Introduction

 

Als Karl Jaspers vor 50 Jahren starb, war er im deutschsprachigen Raum der wohl bekannteste Philosoph, weltweit, gemessen an der Zahl der Übersetzungen seiner Bücher, der am meisten rezipierte deutsche Philosoph. Das große öffentliche Interesse ist längst geschwunden. In der philosophischen Fachwelt hat er ohnehin wenig Echo gefunden, und durch das ihm anhängende Etikett „Existenzphilosoph“ wirkt er wie ein Relikt aus abgelebten Zeiten. Warum also sollte man sich mit ihm heute und ausgerechnet heute aus anderem als bloß historischem Interesse beschäftigen?

Meine Antwort, auf den einfachsten Nenner gebracht: Jaspers hat, in einer Zeit der Orientierungslosigkeit – in die wir offensichtlich erst richtig hineingeraten sind – gezeigt, was Philosophie ist und warum Philosophie nottut – nicht irgendeine Philosophie, sondern jene, die mit Sokrates beginnt und die den „kleinen“ Unterschied zu machen weiß zwischen dem, was man wissen, und dem, was man nicht wissen kann.

Für Jaspers ist unbestritten: Es gibt eine Realität, es gibt Dinge, die man wissen kann. Keiner kann Philosoph sein, der sich nicht um dieses Wissen bemüht – dem methodisch disziplinierten Erkenntnisweg folgend, den die neuzeitlichen Wissenschaften gewiesen haben. Dieser Wissensdrang trieb ihn dazu, dass er – seiner heimlichen Neigung zur Philosophie zum Trotz – erst Jura, dann Medizin studierte, sich in Psychopathologie spezialisierte und, auf die Art und Weise reflektierend, in der auf diesem Feld Wissen gewonnen werden kann, mit seiner Allgemeinen Psychopathologie von 1913 ein umfassendes, mehrfach aufgelegtes und bis heute noch maßgebliches Lehrbuch schrieb.

Doch: Wer entschieden und ernsthaft wissen will, weiß umso mehr auch um die Grenzen, an denen unser Nichtwissen beginnt. Auf die erste aufmerksam gemacht wurde Jaspers durch seinen verehrten Lehrer, den Soziologen Max Weber: Wissenschaft kann zwar erkennen, was der Fall ist, aber sie wird uns nie sagen können, was der Fall sein soll und was wir wollen sollen. So kann keine Wissenschaft uns sagen, warum überhaupt Wissenschaft sein soll.

Eine zweite, und wohl die entscheidendste, ist die Grenze, die ihm Kant eröffnet hat: Wissenschaft ist immer partikular und perspektivisch, sie erkennt immer nur bestimmte Gegenstände in der Welt, aber nie die Welt als Ganze. Hinter jedem Horizont öffnet sich ein weiterer Horizont, so ins Unendliche. Dies gilt auch für uns selbst, wir können immer nur Teilaspekte unseres Daseins erkennen, aber wir wissen nie, wer oder was wir letztlich, im Ganzen unseres Wesens sind. Wir sind immer mehr, als wir von uns wissen können.

Die dritte Grenze hat Jaspers selbst aufgezeigt: Es ist der Umstand, dass wir uns in Situationen finden, die wir nicht verändern und denen wir nicht entkommen können: dass wir nicht leben können, ohne zu leiden und zu kämpfen und uns schuldig zu machen, dass wir immer in Situationen verstrickt sind und dass wir sterben müssen. In diesen Grenzsituationen, wie Jaspers sie nennt, sind wir mit all unserem Weltwissen und all unseren Techniken am Ende. Das ihnen allen Gemeinsame ist, unter subjektivem Gesichtspunkt – das Leiden als Letztes, als Unabwendbares. Hier berührt Jaspers sich mit Adorno und dessen Beharren auf der Negativität dessen, was nicht sein soll, dem unsäglichen und sinnlosen Leiden.

