die nach ihrem Kriegseintritt im Dezember 1941 zum wichtigsten und mit weitem Abstand potentesten Bundesgenossen Großbritanniens wurden, ihn immer wieder bedrängten, de Gaulle fallen zu lassen. Der Grund dafür war, dass die US-Regierung und insbesondere Präsident Roosevelt de Gaulle für übergeschnappt hielten.

Roosevelt, dem de Gaulle erstmals auf einer Konferenz in Marokko im Januar 1943 begegnete, sah sich nach einem Gespräch, das er dort mit ihm führte, in dieser Ansicht nachdrücklich bestätigt. Um dem amerikanischen Präsidenten seine einem Außenstehenden in der Tat nur sehr schwer zu vermittelnde Bedeutung, die er glaubte, für die Menschen im besetzten Frankreich zu besitzen, klar zu machen, sagte de Gaulle von sich, er sei Jeanne d’Arc. Da er offensichtlich gewahrte, dass er mit diesem Vergleich den Präsidenten mehr irritierte als ihn über seine Rolle aufzuklären, fügte de Gaulle an, er sei dann eben Clemenceau …

Ungeachtet aller Missverständnisse und Abneigungen, mit denen de Gaulle zeit des Zweiten Weltkriegs seitens der Alliierten zu kämpfen hatte, nahm Frankreich bei Kriegsende 1945 als vierte Siegermacht sehr selbstbewusst am Tisch der „Großen Drei“ Platz, von denen die verlustreiche Hauptlast des Krieges gegen Hitler-Deutschland geleistet worden war. Der Beitrag des von de Gaulle geführten Frankreich an diesem Ausgang waren im wesentlichen die Divisionen nord- oder schwarzafrikanischer Kolonialsoldaten, die bei der Befreiung Italiens zum Einsatz kamen und die für ihren Einsatz nach Kriegsende mit dem schnöden Undank der Republik vergolten wurden, das ihnen die für den Militärdienst vereinbarten Pensionszahlungen schlicht verweigerte.

Dass Frankreich am Tisch der Siegermächte Platz nahm, ist im übrigen auch nur metaphorisch zu verstehen, denn es war an keiner der drei großen Konferenzen beteiligt, zu denen sich die Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam trafen, um über die Nachkriegsordnung zu beraten. Auch das verrät, en passant, dass Frankreich den Rang einer Siegermacht zum wenigsten seinem militärischen Beitrag am Sieg der Alliierten verdankte.

Ungeachtet dessen erhielt Frankreich einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die gegen Kriegsende ohne Beteiligung Frankreichs in San Francisco gegründet wurden. Ebenso bekam es auf der Konferenz in Potsdam, bei der das Besatzungsregime in Deutschland verabredet wurde, eine eigene Besatzungszone zugestanden. Beides, den ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat und die eigene Besatzungszone in Deutschland verdankte de Gaulle wiederum dem selbstlosen Einsatz Winston Churchills.

In der Frage der Besatzungszone hatte de Gaulle allerdings seine ganz und gar nicht bescheidenen Ansprüche schon vorab angemeldet: Nach seinen expansiven Vorstellungen sol-
lte sich die französische Besatzungszone beiderseits des Rheins bis nördlich von Köln und Aachen erstrecken, das gesamte Gebiet der früheren hessischen Staaten sowie des einstigen Großherzogtums Baden bis zum Bodensee umfassen! Da Stalin sich von vorneherein weigerte, von seiner Besatzungszone auch nur ein Stück abzutreten, Großbritannien das nördliche Rheinland einschließlich Kölns für sich beanspruchte und die USA auf der Kontrolle der Autobahn Frankfurt – Karlsruhe – Stuttgart – München beharrten, musste sich de Gaulle mit einigen Fetzen in der Pfalz und dem Stück Badens südlich von Karlsruhe sowie einem Zipfel von Württemberg am Bodensee begnügen.

Gewissermaßen als Trostpflaster gestatteten die USA schon vor der Konferenz von Potsdam Frankreich, das Saarland zu besetzen. De Gaulles Absicht, das Saarland zu annektieren, scheiterte jedoch am Widerstand der beiden Westmächte. Stattdessen verband Paris das Saargebiet durch eine Währungs-, Wirtschafts- und Verteidigungsunion eng mit der französischen Besatzungsmacht. Auf diese Weise suchte man auf stillem Wege die Annexionsabsicht weiter zu verfolgen.

