Das Erstarken der Rechtspopulisten

As part of the event "Europe after the election", 18.06.2019

I.

 

Ich möchte mich herzlich für die Einladung bedanken. Ich fühle mich geehrt, sowohl aufgrund der Wichtigkeit des Themas, das heute Abend behandelt wird, als auch aufgrund der Relevanz der Institution, der Katholischen Akademie in Bayern, von der die Anfrage kam, in der heutigen Veranstaltung meinen Beitrag zu leisten. Ich möchte insbesondere den Wert der heutigen Veranstaltung hervorheben, die dazu gedacht ist, Situationen zu verstehen und Probleme zu formulieren, deren Lösung dann notwendig ist, um einen Dialog zwischen den unterschiedlichen Ländern der Europäischen Union zu ermöglichen. Das Ziel ist es, Europa eine bessere Zukunft zu geben, auch angesichts der radikalen Herausforderungen, die vor ihm liegen, sowohl auf seinem eigenen Territorium als auch in seinen Beziehungen zu den Großmächten der Welt. Um die gravierenden Probleme, die auf dem gesamten Planeten herrschen, bewältigen zu können, erscheint Einigkeit bei Haltungen und Ansichten erforderlich zu sein.

Es würde keinen Sinn ergeben und wäre sogar gefährlich, wenn sich in den europäischen Ländern im Zeitalter der Globalisierung mit all ihren Folgen wieder nationalistische Tendenzen durchsetzen würden. Die europäische Geschichte ist von sich immer mehr radikalisierenden Veränderungen und Beschleunigungsprozessen geprägt und es scheint notwendig zu sein, sich dieser Situation jetzt zu stellen. Die vor kurzem abgehaltene Europawahl hat in vielen Ländern die Stärke der europäischen Kräfte gezeigt, aber in einigen Ländern auch den Erfolg der nationalistischen Parteien hervorgebracht.

Der Erfolg der proeuropäischen Kräfte  bei den Europawahlen 2019muss als Verpflichtung verstanden werden, die beste europäische Tradition fortzusetzen, aber gleichzeitig muss eine Alarmglocke klingeln, die in vielen Ländern der Union zu hören sein muss – eine Alarmglocke, die vor der Gefahr warnt, sich von einem Europa zu verabschieden, das als entfernt wahrgenommen wird, weil es sich zu sehr wirtschaftlichen Prämissen widmet. Europa erscheint bürokratisch und nicht politisch, politisch im höchsten Sinne des Wortes: ein Europa der Seele und ein Europa der Kultur.

Besonders aufschlussreich sind die Überlegungen des Präsidenten der Italienischen Republik, Sergio Mattarella, der immer wieder die Aufmerksamkeit der Bürger und Politiker auf die Notwendigkeit lenkt, die Rolle Europas zu stärken. In einer Rede, die 2016 Alcide De Gasperi, einem der Gründerväter der europäischen Gemeinschaft, gewidmet war, sagte er: „Ohne ein gemeinsames Gedächtnis der Geschichte des modernen Europas, eines außergewöhnlichen Kontinents für Innovationen aller Art, aber auch im Griff starker Spannungen, wird es nicht möglich sein, den politischen Wert einer Union zu erfassen, die weit über kleine und besondere Gegebenheiten hinausgeht. Die humanistische Prägung Europas ist nicht nur ästhetisch und literarisch, sondern auch gesellschaftlich: Das moderne Europa hat im Kern eine aktive Vorstellung vom Guten und vom wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und belohnt die Vereinbarung zwischen der Konkretheit der Bedürfnisse und der Anerkennung immer neuer Rechte. Europa kann ohne seine echten Ambitionen nicht existieren. Es sind nicht die Banken oder Handelsgeschäfte, die die europäische Union geschaffen haben, sondern weitsichtige Männer und Parlamente: Es sind nicht die Finanzkrisen, die sie zerstören werden, sondern nur unsere Kurzsichtigkeit und unsere Unfähigkeit, das Gemeinwohl anzuerkennen. […] Dies ist die Aufgabe der Politiker für die Zukunft: eine Aufgabe der Weitsicht, nicht der Nachhut, nicht der ängstlichen Suche nach unerwarteten Herausforderungen. Es handelt sich um eine Aufgabe der Intelligenz und nicht der Oberflächlichkeit.“

Aus dieser grundlegenden Verständnisperspektive analysiere ich heute die italienische politische Situation und ihre Beziehung zu Europa.