Wie verhalten wir uns gegenüber diesen Grenzen? Wir können sie ignorieren und verdrängen, mit Illusionen zudecken, in harmonistische Welterklärungen flüchten und uns in rationalen „Gehäusen“ einschließen, wir können, wissenschaftsabergläubisch, von einem Totalwissen träumen und uns einer Totalplanung des Menschen und seiner Geschichte verschreiben. Wir können aber auch das Gegenteil tun: uns diesen Grenzen stellen, sie uns klarer zu machen versuchen – um dabei zu erleben, dass mit der größeren Klarheit auch das Verlangen wächst, über diese Grenzen hinauszugelangen, zu erfahren, worauf es uns ankommen soll, und Halt zu finden, auch wenn alles ins Wanken gerät.

 

Jaspers’ Weg von der Psychologie zur Philosophie

 

Als Psychologe, als der sich Jaspers nach seiner Habilitation und seiner Ernennung zum Extraordinarius für Psychologie noch verstand, versucht er in seiner Psychologie der Weltanschauungen (1919) einen Überblick zu gewinnen über die Vielfalt bisher erdachter Möglichkeiten, sich Bilder von einem Weltganzen zu schaffen und in ihnen Sinn zu finden. Dabei ist ihm aber durchaus bewusst, dass dies nur abstrakte Möglichkeiten sind, durch die wir nichts zu wissen und keine Anleitung zum Leben bekommen können. Sie mögen als solche vielleicht der Bildung dienen, die wir ästhetisch genießen, von Bedeutung aber sind sie erst, wenn das Entscheidende hinzukommt: die eigene prüfende Suche nach der Sinnmöglichkeit, auf die hin ich mein Leben wagen will. Wie aber soll diese Prüfung vor sich gehen, was bringt mich dazu, diesen Sprung zu tun? Der Sprung übrigens, dem sich Adorno, im Gegensatz zu Jaspers, hartnäckig zu verweigern scheint und zu dem er dennoch immer wieder anzusetzen versucht.

Jaspers wurde zunehmend klar, dass er sich mit dieser Frage nicht mehr im Feld der Psychologie, sondern im Feld der Philosophie bewegte. Er markierte dies auch nach außen, indem er sich 1922 auf einen Lehrstuhl für Philosophie berufen ließ, als Professor gleichsam sein Philosophiestudium nachholte und nun systematisch den Fragen nachging, die ihn bedrängten. Im Grunde sind es keine andern als die berühmten drei Grundfragen Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was kann ich hoffen – wenn ich tue, was ich soll?

 

  • Jaspers’ Existenzphilosophie

 

Das Ergebnis von Jaspers’ Denkarbeit ist das 1932 erschienene dreibändige Werk, das er schlicht Philosophy nannte. Der erste Band unter dem Titel Weltorientierung gilt der bereits erörterten ersten Frage nach den Bedingungen und Grenzen unseres Wissens, der zweite Band, Existenzerhellung genannt, führt die Frage philosophisch weiter, die in der „Psychologie der Weltanschauungen“ offen geblieben ist: Was ermöglicht es uns, angesichts der Grenzsituation, nicht in Nihilismus und Verzweiflung zu versinken, sondern – alle endlichen Daseinszwecke hinter uns lassend – das zu finden, was wir in Unbedingtheit wollen, und so zu dem zu werden, der wir wirklich sind? Diese Möglichkeit eines jeden Menschen, er selbst zu sein, ist das, was Jaspers mit Kierkegaard Existenz, genauer: mögliche Existenz nennt.

Doch wie wird die mögliche Existenz zur wirklichen Existenz, die weiß, was sie in Unbedingtheit will? Auch dies wissen wir nicht. Wenn uns der „Aufschwung“ gelingt, ist es, „als ob wir uns geschenkt würden“. Ich bin das, was ich als Existenz bin, nicht durch mich selbst – so wenig wie ich durch mich selbst in die Welt gekommen bin. In dem Maße, wie ich mir meiner selbst bewusst werde, werde ich mir darum auch jenes Anderen bewusst, durch das ich selber bin – ein Umgreifendes, so der Terminus von Jaspers, das sowohl mich wie die Welt übersteigt. Er nennt es Gott oder Transzendenz, wohl wissend, dass dies bloß Namen sind für ein Sein, von dem wir doch nie sagen können, was es ist. Dass es ist, soll uns genügen. Keine Existenz ohne Transzendenz: So lautet nunmehr die Losung des Jaspers’schen Philosophierens, das er selbst Existenzphilosophie nennt. Ohne den Anspruch allerdings, damit eine neue Philosophie zu erfinden. Existenzphilosophie ist für ihn, was die Philosophie – seine sokratische Philosophie – schon immer gewesen ist.