Das damalige erfolgreiche Schalten und Walten de Gaulles, das Frankreich seine traditionelle Bedeutung als europäische Großmacht sicherte, verlieh ihm eine Statur, die ihn auch in den zwölf Jahren, in denen er sich aus dem öffentlichen Leben in die Weltabgeschiedenheit von Colombey-les-Deux-Eglises zurückzog, zu einer politischen Potenz einsamen Ranges machte. Das war ein Kapital, das ihm in der Algerienkrise von 1958, die er mit großem Geschick für sich zu nutzen wusste, die Rückkehr an die Macht ermöglichte und ihm gleichzeitig auch die Chance eröffnete, damit Erfolg zu haben, woran er im Januar 1946 gescheitert war: eine Verfassung, die weitgehend seinen Vorstellungen entsprach, zu entwerfen und durchzusetzen.

Die V. Republik ist de Gaulles Geschöpf und als solches die Essenz seines politischen Wollens und Ausdruck seines Verständnisses der certaine idée de la France. In seinen Memoiren schrieb de Gaulle dazu, seine Absicht sei es gewesen, Frankreich „dem Geist der modernen Zeit entsprechend wieder seine Macht, seinen Reichtum und seine Ausstrahlung zu verschaffen.“

Die heute seit rund 60 Jahren bestehende V. Republik stellt die mit weitem Abstand nicht nur langlebigste, sondern auch erfolgreichste Restauration in der Geschichte Frankreichs dar. Das Geheimnis dieses Erfolgs ist, dass die Verfassungswirklichkeit der V. Republik dank der Direktwahl des Präsidenten eine monarchie populaire ist, als welche sie de Gaulle selbst qualifizierte. Auch wenn er den damit formulierten Rollenanspruch mit Abstand am überzeugendsten ausfüllte, so gilt auch, dass das Amt des Präsidenten in der V. Republik alle seine Inhaber zu Gaullisten macht. Auch das entspricht einer Absicht de Gaulles, der bekannte, die 1962 durch Plebiszit eingeführte Direktwahl des Präsidenten sei für ihn ohne weitere Bedeutung, denn er habe seine Legitimation von der Geschichte. Bei seinen Nachfolgern im Amt aber verhielte es sich ganz anders. Die hätten diese Legitimation nötig, um ihrer Rolle zu genügen.

Dass das Amt des Präsidenten seinen Inhaber unweigerlich zum Gaullisten macht, galt auch und gerade für François Mitterrand, der die V. Republik zuvor in einem Buch als „Coup d’Etat permanent“ qualifiziert hatte, der sich als Präsident aber mit Geschick und Gusto all der Freiheiten und Vollmachten bediente, die seinem Inhaber dieses Amt in der monarchie populaire gestattet. Während Mitterrand als ein erfolgreicher Präsident der V. Republik gilt, ist François Hollande, der ankündigte, ein „normaler Präsident“, also ein den Lockungen des Gaullismus abholder Amtsinhaber sein zu wollen, eben damit eklatant gescheitert.

Das große und in vieler Hinsicht bewunderungswürdige Erbe de Gaulles, das auch für das gegenwärtige Frankreich eine Verpflichtung ist, birgt aber auch eine Reihe von Hypotheken, die es seinen Nachfolgern im Amt immer schwerer machen, dieses Erbe, frei nach Goethe, zu erwerben, um es zu besitzen. Ich will dafür nur zwei Beispiele nennen, mit denen der derzeitige Amtsinhaber Emmanuel Macron seine Last hat.

Das gilt zum einen für die von Macron beabsichtigte gründliche Reform des französischen Rentensystems, die bei den Gewerkschaften auf heftigen Widerstand stößt. Das französische System der Altersversorgung wurde von der aus drei Parteien, den Kommunisten, Sozialisten sowie dem Mouvement républicain populaire – der einzigen Partei, die aus der Résistance hervorgegangen war – gebildeten Übergangsregierung vom November 1945 veranlasst, der de Gaulle bis zu seinem Rücktritt am 20. Januar 1946 als Regierungschef angehörte. Eine erste schwere Krise dieser Regierung wurde ausgelöst durch das Verlangen der Kommunisten, den Außen-, Verteidigungs- und Innenminister zu stellen, dem sich de Gaulle entschieden widersetzte. Als Kompromiss erhielten die Kommunisten stattdessen fünf Ministerien zugesprochen: Wirtschaft, Industrieproduktion, Arbeit und Sozialversicherung. Außerdem wurde der kommunistische Parteichef Maurice Thorez Staatsminister für den Wiederaufbau der Verwaltung und des Beamtenrechts.