 

II.

 

Um die politischen Ereignisse des heutigen Italiens und seine komplizierten Beziehungen zu Europa zu verstehen, ist es sicherlich sinnvoll, einige Merkmale seiner Geschichte vom Zusammenbruch des Faschismus über das Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute in groben Zügen zu rekonstruieren.

Die aktuellen politischen Ereignisse in Italien können nicht verstanden werden, wenn die sehr lange Erfolgsgeschichte sowie dann die Auflösung der Christdemokratischen Partei (Democrazia Cristiana) – und auf eine andere Weise die der Kommunistischen Partei – nicht berücksichtigt werden. Die konsolidierte Tendenz der italienischen Wähler, einen gemäßigten Bezugspunkt zu haben, den man akzeptieren oder ablehnen kann, hat sich mit Höhen und Tiefen, von der ersten Durchsetzung der Christdemokraten in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum heutigen Tag, fortgesetzt. Es ist eine Tendenz, die sich von der Ersten bis zur Zweiten Republik erstreckt und in der von den Politikwissenschaftlern heute als „Dritte Republik“ bezeichneten Situation endete. Es ist schwer zu sagen, ob die gemäßigte Wählerschaft in Italien noch in der Mehrheit ist oder nicht. Sicherlich ist es aber immer entscheidend, die Gewinner und Verlierer der verschiedenen Wahlwettbewerbe zu bestimmen.

Nach der Auflösung der Christdemokraten (DC) fand ein großer Teil ihrer Wähler Zuflucht bei einer sehr berühmten Persönlichkeit: Silvio Berlusconi. Aufgrund verschiedener Ereignisse, die für die internationale Glaubwürdigkeit des Landes eher als negativ zu bewerten sind, wurde Berlusconi zum Zufluchtsort jener, die eine Linke fürchteten, die damals als radikal galt. Berlusconi wurde gleichzeitig durch die Aufteilung der Macht zum „Schalldämpfer“ der autoritären Nostalgie und der ersten Ambitionen der Partei „Lega Nord“, die damals in der Person von Umberto Bossi ihren Hauptvertreter fand.

In diesen Jahren gelang es der Mitte-Links-Partei erst dann an die Regierung zu kommen, als sie einen Kandidaten für das Amt des Premierministers fand, der mit Berlusconi um einen Teil der gemäßigten Wählerschaft konkurrieren konnte. Dieser Kandidat war zweimal Romano Prodi, dessen Regierung von den eigenen ihn eigentlich stützenden Parteien zu Fall gebracht wurde: Denn im politischen Mitte-Links-Spektrum gelten traditionell Gründe für die Einheit weniger als die bestehenden Spannungen zwischen den einzelnen Parteien.

Als Berlusconis Abstieg begann, erschienen die Populisten der Fünf-Sterne-Bewegung, angeführt von einem Komiker, Beppe Grillo, der ursprünglich von umweltpolitischen Kämpfen in Verbindung mit anti-politischen Ressentiments geprägt war. Schon damals herrschte die Angst vor einem antisystemischen „Boom“. Aber in dieser politischen Phase ging der Stern, der später in Ungnade fiel, Matteo Renzi, der Vertreter der Demokratischen Partei (PD), auf. Renzi beruhigte viele Wähler, die die Forderungen einer radikalen linken Partei fürchteten. Und er gewann durch seine Politik einen Teil der gemäßigten Wähler für sein Mitte-Links-Bündnis zurück. All dies verlangsamte den Aufstieg der Populisten und auch den von Matteo Salvini selbst, dem neuen Chef einer zur damaligen Zeit von Skandalen durchgeschüttelten Lega Nord.

In den Jahren 2018 und 2019 ging Italien zum ersten Mal ohne eine klare Präferenz für eine gemäßigte und proeuropäisch orientierte Regierung zur Abstimmung. Millionen Stimmen  von Bürgern, die politisch heimatlos geworden waren, fielen zuerst an die Fünf-Sterne-Bewegung und dann, bei der Europawahl im Frühjahr 2019, an die Lega Nord, die ursprünglich eine regionale Partei war und mittlerweile paradoxerweise eine italienweit akzeptierte Partei geworden ist.