Auch dies, dass sich Transzendenz nicht denken lässt, muss gedacht sein. Denkbar ist, dass es etwas gibt, das sich nicht denken lässt. Der dritte Band von Jaspers Philosophie kreist darum um die Frage nach der Transzendenz, nach dem, was überhaupt ist, was über uns und die Welt hinaus allein noch bleibt. Bisherige Formen metaphysischen Denkens „beschwörend“, öffnet Jaspers den Raum, der mit der Idee der Transzendenz aufgespannt wird. In Erinnerung an die philosophische Disziplin, die noch spekulativ Gott erdenken zu können glaubte, nennt er seinen dritten Band Metaphysik. Sein Schlüsselbegriff für die Art und Weise, wie Transzendenz uns in dieser Welt gegenwärtig werden kann, ist der Begriff der Chiffer. Er steht für das geheimnisvolle Leuchten der Dinge, die plötzlich Tiefe bekommen und in deren Licht uns Transzendenz auf uns unbegreifliche Weise aufscheinen kann. Der Chifferbegriff ist dann später, in Jaspers‘ Basler Zeit (ab 1948) der Ausgangspunkt für seine Entfaltung dessen, was er philosophischen Glauben nennt, und für seine tief greifende Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreligion als der Gegenmacht zur Philosophie, die heute aktueller ist denn je.

 

Jaspers als Philosoph der Vernunft

 

Doch zurück zu den Dreißiger Jahren. Eine noch unbewältigte Aufgabe nach seiner Philosophie bleibt, die Jaspers fortan nicht mehr loslässt und die ihn veranlasst, eine auf vier Bände angelegte Philosophische Logik zu schreiben. Es ist die Aufgabe, eine Antwort zu finden auf die unabweisbare eine Frage: Über die Welt hinaus denken, Existenz „erhellen“, Transzendenz „beschwören“, worauf stützen wir uns, wenn wir dies tun, wenn dies alles doch jenseits jeder Erkenntnis liegt? Wenn wir nicht wissen, was wir hier tun, werden wir nie Herr unseres Denkens sein.

Es ist wiederum Kant, der Jaspers hier den Weg gewiesen hat: Was wir nicht erkennen können, das können wir doch denken – wir wissen nicht, was das Ganze ist, innerhalb dessen wir stehen, aber wir haben die Idee eines solchen Ganzen, und diese Idee beweist ihre Wirklichkeit insofern, als sie uns dazu antreibt, nach Einheit, nach Zusammenhang zu suchen, und diese Suche selbst dann nicht aufgeben, wenn wir scheitern. Dieses auf Ideen gerichtete Denken nennt Jaspers mit Kant Vernunft. Vernunft ist das Band, das uns mit allem und mit allen verbindet. Vernunft, so kann Jaspers darum auch sagen, ist nichts anderes als der „Wille zu grenzenloser Kommunikation“, sie ist wie das „Ausstrecken der Hände“. Für unsere existenzielle Selbstvergewisserung ist sie als Medium ebenso notwendig wie die Luft zum Atmen.

Statt Existenzphilosophie möchte Jaspers seine Philosophie darum nun lieber Philosophie der Vernunft nennen. Doch wiederum nicht, um etwas Neues anzukündigen, sondern um noch stärker zu betonen, worum es ihm von Anbeginn schon ging: um die Polarität von Vernunft und Existenz – so der Titel seiner programmatischen Schrift von 1935. Existenz – zur Bezeichnung für den Ort, an dem alles, was wirklich sein soll, entschieden werden muss; Vernunft – als Losungswort für den unendlichen Raum der Möglichkeiten. Fehlt die Vernunft, ersticken wir in uns selbst, fehlt die Existenz, verbläst es uns ziellos in alle Richtungen.