Die Kommunisten, deren Ziel auf Geheiß Stalins nicht mehr die Weltrevolution war und die bis zum Mai 1947 dieser Koalitionsregierung angehörten, nutzten ihre ministerielle Zuständigkeiten, um möglichst große Vorteile für die eigene Klientel namentlich in den staatlichen Betrieben und der Verwaltung zu schinden. Neben einer Beschäftigungsgarantie waren dies vor allem Pensionsregelungen, die hinsichtlich ihrer Höhe wie auch des vergleichweise frühen Renteneintrittsalters sehr vorteilhaft waren. Darüber hinaus wurde eine große Fülle von régimes spéciaux, von Sonderregelungen, eingeführt, die den doppelten Vorteil einer geringeren Beitragsleistung mit dem erheblich früheren als dem sonst gesetzlich geregelten Eintritt ins Rentenalter verknüpften. Das alles sind die sogenannten droits acquis, die heute von den Gewerkschaften energisch verteidigt werden.

Eine andere Hypothek ist das Prinzip der Einstimmigkeit, das bei Entscheidungen des Europäischen Rats, also bei gemeinsamen Sitzungen der Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten insbesondere im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gilt. Die Geltung dieses fatalen, weil Entscheidungen lähmenden Prinzips, geht auf das Konto de Gaulles, der sich auf eine aus dem Sinnzusammenhang gerissene Bestimmung in Artikel 20 der Römischen Verträge von 1957 berief, um eine den Interessen des großen, aber wenig effizienten französischen Agrarsektors gemäße gemeinschaftliche Landwirtschaftspolitik durchzusetzen.

Nach dem Willen der Kommission sollte nach einer Übergangsfrist von einigen Jahren auch in diesem Bereich eine „qualifizierte“ Stimmenmehrheit statt Einstimmigkeit für Beschlüsse genügen. Dieser Absicht widersprach die französische Regierung entschieden, die nicht nur in Fragen der gemeinschaftlichen Finanzierung der Landwirtschaft auf dem Prinzip der Einstimmigkeit beharrte, sondern auch bei anderen Entscheidungen des Rats. Gegen die anderen fünf damaligen Mitglieder der EWG setzte sich de Gaulle mit der Politik des leeren Stuhls durch, indem er vom 1. Juli 1965 bis zum 30. Januar 1966 die Teilnahme Frankreichs an Sitzungen des Ministerrats der EWG boykottierte. Diese Weigerung, die das gesamte politische System der EWG lähmte, wurde schließlich mit dem Luxemburger Kompromiss beigelegt.

Der böse Geist des Prinzips der Einstimmigkeit, der eine energische mehrheitsbasierte EU-Politik verhindert, war damit endgültig aus der Flasche, denn der Kompromiss besagt, dass wenn ein Land der Ansicht sei, wesentliche Interessen stünden auf dem Spiel, müssten die Verhandlungen so lange fortgesetzt werden, bis eine für alle Partner annehmbare Lösung gefunden sei. Für den Fall, dass sich dieses Ziel nicht erreichen ließe, bestand Frankreich auf der Achtung des Prinzips der Einstimmigkeit, d.h. auf dem Vetorecht des in der Minderheit befindlichen Staates.

Dieser Kompromiss änderte grundlegend den Sinn des EWG-Vertrags, indem er ein neues Druckmittel der Staaten auf den Rat und seine Beschlüsse zuließ. Das hatte umso nachteiligere Folgen, als der Kompromiss nicht definierte, was unter „wesentliche Interessen“ zu verstehen sei. Folglich blieb diese Auslegung den betroffenen Staaten überlassen, die sich, gestützt darauf, immer durchsetzen können, zumal kein Schiedsverfahren im Falle der Uneinigkeit vorgesehen ist.

Dem Konzept einer „strategischen Autonomie“, das Emmanuel Macron seit langem für die EU einfordert, steht ironischerweise diese im Erbe de Gaulles versteckte Hypothek des Prinzips der Einstimmigkeit entgegen, auf die sich Polen, Ungarn und neuerdings auch Zypern berufen, um mit der sonst gern akzeptierten finanziellen Unterstützung der Gemeinschaft ihr eigenes Süppchen zu kochen.

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