Im Jahr 2018 wurde in Italien eine Regierung gebildet, die aus einer Koalition zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung (der zahlenmäßig stärkeren Partei) und der Lega Nord besteht. Eine derartige Koalition war ein Novum in Italien. Scheinbar unvereinbare Kräfte haben die traditionellen Rechts-Links-Differenzen überwunden und sich zu einer Regierung zusammengeschlossen, in der die beiden politischen Formationen, indem sie auch die Schwächen der anderen Parteien ausnutzen, gleichzeitig die Rolle der Regierungsmehrheit und der Opposition spielen. Sie sind zusammen an der Regierung, aber sehr oft mit gegenseitiger Opposition beschäftigt, auf der Suche nach dem Feind, gegen den man zu kämpfen hat: sicherlich die früheren Regierungen und sicherlich auch das Europa der starken Mächte.

Von Anfang an wurde klar, dass sich die Lega immer mehr etablierte und die Fünf-Sterne-Bewegung in die Defensive geriet. Die Lega zog auch viele gemäßigte Wähler an, die Angst vor der Immigration und den Gefahren einer vermeintlichen Islamisierung der Gesellschaft hatten, oder die sich weniger oder zumindest effizientere Bürokratie wünschten und die Autonomie zum Wohle der reicheren Regionen des Landes stärken wollten. Es fehlte auch nicht an einem Missbrauch der Religion zu Identitätszwecken.

Die Europawahl hat die internen Machtverhältnisse in der Regierungsmehrheit gewendet. Die Lega verdoppelt ihren Stimmenanteil im Vergleich zur Italien-Wahl 2018 auf 34%, die Fünf-Sterne-Bewegung halbierte sich auf 17%. Die Demokratische Partei (PD) beginnt, sich zu erholen und steigt auf mehr als 22% – eine Tatsache, die noch zu besprechen sein wird. Forza Italia fällt unter 9% und verliert ihre Rolle als moderater Vertreter der Mitte-Rechts Position. Die rechtsradikalen Fratelli d’Italia verdoppeln ihren Stimmenanteil und erreichen 6%: sie streben eine Allianz mit der Lega an, in der Hoffnung auf eine Krise in der Regierung, die schließlich eine Neuwahl ermöglichen würde. Was links orientierte Parteien angeht, haben diese, abgesehen von der Demokratischen Partei (PD), die Schwelle von 4% nicht erreichen können, da sie getrennt angetreten sind und keine gemeinsamen Listen gebildet hatten.

Einige Probleme sind offensichtlich. Die politische Struktur Italiens scheint sich immer schneller zu entwickeln und es ist nicht einfach, die Ergebnisse seiner Entwicklung einzuschätzen und vorherzusagen. Es kann ein Prozess der Personalisierung der Politik festgestellt werden, in dessen Mittelpunkt ausschließlich die politischen Führungspersönlichkeiten stehen – einst Berlusconi, dann Renzi, Di Maio und nun Salvini – und die Parteien gehen immer mehr das Risiko ein – bis auf wenige Ausnahmen –, Persönlichkeitsparteien zu werden.

Daraus ergibt sich außerdem eine Frage, über die wir nachdenken sollen: Wie wird die politische Situation von den Medien vermittelt? Es geht nicht nur um Medien wie Fernsehen oder Rundfunk, sondern auch um soziale Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram, die eine immer größere Rolle bei der Verbreitung von Nachrichten spielen.

Das Problem des Verhältnisses zwischen der Wahrheit der Information, der Ausübung der Demokratie, der Bildung eines demokratischen Konsenses und der tatsächlichen Meinungsfreiheit der Bürger wird immer relevanter. Europa ist, wie alles andere auch, in die verzerrten Kommunikationsmechanismen geraten, die im wesentlichen Opfer der von der europäischen Ebene neu aufgeworfenen internen Probleme sind. Zumindest in Italien ist dies sicherlich der Fall.

 

III.

 

In diesem allgemeinen Zusammenhang muss sicherlich eine Vertiefung der Analyse der italienischen Situation in Bezug auf das bestehende Verhältnis zwischen der Ausübung der Stimmabgabe und der Religionszugehörigkeit durchgeführt werden. Diese Verbindung war in Italien schon immer sehr stark, man denke nur an die Christliche Demokratie (DC), die mit Gewissheit in besonderer Weise davon profitieren konnte.