Die Funktionsweise der Vernunft und ihr Verhältnis zur Erkenntnis des Verstandes zu erkunden, wird in der Hitlerzeit dem auf Grund seiner Ehe mit einer Jüdin ab 1937 unter Lehr- und ab 1938 unter faktischem Publikationsverbot stehenden Jaspers zum Hauptprojekt seiner stillen Arbeit. Es ist nicht zuletzt auch seine Antwort auf den Kommunikationsabbruch und die Vernunftfeindlichkeit des Faschismus. Als erster Band erscheint dann 1947 das mehr als 1000-seitige Buch Von der Wahrheit, drei weitere Bände fanden sich als Entwürfe im Nachlass.

Die entscheidende Prämisse dieser „Philosophischen Logik“: Vernunft ist nicht ein obskures, esoterisches Vermögen, das uns in ein von allem Menschlichen verlassenes fernes Gedankenreich führt: Es ist die Art und Weise, wie Menschen bewusst oder weniger bewusst in den verschiedensten Bereichen ihres Lebens denken: im Alltag sowohl wie in der Wissenschaft, der Kunst, der Religion und im praktischen Leben. Wenn wir die Logik dieses Denkens erforschen wollen, müssen wir darum von dem Ort ausgehen, an dem wir sind, und an dem alles, was es für uns gibt, gegenwärtig werden muss. Hier, in dieser Welt, muss sich bewähren, was als wahr gelten soll. Die rationalen Mittel des Verstandes, mit deren Hilfe wir die Dinge in der Welt erkennen, sind die einzigen, die wir haben, um den Raum der Vernunft zu erschließen. Philosophierend können wir darum nur eines tun: uns mit Hilfe des von den Philosophen im Lauf der Zeit bereit gestellten „Handwerkszeugs des Philosophierens“ bewusst machen, was wir tun, wenn wir denken, und – im Gespräch miteinander – kritisch prüfen, welches die möglichen Kategorien, Formen und Methoden vernünftigen Denkens sind und wo deren Grenzen liegen. Und immer wieder werden diese Schwindel erregenden Grenzen sichtbar: Jeder Versuch, über den methodisch gesicherten Boden der Wissenschaft hinaus das Umgreifende zu denken, endet in Widersprüchen und Tautologien – und ist letztlich zum Scheitern verurteilt

 

Jaspers’ Erhellung des Raums der Vernunft

 

Das Scheitern zeigt sich auch in den Resultaten transzendierenden Denkens. Was wir suchen, ist das eine, das umgreifende Sein. Statt des Einen aber haben wir immer nur – das Viele. Das eine Umgreifende, „in dem wir uns finden“, ist zerspalten in eine Vielzahl von Weisen des Umgreifenden. Nicht nur Welt und Transzendenz sind solche Weisen des Umgreifenden, auch jeder einzelne Mensch ist selber schon ein Umgreifendes und findet sich wiederum vor in unterschiedlichen, sich wechselseitig umgreifenden Ganzheiten, die ihren je eigenen Wahrheitssinn haben: Wir sind biologische Wesen, für die nur wahr ist, was der Selbsterhaltung dient; wir sind mit Hilfe des Verstandes erkennende Subjekte, die sich als identische wiederfinden in einem allen gemeinsamen Bewusstsein überhaupt; wir sind an gesellschaftlicher Praxis teilnehmende, mit Phantasie begabte, von Ideen geleitete Individuen; und über all dies hinaus mögliche Existenz, auf der Suche nach dem unbedingt Wahren. Den Menschen als Menschen gibt es ohnehin nicht, es gibt ihn nur in der Pluralität von Formen des Erlebens, Fühlens und Denkens und letztlich nur als unendliche Vielzahl von Individuen in ihrer einmaligen Geschichtlichkeit.

Pluralität anerkennen, an Unterscheidungen festhalten, Differenzen aushalten: dies ist die entscheidende kritische Funktion der Vernunft. Darum kämpft sie auch gegen jedes Denken, das Unterschiede verwischt, Werte für Wissenschaft verkauft, den Anspruch auf ein Totalwissen oder eine Letztbegründung erhebt, kurz – gegen alles Absolutistische, Totalitäre und Totalisierende. Konsens mag es in der wissenschaftlichen Erkenntnis geben, aber wo es um Vernunftglauben geht, da findet der Kampf kein Ende. Was aus uns wird, muss immer wieder neu entschieden, was für uns gelten soll, immer wieder neu geprüft werden. Philosophie ist darum nie am Ende, nie bei einem letzten Wort, und weil es kein letztes Wort gibt, können wir nicht Philosophie als Lehrbestand, sondern nur philosophieren lernen.

Vernunft sei für uns als geistige Wesen ebenso notwendig wie die Luft zum Atmen, sagt Jaspers. Diese Metapher erhellt – in einem einzigen Bild – die Wirkungsweise der Vernunft. Sie ist nicht nur selber wie Luft, sie verschafft uns auch Luft. Und sie tut dies sowohl negativ wie positiv. Negativ, indem sie jede Position wieder sprengt, in der wir uns einnisten wollen und uns so von Unwahrheit, Schein und Täuschung befreit, kurz, von allem, was uns geistig zu ersticken droht. Positiv aber wirkt sie, indem sie die Fenster aufstößt, alle Möglichkeiten zeigt, den weitesten Horizont des Denkens öffnet.

 

Vernunft und Führung des Lebens

 

Luft allein jedoch nährt nicht, und was uns geistig nährt, uns Sinn und Halt gibt, kommt nicht aus der Vernunft. Es kommt aus dem geistigen Boden, auf dem wir stehen und in dem wir unsere Wurzeln haben. Für uns Abendländer ist dieser Boden nach Jaspers die Bibel und sind es die Schriften der alten Griechen. Nicht alles Überlieferte aber können wir für uns bejahen und uns zu eigen machen, und schon gar nicht in der ursprünglichen Form. Die reinigende Kraft der Vernunft zeigt mögliche letzte Positionen, die uns vor ein Entweder-Oder stellen und an Hand derer uns vor allem eines klar werden kann: was wir nicht wollen und was wir aus dem Grund unseres Wesens ablehnen: Atheismus oder Gottesglaube? Kommunikation oder Gewalt? Freiheit oder Knechtschaft? Totalitarismus oder Demokratie? Mit jeder abgelehnten Möglichkeit wächst auch die Klarheit darüber, auf welcher Seite wir stehen. Was die letzte und mithin richtige Seite ist, wissen wir aber nie. Was wir auch immer für die letzte Position halten, kann schon darum nicht die letzte sein, weil wir, an unseren geschichtlichen Standort gebunden, nie alle Positionen überblicken können.

Das Verfahren der Vernunft, das Jaspers für den existenziellen Bereich zeichnet, ist dasselbe, das ihm auch zur Erhellung der Transzendenz dient. Es ist der alte Weg der „via negativa“: Weil wir nie sagen können, was Gott ist, können wir ihm nur näher kommen, wenn wir all die Bilder, Vorstellungen und Begriffe wieder negieren, die wir uns von ihm gemacht haben. Und je mehr wir uns von diesen Gottes-Bildern befreien, desto freier wiederum werden wir selbst. Denn dies bewahrt uns davor, uns einem Gott zu verschreiben, der, zum einzig wahren erklärt, doch nur eine von Menschen ausgedachte Götzengestalt ist.

Warum aber sollen wir uns mit den überlieferten Gottesbildern überhaupt beschäftigen, wenn doch keines genügt? Die Antwort gibt Jaspers’ Chiffernlehre in Verbindung mit dem Grundgedanken seiner „Philosophischen Logik“. Als endliche, an unseren Ort, unsere Sinne und unseren Verstand gebundene Wesen haben wir auch im Erdenken dessen, was jenseits aller Erkenntnis liegt, keine anderen Mittel als jene, die uns zur Erkenntnis unserer Welt zur Verfügung stehen: Vorstellungen zu bilden und mit Begriffen nach den Regeln der Logik zu operieren. Entscheidend aber ist, mit welchem Bewusstsein wir die Grenze zur Transzendenz hin überschreiten: Ob wir es tun im sokratischen Wissen, dass alle diese Mittel unzulänglich sind und wir doch immer nur sagen, was wir im Grunde nicht sagen können, oder ob wir glauben, das von uns Gedachte sei auch schon Wirklichkeit.