Giorgio Campanini erklärte in einem Artikel in „Avvenire“, der italienischen katholischen Zeitung: „Nach dem Ende der Christdemokraten, mit der fortschreitenden Zerschlagung deren politischen und moralischen Erbes und angesichts des Mangelns an politischen Parteien, die sich ausdrücklich und erklärt auf die Soziallehre der Kirche und im Allgemeinen auf die Werte des Evangeliums beziehen, ist diese Verbindung fast vollständig zerbrochen, und die Wahlentscheidung der Katholiken, selbst derjenigen, die praktizieren, basiert nicht mehr auf den Werten, sondern richtet sich vollständig nach ihren Interessen. Dieses ist ein Phänomen, das die gesamte Wählerschaft betrifft, das aber bei den engagiertesten Bürgerinnen und Bürgern besonders deutlich zu erkennen ist. Es geht um eine an sich legitime Entscheidung:; Es scheint verständlich, dass den einzelnen Bürgern ihre eigenen, die realen oder die vermuteten, Interessen am Herzen liegen. Aber das kann einige Probleme aufwerfen: Ist es legitim, dass einzelne Gläubige tatsächlich für eine politische Kraft stimmen, die ihre Interessen schützt, unabhängig von der Wichtigkeit einiger Grundwerte?“

Die grundlegende Frage, die Campanini stellt, kann mit neuen Fragen weiterentwickelt werden. Welche Bedeutung hat heute das Gemeinwohl, ausgehend von der Soziallehre der Kirche? Wie sehr kann die christliche Gemeinschaft heute in der Lage sein, unsere Aufmerksamkeit auf Werte – sowohl auf die Werte des persönlichen Lebens als auch auf die des sozialen Lebens – lenken, angefangen bei einer erneuerten Erziehung zu sozialem Handeln und zum lebendigen Sinn von Staatsbürgerschaft und Partizipation?

Es handelt sich um ein großes offenes Problem, das nicht nur die Zukunft der Kirche, sondern auch die unseres Landes beeinflussen wird, weil der Katholizismus eng mit Italien verbunden ist und weil er nach wie vor sehr tiefe Wurzeln im Land hat.

Die italienische Debatte lenkt nicht immer ihre Aufmerksamkeit auf dieses wichtige Thema. Dieses wurde in den letzten Jahren Jahr und besonders im Wahlkampf für die Europawahl sehr oft durch eine verzerrte Verwendung religiöser Symbole von Politikern – insbesondere von den Vertretern der Lega – missbraucht.

Die bekannte Theologin Rosanna Virgili schrieb: „Wenn man einen Politiker sieht, der ein Kreuz in die Hand nimmt, erinnert man sich an entfernte und neuere Seiten ähnlicher Missbräuche, die weder der Zivilgesellschaft noch dem religiösen Glauben etwas Gutes gebracht haben.“ Anschließend fährt sie fort: „Wir waren überzeugt, dass eine Kirche, die sich zum Evangelium bekehren wollte, hoffte, es nie wieder zu sehen. Einem Bürger zuzuhören, der sagt, er sei christlich, Vorsitzender einer politischen Partei, der den Rosenkranz zeigt und die Muttergottes anspricht, mit der Aussage, dass er bei den nächsten Wahlen durch sie den Sieg  erringen wird, wirft viele Fragen auf.“

Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die den ausschließlich instrumentalisierten Charakter der Verwendung christlicher Symbole zu Wahlkampfzwecken klar benannt haben. Auf der anderen Seite gibt es aber diejenigen, die die Verwendung dieser Symbole zu diesem Zweck ausdrücklich begrüßt haben. In diesem zweiten Fall wird die christliche Religion als Teil einer Identitätsideologie angesehen, die ihren Höhepunkt und ihre Synthese im Motto „Die Italiener zuerst!“ hat, einem Schlüsselbegriff der politischen Propaganda der Lega.

 

IV.

 

Hier stellt sich also eine weitere entscheidende Frage, die sich aus den vorangegangenen Überlegungen ableitet und sich auf die Rolle der katholischen Religion bezieht. Es geht um die folgenden, äußerst relevanten Fragen: Welche sind die Elemente, die sich im Leben eines Landes und einer nationalen Gemeinschaft effektiv vereinen lassen? Was bedeutet es heute, Bürgerin oder Bürger zu sein? Ist es immer noch sinnvoll, über das Gemeinwohl nachzudenken und zu sprechen? Worauf basiert das „Wir“ der Italiener, das „Wir“, das von Remo Bodei, einem wichtigen zeitgenössischen Philosophen, schon vor zwanzig Jahren als „geteiltes Wir“ definiert wurde?