Dieses sokratische Bewusstsein verändert alles. Unsere Bilder, Vorstellungen und Begriffe nehmen wir nun als das, was sie sind: als Spiel unserer Phantasie, mit dem wir zu erhaschen versuchen, was wir nie erhaschen werden. Und doch kann uns dabei etwas Seltsames widerfahren: Einzelne Figuren in diesem Spiel können uns auf unerwartete Weise ansprechen, sie geben uns etwas zu bedeuten, ohne dass wir wissen, was sie bedeuten. Sie werden so zu Chiffern. Wie Wegweiser ohne Inschrift geben sie uns eine Richtung vor, der wir nicht anders als folgen können, ohne zu wissen, wohin sie führt. So kann die biblische Geschichte von Moses und der ihm auf dem Sinai geoffenbarten Gesetzestafel zur Chiffer werden für den Ernst des Gewissens im Ringen um die Unbedingtheit meines Wollens – als ginge es nun auch für mich um die Frage nach dem, was Gott mit mir wolle.

Um solche Wegweiser zu finden, kann ich meinen Blick nicht weit genug öffnen für all das, was Menschen von alters her schon Orientierung gewesen ist. Denn nur so kann ich finden, was für mich wahr sein kann. In der Einsamkeit des Für-sich-allein-Denkens gibt es keine Wahrheit, die Wahrheit, so das von Jaspers immer wieder zitierte Nietzsche-Wort, beginnt zu zweien. Wahr ist, was mich – bei allen Differenzen in dem, was wir glauben – mit dem anderen verbindet. Und das allein Verbindende ist die Vernunft, der Wille im andern und der Wille in mir, zu verstehen und verstanden zu werden. Mit diesem Programm allein schon ist Jaspers weit über seine philosophischen Zeitgenossen hinaus. Doch es blieb nicht beim Programm.

 

Jaspers’ Bemühen um grenzenlose Kommunikation, sein Projekt einer künftigen Weltphilosophie und seine Sorge um das Schicksal der Menschheit

 

Grenzenlos kommunizieren, mit den Toten und mit den Lebenden, und doch entschieden man selbst sein – kein Philosoph hat dies so konsequent vorgelebt wie Jaspers. Davon zeugt seine bewundernswerte Leistung in der Aneignung der Geschichte der Philosophie, die sich niedergeschlagen hat in seinem monumentalen Werk Die großen Philosophen und in seinen Monografien zu Nietzsche, Descartes, Schelling, Cusanus, davon zeugt aber auch sein Wille, weit über das Abendland hinaus in das Denken anderer Kulturen einzudringen, der ihn zu der – zur Zeit höchst aktuellen – These von der Achsenzeit geführt hat: jenem zeitgleichen Erwachen philosophischen Denkens in Vorderasien ebenso wie in Indien und China in der Zeit zwischen 800 und 200 v. Chr. Doch selbst dies war ihm nicht genug, er verstand alle diese Arbeiten als Teil bloß des von ihm in aller Stille vorangetriebenen, unvollendet gebliebenen Projekts einer Weltgeschichte der Philosophie als der Grundlage einer künftigen Weltphilosophie.

Weltphilosophie heißt die von Jaspers intendierte künftige Philosophie nicht zuletzt darum, weil es ihm buchstäblich um die Welt, um die Menschheit als ganze und die Existenz jedes Einzelnen geht, als Bürger dieser Welt. So fragt er nach dem Krieg – im gleichnamigen Buch – nach Ursprung und Ziel der Geschichte. Aus seiner Sorge um die doppelte Bedrohung der Menschheit, durch den Totalitarismus auf der einen Seite und ihre Selbstvernichtung durch die Atombombe auf der andern Seite, wird er mit seinem Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen zum Mahner und Warner und zum Vordenker einer neuen Weltfriedensordnung.