In welchem Sinne können wir heute, zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Bodeis Werk, von einem noch mehr zerrissenen „Wir“ sprechen? Dies ist das große Thema, dem wir alle, egal ob Christen oder nicht, Aufmerksamkeit schenken müssen.

Wie findet man ein gemeinsames „Wir“? Wie kann man in die Ursachen bekämpfen, die Konflikte und Verletzungen hervorrufen? Bei den Europawahlen kam es in Italien auch zur Entstehung von Ängsten und Ressentiments, die durch eine von Hass und Ablehnung geprägten Kommunikation noch mehr gewachsen sind.

Angst führt zu Isolation. Diejenigen, die sich zu Hause einschließen, werden zunehmend isoliert. Sie werden zu Geiseln von Klischees, die aus dem „Hämmern“ des Fernsehens bei bestimmten immer wiederkehrenden Themen und der übermäßigen Präsenz politischer Führungspersonen auf allen Ebenen der Medien entstehen. Oft wird man zur Geisel von Nachrichten, die über das Internet verbreitet und nicht immer ausreichend überprüft werden und deswegen der Wahrheit – vorsichtig formuliert – nicht vollständig entsprechen. Es wird immer schwieriger, eine eigene kritische Meinung zur Realität zu bilden. Die Angst der Menschen zu fördern bedeutet, neue Formen des Massenphänomens zu fördern.

Angst führt dazu, dass man Vertrauen verliert, und ohne Vertrauen gibt es keine Zukunft. Angst überschneidet sich oft mit Formen von Ressentiments, die wiederum Gewalt verursachen können. Angst verursacht sicherlich ein verzerrtes Verhältnis zur Vergangenheit, zu der es schwierig wird, eine Verbindung aufzubauen – eine Tatsache, die die Unfähigkeit, in die Zukunft sehen zu können, mit sich bringen wird. Angst, Ressentiments und mangelndes Vertrauen haben in Italien, und nicht nur in Italien, bei der Europawahl und darüber hinaus leider eine große Rolle gespielt.

Dies ist als Hinweis auf einen Mangel an Weitsicht zu verstehen. Es ist die mangelnde Fähigkeit gemeint, Europa nicht nur aus der Sicht der nationalen Interessen zu interpretieren und zu verstehen, dass die reine Verteidigung der nationalen Sichtweise ohne die umfassendere Perspektive, die Europa bieten kann, dazu bestimmt ist, reine Demagogie zu sein. Dies zeigt sich beispielsweise an einem wichtigen Thema, das bei den Überlegungen über die Rolle Europas überraschenderweise überhaupt nicht berücksichtigt wurde: die Frage des Friedens. In den letzten siebzig Jahren ist es Europa gelungen, den Frieden auf seinem Territorium zu gewährleisten, und es hat oft, wenn auch in widersprüchlichen Haltungen, zur Sicherung des Friedens in vielen anderen Teilen der Welt beigetragen. Nur wenige jenseits der Grenzen der Europäischen Union war der Krieg weiterhin bittere Realität. Wir können an die Konflikte denken, die bis vor wenigen Jahren die Länder des ehemaligen Jugoslawiens geprägt haben, und heute an den Krieg in der Ukraine. Diese sind keine entfernten Orte. Die Frage des Friedens bezieht sich nicht nur auf die militärische Verteidigung der Grenzen, sondern auf eine Politik, die in der Lage sein muss, einen vorausschauenden Blick zu werfen. Die erste Aufgabe der Politik ist nämlich gerade die Suche nach Frieden, seiner Stärkung, seiner Entwicklung, seiner Sicherung: Diese ist eine Aufgabe, die nur scheinbar offensichtlich ist.

Das Problem, das völlig klar ist, besteht darin, dass in Italien und in anderen Teilen Europas gerade die Politik in der Krise steckt. Die Krise der Politik geht Hand in Hand mit der Krise der Kultur und ganz allgemein mit der Krise der Gesellschaft. Hier kommen wir zu einem wirklich entscheidenden Punkt. Dies ist eine Frage, die über die Wahlergebnisse hinausgeht, die in den letzten Jahren sowieso extreme Schwankungen gezeigt haben. Es wird immer deutlicher, dass wir mit langfristigen Veränderungsprozessen zu tun haben. Die Krise der Politik, der Kultur und der Gesellschaft impliziert das geteilte „Wir“, von dem die Rede war. Es bedeutet, dass die Faktoren, die das Leben eines Landes zusammenhalten, nicht in der Lage sind, effektiv und signifikant zu wirken und als extrinsische Elemente empfunden werden, also bloß eine Fassade bilden. Wie kann ein Volk durch die Angst vor dem Einwanderer oder durch den Kampf gegen die Brüsseler Bürokraten zusammengehalten werden?