Nicht nur auf dem Katheder, sondern auch in der Öffentlichkeit dafür zu sorgen, dass Vernunft in die Welt kommt: dies bestimmt in der Zeit nach dem Krieg den Stil seiner Bücher, kommt zum Ausdruck in seinem Drang zur Einfachheit und Klarheit, seiner auf allgemeine Verständlichkeit dringenden Sprache jenseits von Jargon und billiger Rhetorik. Es treibt ihn dazu an, sich mit seinem Philosophieren über Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen an ein breites Publikum zu wenden. Auch darin wiederum ist er der Sokratiker. Er gehört nicht zu jenen Philosophen, die im Bewusstsein ihrer eigenen Überlegenheit die Menge verachten und sich auf sich selbst und ihre engsten Kreise zurückziehen. Er ist der Philosoph, der auf die Straße geht und sich an alle wendet, im Wissen darum, dass auch er ein Mensch ist wie sie und nicht mehr. Vernunft, dies war seine tragende Überzeugung, kommt nur in die Welt durch Öffentlichkeit, durch Publizität, dadurch, dass Menschen öffentlich miteinander reden.

 

Jaspers als politischer Schriftsteller

 

Jaspers bittere Erfahrungen mit dem Naziregime haben seine Einsicht geschärft, dass es ohne politische Freiheit keine existenzielle Freiheit geben kann. In der Sorge, dass die Deutschen die von den Alliierten geschenkte Chance auf Freiheit erneut wieder verspielen könnten, wird er am Ende seines Lebens zum politischen Schriftsteller, der im Kampf für den Weg der Demokratie und für die von ihm angemahnte moralische Umkehr der Deutschen „Kopf und Kragen“ riskierte. Was ihn – trotz der heftigen Angriffe von links und rechts – weiterhin eingreifen lässt, ist die Grundprämisse seines Philosophierens, dass eine Philosophie sich nur auf eine Weise als wahr erweisen kann: dadurch, dass sie wirksam wird im eigenen Handeln. Und dies hieß für ihn persönlich, dass sie einmündet in die „moderne Tapferkeit“, die im Nichtwissen um das, was die Zukunft bringen wird, hier und jetzt tut, was notwendig und möglich ist – mit der alleinigen Gewissheit, dass Vernunft das Einzige in der Welt ist, worauf wir uns verlassen können.

Die Denkform, die Jaspers in seinen philosophischen Schriften pflegt: die Gedanken so zuspitzen, dass sie zu einer Entscheidung zwingen, schlägt auch in seinen politischen Schriften durch. Er greift bestehende Tendenzen auf, wie sie zum Ausdruck kommen etwa in den Notstandsgesetzen, in der Verjährungsfrage, in der Spiegelaffäre, in der Wahl des ehemaligen Nationalsozialisten Kiesinger zum Bundeskanzler, und er steigert diese Tendenzen idealtypisch zum Bösen hin, das erneut wieder droht. Kassandrisch nennt er dieses Denken. Es ist, wie sein Biograph und Interpret Hans Saner es charakterisiert, ein Denken, das die Unwahrheit riskiert „durch die Zuspitzung eines Gedankens bis in seine Radikalität“ und gerade dadurch der Wahrheit dient, indem es sichtbar macht, „was in der Wirklichkeit selber in undeutlicher Weise liegt“, als Warnung „vor einer möglichen äußersten Gefahr“ und als Mahnung zur „Umkehr“.

Hier, im öffentlichen Wirken und im politisch Werden seiner Philosophie, zeigt sich noch einmal, worin die eigentliche Bedeutung von Jaspers liegt: in seiner Grundhaltung, die nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben prägte und die sich ausdrückt in seinem Willen, aufs Ganze zu gehen und redlich zu sein auch im Kleinsten, keinen Satz stehen zu lassen, zu dem er nicht stehen konnte. Ihm dürfen wir vertrauen – auch dann, wenn wir meinen, seiner Philosophie und seinen politischen Urteilen nicht folgen zu können. Allein dies schon erhebt ihn über seine zeitgenössischen Zunftgenossen – von seinem verlogenen Gegenspieler Heidegger nicht zu reden –, aber auch über die heute hoch gejubelten Welterklärer, die mit selbstgefälliger Rhetorik Feuilletonseiten füllen.

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