Jede Krise kann entweder nur eine negative und absolut problematische Tatsache sein, oder sie kann zu einer Chance für Veränderungen, für die positive Transformation der Gesellschaft werden, vorausgesetzt natürlich, wir sind uns des Umfangs der Probleme bewusst. Heute muss die Politik in den einzelnen Ländern und in der gesamten Union wieder an Dynamik, Kreativität und Perspektive gewinnen. Sie muss in der Lage sein, die realen Probleme der Menschen – wie Wohnsituation, Arbeitslosigkeit, Unterstützung von Familien und die der schwächsten Bevölkerungsgruppen – anzugehen. All dies hängt mit der Notwendigkeit einer echten Entwicklung zusammen und geht über illusorische Versprechen und Slogans hinaus.

Papst Franziskus sagte, im Anschluss an seine Vorgänger Papst Benedikt XVI. und Johannes Paul II., in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament im November 2014 in Straßburg: „Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte; das Europa, das mutig seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben. Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und ein Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens ist. Das Europa, das den Himmel betrachtet und Ideale verfolgt; das Europa, das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!” Das sind keine leeren rhetorischen Worte.

Das Problem besteht darin, dass ohne mehr Politik, eine Politik, die Gesellschaft und Kultur wachsen lässt, es keine wirksame Antwort auf die Probleme der Menschen und keine echte Zukunft für Europa geben kann. Bei dieser Gelegenheit betonte Papst Franziskus außerdem mit Nachdruck: „Das Motto der Europäischen Union ist Einheit in der Verschiedenheit, doch Einheit bedeutet nicht politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gedankliche Uniformität. In Wirklichkeit lebt jede authentische Einheit vom Reichtum der Verschiedenheiten, die sie bilden: wie eine Familie, die umso einiger ist, je mehr jedes ihrer Mitglieder ohne Furcht bis zum Grund es selbst sein kann. In diesem Sinn meine ich, dass Europa eine Familie von Völkern ist, welche die Institutionen der Union als nah empfinden können, falls diese es verstehen, das ersehnte Ideal der Einheit weise mit der je verschiedenen Eigenart eines jeden zu verbinden, indem sie die einzelnen Traditionen zur Geltung bringen, sich der Geschichte und der Wurzeln dieses Kontinents bewusst werden und sich von vielen Manipulationen und Ängsten befreien. Den Menschen ins Zentrum zu setzen bedeutet vor allem zuzulassen, dass er frei sein eigenes Gesicht und seine eigene Kreativität ausdrückt, sowohl auf der Ebene des Einzelnen als auch auf der des Volkes. Andererseits bilden die Eigenarten eines jeden in dem Maß, wie sie in den Dienst aller gestellt werden, einen echten Reichtum. Man muss sich immer an die besondere Struktur der Europäischen Union erinnern, die auf den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität gründet, so dass die gegenseitige Hilfe vorherrscht und man, beseelt von gegenseitigem Vertrauen, vorangehen kann”.

Die Besonderheit und die Einheit, der Teil und das Ganze, die Person und die Gemeinschaft, sind einige der zusammenhängenden Begriffe, die die fruchtbare Spur für einen Weg der Wiederaufnahme des europäischen Traums bilden können, der anscheinend aufgegeben worden ist. Die Unzufriedenheit und die Schwierigkeiten, die die Europawahl in Italien wie in anderen Ländern der Union zum Ausdruck gebracht hat, müssen angemessen berücksichtigt werden. Aber der beste Weg, die Probleme anzugehen, besteht darin, die Fähigkeit wiederherzustellen, zusammenzuhalten, die Fähigkeit, die aufgeklärten Visionen der europäischen Einheit neu zu entwerfen und in vielerlei Hinsicht zu konkretisieren. Die Besonderheit, die die Gründe für die Einheit berücksichtigen kann, der Teil, der nicht gegen das Ganze ist, die Person, die sich nicht gegen die Gemeinschaft stellt, sind die Grundzüge (wie sie es in den besten Zeiten der Vergangenheit waren) für die Bildung der Zukunft, aber auch die Themen, die die politischen und sozialen Ereignisse der letzten Jahre und die problematische Situation des heutigen Italiens charakterisieren.

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